Urteil des VG Köln vom 26.07.2004
VG Köln (antragsteller, örtliche zuständigkeit, medizinische rehabilitation, antrag, anordnung, leben, stellungnahme, vorschrift, verwaltungsgericht, behinderung)
Verwaltungsgericht Köln, 26 L 1953/04
Datum:
26.07.2004
Gericht:
Verwaltungsgericht Köln
Spruchkörper:
26. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
26 L 1953/04
Tenor:
1. Dem Antragsteller wird für das Verfahren erster Instanz
Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und zur Wahrnehmung
seiner Rechte in dieser Instanz Rechtsanwalt Krutzki aus Frankfurt a.
Main beigeordnet und zwar ab dem Zeitpunkt der Antragstellung.
2. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung
verpflichtet, die Kosten der Betreuung des Antragstellers in der
Jugendwohngruppe "Haus C. " des Vereins Jugendberatung und
Jugendhilfe e. V. G. für die Zeit vom 19. Juli 2004 bis zum 18. Januar
2005 vorläufig zu übernehmen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens, für das
Gerichtskosten nicht erhoben werden.
G r ü n d e:
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Die Prozesskostenhilfebewilligung erfolgt nach §166 VwGO in Verbindung mit §§ 114,
119 und 121 Abs. 2 ZPO.
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Der sinngemäße Antrag des Antragstellers,
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den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Kosten
der Nachsorge des Antragstellers in der Jugendwohngruppe "Haus C. " des Vereins
Jugendberatung und Jugendhilfe e. V. G. für die Zeit vom 19. Juli 2004 bis zum 18.
Januar 2005 vorläufig zu übernehmen,
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ist begründet.
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Nach der hier allein in Betracht kommenden Vorschrift des § 123 Abs. 1 Satz 2
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung
eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen
werden, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur
Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Die
einstweilige Anordnung dient damit lediglich der Sicherung von Rechten des
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Antragstellers, nicht aber ihrer Befriedigung. Sie darf grundsätzlich nicht die
Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen. Eine Ausnahme von diesem
Grundsatz wird nur für den Fall anerkannt, dass ein wirksamer Rechtsschutz im
Hauptsacheverfahren nicht zu erreichen ist und dies für den Antragsteller zu
unzumutbaren Folgen führen würde. Die Notwendigkeit der vorläufigen Regelung
(Anordnungsgrund) und der geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) sind
glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).
Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
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Entgegen der Auffassung des Antragsgegners hat der Antragsteller den für den Erlass
einer einstweiligen Anordnung erforderlichen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
Nach den vorliegenden amtsärztlichen Stellungnahmen des Gesundheitsamtes des N. -
U. -Kreises (Frau Dr. med. C1. ) vom 25. Mai 2004 und 16.Juli 2004 sowie der im
gerichtlichen Verfahren eingereichten Stellungnahme der Therapeutischen Einrichtung
F. (Frau Dr. X. ) ist unstrittig davon auszugehen, dass der Antragsteller aufgrund seiner
Cannabisabhängigkeit zu den jungen Volljährigen im Sinne des § 35 a Abs. 1 i.V.m. §
41 Abs. 2 SGB VIII gehört, deren seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit
länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und
deren Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft daher beeinträchtigt ist oder bei denen
eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist bzw. er seelisch wesentlich behindert im
Sinne des § 39 Abs. 1 Satz 1 BSHG in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX und mit
§ 3 der Eingliederungshilfe-Verordnung ist bzw. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von
einer solchen Behinderung bedroht ist. Der Antragsteller hat demzufolge wegen seiner
seelischen Behinderung u. a. Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Leben in der
Gemeinschaft nach § 5 Nr. 4 SGB IX. Sollte es nach dem individuellen Bedarf
erforderlich sein, ist einem seelisch Behinderten u. a. Hilfe in einer voll- oder
teilstationären Einrichtung (§ 43 Abs. 1, 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG) bzw. - in der
jugendhilferechtlichen Terminologie - Hilfe in Einrichtungen über Tag und Nacht sowie
sonstigen Wohnformen zu leisten (vgl. § 35 a Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII).
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Entgegen der Auffassung des Antragsgegners spricht vorliegend nach der gebotenen
und nur möglichen summarischen Prüfung Überwiegendes dafür, dass die notwendige
Nachsorge im unmittelbaren Anschluss an die durchgeführte Entwöhnungsbehandlung
nur durch weitere stationäre Betreuung des Antragstellers sichergestellt werden kann.
Dies folgt zur Überzeugung des Gerichts aus den genannten ärztlichen Stellungnahmen
von Frau Dr. C1. und Frau Dr. X. . Insbesondere hat Frau Dr. C1. auf Nachfrage des
Gerichts zu der Notwendigkeit der stationären Nachsorge in ihrer amtsärztlichen
Stellungnahme vom 16. Juli 2004 ausgeführt, dass aufgrund seiner weiterhin
bestehenden Reifungsdefizite in der Persönlichkeitsstruktur (allgemeine Instabilität und
persönlichen Unreife), seines instabilen Abstinenzverhaltens mit der daraus
resultierenden Rückfallgefährdung, seiner erheblichen Defizite in der sozialen
Kompetenz und des Fehlens von adäquaten Konfliktlösungsstrategien in schwierigen
zwischenmenschlichen Situationen eine weitere stationäre Betreuung des
Antragstellers in der Jugendwohngruppe des Hauses C. von nicht weniger als 6
Monaten dringend erforderlich ist, um den Erfolg der Langzeittherapie zu sichern und ein
selbständiges und suchtmittelfreies Leben des Antragstellers zu gewährleisten. Dass -
wie der Antragsgegner meint - es zur Stabilisierung des in der Entwöhnungsbehandlung
Erlernten ausreiche, vor Ort eine kleine Wohnung anzumieten und begleitende
ambulante Therapieangebote in Anspruch zu nehmen, ist schon nicht substantiiert
dargelegt. Dieser Ansicht widerspricht zudem die fundierte und nachvollziehbare
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Stellungnahme der Amtsärztin, die aufgrund der vorhandenen Defizite in der Person des
Antragstellers zum gegenwärtigen Zeitpunkt ambulante Maßnahmen ausdrücklich für
nicht ausreichend erachtet. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass der
Antragsteller trotz seines Alters bisher nur einmal alleine gelebt hat und gegenwärtig mit
selbständiger Lebensführung und Alltagsgestaltung, wie sie im ambulanten Rahmen
von ihm gefordert würde, noch überfordert wäre. Das Gericht hat keinen Anlass an der
Sachkunde, Erfahrung und Unvoreingenommenheit der Amtsärztin zu zweifeln.
Gegenüber diesem grundsätzlichen Anspruch des Antragstellers auf vollstationäre
Betreuung kann sich der Antragsgegner nicht erfolgreich auf den Nachrang der
Sozialhilfe wegen eines vorrangigen Anspruchs gegen die Landesversicherungsanstalt
Rheinprovinz berufen. Denn dem Antragsteller steht insoweit kein bereiter Anspruch
gegenüber der Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz zu, da diese die Übernahme
der begehrten stationären Nachsorge in einer Jugendwohngruppe abgelehnt hat. Sie
wäre dafür auch nicht zuständig, da es sich bei der beantragten Maßnahme nicht um
eine medizinische Rehabilitation im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung
handelt. Der Antragsgegner kann dagegen - wie es ihm vorzuschweben scheint - den
Antragsteller nicht auf eine Verlängerung der medizinischen Rehabilitation in der
bisherigen Therapeutischen Einrichtung F. verweisen, da der Zweck der hier
beantragten Maßnahme nicht mehr die eigentliche (medizinische) Suchtentwöhnung
betrifft, sondern die soziale und schulische Integration für ein selbständiges und
suchtmittelfreies Leben im Vordergrund steht.
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Gemessen an dem Bedarf des Antragstellers geht das Gericht unter Berücksichtigung
der vorliegenden Erkenntnisse davon aus, dass die stationäre Betreuung des
Antragstellers in der Jugendhilfeeinrichtung Haus C. für ehemals drogenabhängige
Minderjährige und junge Volljährige die geeignete und angemessene Maßnahme ist.
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Der Antragsteller hat auch glaubhaft gemacht, dass der Antragsgegner einstweilen die
Kosten für beantragte Leistung zu erbringen hat.
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Zwar folgt aus § 10 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB VIII, dass jugendhilferechtliche
Maßnahmen der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte junge Menschen der
Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz vorgehen, so dass vorliegend
der zuständige örtliche Jugendhilfeträger (vgl. § 86 a SGB VIII) sachlich zuständig wäre.
Indes ist Grundlage des Anspruchs gegen den Antragsgegner § 14 Abs. 2 Satz 1 SGB
IX, der grundsätzlich bei negativen Kompetenzkonflikten zwischen verschiedenen
Rehabilitationsträgern eine den allgemeinen Regeln zur vorläufigen Zuständigkeit oder
Leistungserbringung im Sozialgesetzbuch I vorgehende Vorschrift darstellt.
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Nach § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX hat der Rehabilitationsträger, bei dem Leistungen zur
Teilhabe beantragt werden, innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Antrags
festzustellen, ob er für die Leistung zuständig ist. Hält er sich für unzuständig, leitet er
den Antrag unverzüglich dem nach seiner Auffassung zuständigen Rehabilitationsträger
zu, der an diese Verweisung gebunden ist und den Rehabilitationsbedarf unverzüglich
festzustellen hat (§ 14 Abs. 2 Sätze 3 und 1 SGB IX). Wird der Antrag nicht
weitergeleitet, stellt der zuerst angegangene Rehabilitationsträger den
Rehabilitationsbedarf fest (§ 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX).
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Vorliegend hat der Antragsgegner den bei ihm am 04. Juni 2004 eingegangenen Antrag
des Antragstellers auf Gewährung von Eingliederungshilfe nicht nach Ablauf der
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maximal zweiwöchigen Prüfungsfrist des § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX weitergeleitet,
sondern den Antrag mit Bescheid vom 24. Juni 2004 aus sachlichen Gründen
abgelehnt, da er andere Maßnahmen (ambulant betreutes Wohnen mit begleitenden
ambulanten Gesprächstherapien) für geeigneter ansah, als die beantragte vollstationäre
Betreuung in einer Jugendhilfeeinrichtung. Ungeachtet des Umstandes, dass diese
Begründung nach den vorstehenden Ausführungen nicht zutreffend ist, hat die
Nichtweiterleitung des Antrags zur Folge, dass der Antragsgegner einstweilen nach §
14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX für die Leistungsgewährung zuständig geworden ist,
vgl. Bayerischer VGH, Beschluss vom 01. Dezember 2003 - 12 CE 03.2683 -, in Juris m.
w. Nw. aus der Kommentarliteratur.
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Dieses Ergebnis entspricht dem Normzweck der Vorschrift. Ausweislich der
Begründung zu dem Gesetzentwurf soll § 14 SGB IX dem Bedürfnis Rechnung tragen,
im Interesse behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen durch rasche
Klärung von Zuständigkeiten Nachteilen des gegliederten Systems des Rechts der
Teilhabe behinderter Menschen entgegenzuwirken. Ziel der Vorschrift ist es, durch ein
auf Beschleunigung gerichtetes Zuständigkeitsklärungsverfahren die möglichst schnelle
Leistungserbringung zu sichern,
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vgl. BT-Drs. 14/5074, S. 85; BR-Drs. 49/01, S. 303.
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Die abschließende Klärung der Frage, ob aufgrund des geltend gemachten Bedarfs des
Antragstellers eine ambulante Maßnahme oder eine stationäre Maßnahme notwendig
war und wer Kostenträger der Maßnahme ist, muss ggf. einem möglichen
Erstattungsverfahren vorbehalten bleiben.
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Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass in den zeitgleichen Anfragen der
Therapeutischen Einrichtung F. an das Jugendamt der Stadt Hürth und an das
Landesjugendamt Rheinland beim Antragsgegner vom 02. Februar 2004 noch kein
Antrag des Antrags auf Leistungsgewährung zu sehen ist. Vielmehr bittet darin die
Einrichtung die beiden Leistungsträger um Auskunft und Abstimmung, wer sich von den
beiden Trägern für die Übernahme der beabsichtigten Nachsorgemaßnahme für
zuständig erachtet. Nach dem Inhalt der Schreiben sollte ein entsprechender
Leistungsantrag erst nach einer Antwort gestellt werden. Davon, dass in der
Zuständigkeitsanfrage vom 02. Februar 2004 noch kein Leistungsantrag zu sehen ist, ist
ausweislich des Aktenvermerks vom 31. März 2004 (Bl. 1 der Verwaltungsvorgänge)
auch der Antragsgegner ausgegangen. Denn dort ist gegenüber einer Mitarbeiterin der
Therapeutischen Einrichtung eine schriftliche Zusage über die örtliche Zuständigkeit
des Antragsgegners abgelehnt worden. Vielmehr wurde gebeten, erst den Antrag auf
Kostenübernahme konkret beim Antragsgegner zu stellen.
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Der Antragsteller hat auch den erforderlichen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Denn ohne den Erlass der einstweiligen Anordnung wäre der Antragsteller von
unzumutbaren Nachteilen bedroht. Aus den vorstehenden Gründen wäre ohne die
stationäre Nachbetreuung ein Erfolg der Langzeittherapie nicht sicherzustellen.
Ausweislich der amtsärztlichen Stellungnahme von Frau Dr. C1. besteht der
Anordnungsgrund auch für den gesamten streitbefangenen Zeitraum.
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.
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