Urteil des VG Köln vom 27.02.2002
VG Köln: arzneimittel, allgemeinverfügung, form, lebensmittel, produkt, eugh, erzeugnis, verbraucher, ernährung, verkehrsauffassung
Verwaltungsgericht Köln, 9 K 7932/97
Datum:
27.02.2002
Gericht:
Verwaltungsgericht Köln
Spruchkörper:
9. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
9 K 7932/97
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin
kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor
Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
T a t b e s t a n d:
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Die Klägerin beabsichtigt, das von der Firma J. , O. , in den Niederlanden hergestellte
Produkt "P. " nach Deutschland einzu- führen und hier in den Verkehr zu bringen. Sie
beantragte am 14.11.1995 die Ertei- lung einer Allgemeinverfügung nach § 47 a des
Lebensmittel- und Bedarfsgegen- ständegesetzes (LMBG). Das Erzeugnis wird in Form
von Gelatine-Kapseln angebo- ten. Auf der Umverpackung wird der Verzehr von täglich
bis zu vier Kapseln empfoh- len. Während des Gerichtsverfahrens nahm die Klägerin die
Verzehrsempfehlung auf eine Kapsel täglich zurück. Eine Kapsel enthält insbesondere
50 mg P. -Bioflavonol- Extrakt (Oligomere Procyanidine). Das Bundesinstitut für
gesundheitlichen Verbrau- cherschutz und Veterinärmedizin (BgVV) nahm mit
Schreiben vom 18.11.1996 dahin Stellung: Die im Produkt enthaltenen Bioflavonoide
dienten in isolierter Form nicht überwiegend zum Zwecke der Ernährung oder zum
Genuss. Sie seien nicht als es- sentielle Nährstoffe, sondern als pharmakologisch
wirksame Stoffe zu betrachten. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse reichten derzeit
nicht aus, um von einer ge- sundheitlichen Unbedenklichkeit der äußerst heterogenen
Substanzklasse ausgehen zu können, so dass zwingende Gründe des
Gesundheitsschutzes gegen die Ertei- lung einer Allgemeinverfügung sprächen. Das
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) führte mit Schreiben vom
31.01.1997 aus, dass die in dem Präparat enthaltenen Flavonoide in vielfältiger Form in
Arzneimitteln z. B. als Kapil- lartherapeutika verwendet würden, was insbesondere für
Stoffe wie Hesperidin und Rutin gelte; im übrigen weise die Produktbeschreibung auf
die arzneiliche Verwen- dung zur Durchblutungsförderung hin. Das Bundesministerium
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für Gesundheit lehnte daraufhin mit Bescheid vom 06.08.1997 unter Verweis auf diese
Stellungnahmen die Erteilung einer Allgemeinverfügung ab.
Mit der am 02.09.1997 erhobenen Klage bringt die Klägerin insbesondere vor: "P. ", das
in Holland ohne jede Zulassung verkehrsfähig sei, enthalte Bioflavonoi- de, die nach
dem Ernährungsbericht 1996 als sekundäre Pflanzenstoffe Lebensmittel seien. Die
Originalverpackung solle in Deutschland nicht vertrieben werden. Es sei aber zulässig,
auf antioxidative Wirkungen hinzuweisen. Ein Arzneimittel, das aus
Pinienrinde/Traubenkernextrakt hergestellt sei und 50 mg Pycnogenol enthalte, gebe es
in Deutschland nicht, so dass es eine dahingehende Verkehrsauffassung nicht geben
könne. Zur Herstellung von "P. " würden ausschließlich nur Traubenkerne verwendet.
Eine pharmakologische Wirkung habe das Mittel nicht. Aus diesem Grun- de könnten
auch keine zwingenden Gründe des Gesundheitsschutzes entgegenste- hen.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 06.08.1997 zu ver- pflichten, die
beantragte Allgemeinverfügung für das Produkt "P. " zu erteilen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie führt insbesondere aus: Das in Gelatinekapseln angebotene "P. " sei kein
Lebensmittel, sondern nach der Funktion der Inhaltsstoffe ein Arzneimittel. Diese Ein-
ordnung sei auch mit EG-Recht vereinbar.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und die vorgelegten Verwaltungsvorgänge sowie die sonstigen umfang-
reichen Unterlagen Bezug genommen.
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Entscheidungsgründe:
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Der von der Beklagten nach der mündlichen Verhandlung vom 27.02.2002 in der Zeit
vom 02. bis 04. März 2002 nachgereichte Schriftsatz vom 28.02.2002 bleibt un-
beachtet. Der Beklagten ist kein Schriftsatznachlass gewährt worden, so dass weite- res
Vorbringen nach Schluss der mündlichen Verhandlung nicht mehr zulässig ist. Für eine
Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung sieht die Kammer keinen An- lass.
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Vgl. Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 11. Auflage 1998, § 104 Randnr. 10 f.
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Die Verpflichtungsklage ist zulässig, aber unbegründet.
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Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Allgemeinverfügung nach § 47 a
LMBG für das Produkt "P. "; der Ablehnungsbescheid des Bundesministeriums für
Gesundheit vom 06.08.1997 ist rechtmäßig.
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Rechtsgrundlage für den Anspruch auf Erteilung der begehrten Allgemeinverfügung ist §
47 a Abs. 2 i. V. m. § 47 a Abs. 1 Satz 2 LMBG. Erste Voraussetzung ist, dass das
Produkt, für das die Allgemeinverfügung erteilt werden soll, überhaupt in den
Anwendungsbereich der §§ 47 und 47 a LMBG fällt, d. h. überhaupt ein Erzeugnis im
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Sinne des LMBG ist. Im vorliegenden Fall kommt von den in der Definition des § 35
LMBG genannten Erzeugnissen nur die Zuordnung zum Begriff des Lebensmittels in
Betracht. Um ein Lebensmittel handelt es sich jedoch bei dem Erzeugnis "P. " nicht.
Lebensmittel im Sinne des LMBG sind nach § 1 Abs. 1 LMBG Stoffe, die dazu bestimmt
sind, in unverändertem, zubereitetem oder verarbeitetem Zustand vom Menschen
verzehrt zu werden; ausgenommen sind Stoffe, die überwiegend dazu bestimmt sind, zu
anderen Zwecken als zur Ernährung oder zum Genuss verzehrt zu werden. Letzteres ist
hier der Fall, da "P. " dazu bestimmt ist, überwiegend zu arzneilichen Zwecken verzehrt
zu werden. Die überwiegende Zweckbestimmung ist nach objektiven Maßstäben
festzustellen, wobei maßgeblich die Verkehrsanschauung ist. Die Verkehrsanschauung
wird regelmäßig durch die allgemeine Verwendung seitens der Verbraucher bestimmt,
die wiederum davon abhängt, welche Verwendungsmöglichkeiten der Stoff seiner Art
nach hat. Hierbei kann die Vorstellung der Verbraucher durch die Auffassungen der
pharmazeutischen oder medizinischen Wissenschaft beeinflusst sein, ebenso auch
durch die dem Mittel beigefügten oder in Werbeprospekten enthaltenen
Indikationshinweise und Gebrauchsanweisungen sowie die Aufmachung, in der das
Mittel dem Verbraucher allgemein entgegentritt.
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Vgl. Bundesgerichtshof (BGH), Urteile vom 19. Januar 1995 - I ZR 209/92 -, LRE 31,
193, vom 10. Februar 2000 - I ZR 97/98 -, LRE 38, 157 und Urteil vom 25. April 2001 - 2
StR 374/00 -, NJW 2001, 2812; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-
Westfalen (OVG NRW), Urteil vom 21. Juli 1995 - 13 A 1362/94 -, LRE 32, 308; Zipfel-
Rathke, Lebensmittelrecht, Kommentar, Band 2, C 100 § 1 Rdnr. 34 f.
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Nach diesen Kriterien überwiegt bei "P. " der arzneiliche Zweck, d. h. es stehen andere
als Ernährungs- oder Genusszwecke im Vordergrund.
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Die Zweckbestimmung wird zunächst durch die Inhaltsstoffe geprägt. Wesentlicher, das
Produkt prägender Inhaltsstoff sind die nach Angaben der Klägerin ausschließlich aus
Traubenkernen gewonnenen P. (Oligomere Proanthocyanidine). Sie gehören zu den
Flavonoiden, die als sekundäre Pflanzenstoffe nicht essentielle (lebensnotwendige)
Nährstoffe sind,
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vgl. Zipfel-Rathke, a. a. O., Band 3, C 140 § 1 Randnr. 13 f,
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und vor einiger Zeit noch als antinutritive Stoffe bezeichnet wurden. Sie sind Nährstoffe
lediglich im weiteren Sinne insofern, als sie - ohne dass ihr Fehlen einen spezifischen
Mangel hervorruft - gesundheitsfördernde Wirkungen besitzen (vgl. den von der Klägerin
eingereichten Auszug aus Hahn, Nahrungsergänzungsmittel, S. 5 und die von der
Klägerin vorgelegte gutachtliche Stellungnahme des Sachverständigen S. ). Insofern
sind sie im traditionellen Sinn nicht ernährungstypisch. Ernährungsuntypisch sind sie in
der hier vorliegenden, von den natürlichen Lebensmitteln, in denen sie vorkommen,
isolierten Form. Wie S. a. a. O. im einzelnen ausführt, kommen Flavonoide in nahezu
allen pflanzlichen Lebensmitteln in allerdings sehr unterschiedlichen Mengen vor.
Anthocyanidine werden insbesondere durch rote Früchte wie Weintrauben, Blaubeeren,
Johannisbeeren, Himbeeren, Brombeeren und Holunder, aber auch durch Rotwein
aufgenommen. Werden aus solchen natürlichen Lebensmitteln - wie hier aus den
Kernen roter Trauben - derartige einzelne Inhaltsstoffe extrahiert und konzentriert in
Kapselform angeboten, wird von der Verkehrsauffassung hiermit kein Ernährungszweck
mehr in Verbindung gebracht. Insofern liegt nämlich nicht mehr das
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Ausgangslebensmittel gewissermaßen in pulverisierter Form vor. Vielmehr wird in
einem Extraktionsverfahren lediglich P. herausgelöst, während die den
Lebensmittelcharakter ausmachenden Hauptsubstanzen wegfallen. Dementsprechend
ist der Arbeitskreis lebensmittelchemischer Sachverständiger der Länder und des BgVV
(ALS) in der Sitzung am 14.09.2000 zu der Auffassung gelangt, dass Bioflavonoide in
angereicherter und isolierter Form nicht mehr als Lebensmittelzusätze angesehen
werden können (TOP 2 der 7. Sitzung der erweiterten ALS-UAG "Diätetische
Lebensmittel" in Mainz). Umgekehrt sind Bioflavonoide in vielfältiger Form in
Arzneimitteln enthalten, z. B. als Kapil- lartherapeutika, wie das BfArM in seiner
Stellungnahme ausgeführt hat. Neuere pharmakologische Untersuchungen zeigen
antisekretorische und antiperistaltische, antimikrobielle, entzündungshemmende,
blutdrucksenkende und tumorhemmende Wirkungen (vgl. Scholz, Pflanzliche Gerbstoffe
- Pharmakologie und Toxikologie, Deutsche Apotheker Zeitung 1994, 3167 und Hahn a.
a. O. S. 194 f sowie Ernährungsbericht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V.
(DGE) 1996 S. 220 f. Beispielsweise sind die Flavonoide Hesperidin-Rutin als
sogenannte Stärkungsmittel traditionelle arzneiliche Stoffe. Vgl. Zipfel-Rathke, a. a. O.,
C 100 § 1 Randnr. 49. Extrakte aus Strandkiefernrinde, aus der P. ursprünglich
hergestellt wurde, sind ab einem Gehalt von 50 % Gesamtprocyanidinen neuerdings
sogar verschreibungspflichtig (BGBl. I 2000 S.750). Hinzu kommt im übrigen, dass mit
dem Verzehr von einer Kapsel täglich - entsprechend der im Gerichtsverfahren
geänderten Verzehrsempfehlung - eine Menge von P. zugeführt wird, die über das vom
Durchschnittsverbraucher durchschnittlich Aufgenommene offenbar hinausgeht. In einer
Kapsel des Produkts sind 50 mg P. enthalten, während nach S. (a. a. O. S. 4) etwa in
200 g roten Weintrau- ben 10 mg, in 200 g Apfel 11 mg und in 200 g Apfelsaft 16,6 mg
Proantocyanidin ent- halten sind. Dass mit einem gezielten Verzehr von natürlichen
Lebensmitteln 50 mg ohne weiteres erreicht oder auch überschritten werden können, ist
insoweit unerheb- lich, da es auf kurzfristige Schwankungen der Ernährungsweise und
Kreise, die sich in besonderer Weise ernähren, nicht ankommt.
Den demnach eindeutig für einen arzneilichen Zweck sprechenden Inhaltsstoffen
entspricht im übrigen die in die Gesamtabwägung - wenn auch nicht mit
entscheidendem Gewicht - einfließende Darreichungsform. Vgl. OVG NRW, Beschluss
vom 22.08.2002-13 A 817/01-, LER 41, 316. "P. " wird - wie ein Arzneimittel - als
Packung mit 36 eingeblisterten Kapseln, Bei- packzettel und Verzehrsempfehlung
vertrieben. Dass die Klägerin das Produkt im Antrag auf Erteilung der
Allgemeinverfügung als "Nahrungsergänzungsmittel" gewertet wissen will, ist
demgegenüber unerheblich.
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Die Einordnung als Arzneimittel steht auch im Einklang mit der europarechtlichen
Definition des Arzneimittels in Richtlinie 65/65/EWG i.V.m. Art. 28 (früher 30), 30 (früher
36) EG-Vertrag und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofes (EuGH). Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH lässt sich beim
gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts kaum vermeiden, dass zwischen den
Mitgliedstaaten vorübergehend - zumindest bis zu einer umfassenderen Harmonisierung
der zur Gewährleistung des Gesundheitsschutzes erforderlichen Maßnahmen -
Unterschiede bei der Qualifizierung der Erzeugnisse fortbestehen. Es obliegt den
nationalen Behörden unter gerichtlicher Kontrolle, für jedes Erzeugnis festzustellen, ob
es ein Arzneimittel ist oder nicht, wobei sie alle seine Merkmale, insbesondere seine
Zusammen- setzung, seine pharmakologischen Eigenschaften - so wie sie sich beim
jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellen lassen -, die Modalitäten seiner
Anwendung, den Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern
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und die Ge- fahren, die seine Verwendung mit sich bringen kann, zu berücksichtigen
haben.
Zusammenfassend EuGH, Urteil vom 20. Mai 1992 - Rs C 290/90 - (Augenspüllösung),
LRE 28, 170.
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Nach den vom EuGH genannten Kriterien sind die Voraussetzungen von Art. 1 Nr. 2
Abs. 2 der Richtlinie 65/65/EWG (Arzneimittel nach der Funktion) erfüllt. Nach dieser
Definition sind Arzneimittel alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die dazu
bestimmt sind, im oder am menschlichen oder tierischen Körper zur Erstellung einer
ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der
menschlichen oder tierischen Körperfunktionen angewandt zu werden. Aus dem oben
bereits Dargelegten ergibt sich, dass "P. " insbesondere nach der stofflichen
Zusammensetzung dazu bestimmt ist, im menschlichen Körper zur Beeinflussung der
menschlichen Körperfunktion angewandt zu werden. Soweit Behörden in den Nieder-
landen zu einem anderen Ergebnis kommen, liegt ein Verstoß gegen Art. 28, 30 EG-
Vertrag nicht vor. Eine Bindung an die Qualifizierung als Arznei- oder Lebensmittel in
einem anderen EG-Land besteht nicht. Die bei der Qualifizierung nach der genannten
Rechtsprechung des EuGH bestehenden Ermessensgrenzen sind eingehalten.
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Vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 21. Juli 1995, a. a. O., sowie Beschlüsse vom 02.
Januar 1997 - 13 B 2280/96 - und 22. August 2001 - a. a. O. -.
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Hieran hat auch der Erlass der EG-Verordnung Nr. 178/2002 vom 28. Januar 2002 - ABl.
L 31 - nichts geändert. Zwar enthält Art. 2 der Verordnung eine umfassende Definition
des "Lebensmittels". Nach Ziffer d gehören dazu allerdings nicht Arzneimittel im Sinne
der Richtlinie 65/65/EWG, so dass sich für die Abgrenzungsproblematik nichts geändert
hat.
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Die Kosten des Verfahrens hat gem. § 154 Abs. 1 VwGO die Klägerin zu tragen, weil sie
unterliegt.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, §§ 708
Nr. 11, 711 ZPO.
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