Urteil des VG Köln vom 24.02.2010
VG Köln (wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, schule, gut, kläger, förderung, unterricht, deutsch, unterstützung, schuljahr, verhandlung)
Verwaltungsgericht Köln, 10 K 5512/08
Datum:
24.02.2010
Gericht:
Verwaltungsgericht Köln
Spruchkörper:
10. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
10 K 5512/08
Tenor:
Der Bescheid des Beklagten vom 28.07.2008 wird aufgehoben. Der
Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Das Urteil ist hinsichtlich der
Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung
durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren
Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung
Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags
leisten.
Tatbestand C. ist das am 00.00.0000 geborene Kind der Kläger. Er wurde zum
Schuljahr 2005/2006 in die Q. -Q1. -Schule (Q2. ) eingeschult. Er besuchte 3 Jahre die
Schuleingangsphase. Im November 2007 stellten die Schule und die Kläger einen
Antrag auf Eröffnung eines Verfahrens zur Feststellung des sonderpädagogischen
Förderbedarfs.
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Das pädagogische Gutachten vom 03.05.2008 kam zu dem Ergebnis, dass C.
sonderpädogogische Förderung im Förderschwerpunkt Lernen benötige, die im
Gemeinsamen Unterricht (GU) erfolgen könne. Es wurde ausgeführt, dass C. seit der
Einschulung ausgeprägte Lernprobleme habe. Die testpsychologische Untersuchung
mit dem Test K-ABC habe einen Wert (IQ 77) ergeben, der eindeutig auf eine
Lernbehinderung hinweise. C. habe Schwierigkeiten, sich Sachverhalte und
Aufgabenstellungen zu merken. Beim Kopfrechnen mache er viele Fehler, weil er
Zwischenergebnisse sofort vergesse. Mehrschrittige Lösungswege könne er nicht
nachvollziehen. Seine eingeschränkte intellektuelle Leistungsfähigkeit wirke sich in
Kombination mit seinem anstrengungsvermeidenden und teilweise planlosen und
desorientierten Verhalten verstärkt auf die Schulleistungen aus. C. sei ständig auf
individuelle Zuwendung und Unterstützung angewiesen. Das schulärztliche Gutachten
vom 11.03.2008 kam zu der Beurteilung, dass C. körperlich und neurologisch gesund
sei.
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Mit Konferenzbeschluss vom 12.06.2008 wurde C. nicht in Klasse 3 versetzt; er habe die
Mindeststandards der Schuleingangsphase nicht erreicht. C. verblieb gleichwohl in
seiner Klasse, der sog. Stammgruppe, in der Schüler und Schülerinnen altersgemischt
vom 1. bis zum 4. Schuljahr unterrichtet werden.
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Mit Bescheid vom 28.07.2008 entschied das beklagte Schulamt, dass für C.
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sonderpädagogischer Förderbedarf mit dem Förderschwerpunkt Lernen besteht und C.
am Gemeinsamen Unterricht teilnehmen kann. Zur Begründung wurde ausgeführt,
aufgrund einer Entwicklungsverzögerung im kognitiven Bereich liege bei C. eine
Beeinträchtigung des Lernens vor, die sich in geringer Merkfähigkeit, geringer
Anstrengungsbereitschaft und mangelnder Selbständigkeit äußere. Er bedürfe einer
intensiven Förderung mit seinem Entwicklungsstand entsprechenden Lernangeboten.
Der Gemeinsame Unterricht biete hierfür die entsprechenden Rahmenbedingungen. Die
sofortige Vollziehung wurde angeordnet. C. wurde im GU der Q2. beschult.
Mit ihrer hiergegen erhobenen Klage tragen die Kläger vor, C. leide bei
durchschnittlicher Intelligenz unter einem leichten Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom
(ADS). Bei einer dies berücksichtigenden Förderung in der allgemeinen Schule, die
bislang jedoch nicht erfolgt sei, sei zu erwarten, dass C. die allgemeine Schule
regelgerecht bewältigen werde. Sonderpädagogische Förderung sei nicht erforderlich.
Die Kläger beantragen,
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den Bescheid vom 28.07.2008 aufzuheben.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er verteidigt den angefochtenen Bescheid. Er legt Halbjahreszeugnisse (Klasse 4,
Stammgruppe 4) für C. in Form eines Lernentwicklungsberichtes und in Form eines
Notenzeugnisses jeweils vom 29.01.2010 vor. In dem Lernentwicklungsbericht wird zum
Arbeits- und Sozialverhalten u.a. ausgeführt, C. habe meist aufmerksam am Unterricht
teilgenommen, er habe ausdauernd und konzentriert gearbeitet und sei um
größtmögliche Selbständigkeit bemüht gewesen. Seine Lernfortschritte seien zu einem
guten Teil auch seiner beständig besser werdenden Arbeitshaltung zu verdanken. Er
habe sich in der Schule freundlich verhalten. Regeln und Vereinbarungen habe er
beachtet. Zu den Lernbereichen/ Fächern wird u.a. ausgeführt, in Deutsch habe er
unbekannte Texte recht flüssig vorgelesen. Das Leseverständnis sei noch nicht immer
gesichert gewesen. Bei schriftlichen Erzählungen sei es ihm gelungen, meistens
ausführlich zu erzählen. Bekannte Rechtschreibregeln habe er zunehmend
berücksichtigt. Im Bereich Grammatik sei er recht sicher im Unterscheiden der
verschiedenen Wortarten gewesen. Im Fach Mathematik habe sich C. im Zahlenraum
bis zur Million orientiert. Er habe die schriftlichen Rechenverfahren der Addition,
Subtraktion und Multiplikation beherrscht. Bei Sachaufgaben und Denksportaufgaben
sei er, meistens noch mit Unterstützung, zu richtigen Lösungen gekommen. Im
Englischunterricht habe er dem Unterrichtsgeschehen meistens folgen können. Im
Sachunterricht habe er sich selbständig Informationen beschaffen, diese strukturieren
und seine ausführlichen Arbeitsergebnisse mündlich vortragen können. Die
Klassenkonferenz habe beschlossen, dass C. auf Grund der Lernentwicklung sowie des
Arbeitsverhaltens und des Sozialverhaltens für den Besuch der Hauptschule und der
Gesamtschule geeignet sei. In einem Zusatz zum Lernentwicklungsbericht führen C.s
Stammgruppenlehrerinnen, Sonderschullehrerin N. und Grundschullehrerin E. , aus, C.
sei auch im laufenden Schuljahr sonderpädagogisch gefördert worden in Form von
Kleingruppenarbeit, individuellen Aufgabenstellungen, Einzelarbeit, Veranschaulichung
der Lerninhalte und umfangreicher individueller Zuwendung und Unterstützung beim
Lernen. C. habe in diesem Schuljahr enorme Lernfortschritte erzielt. Sein ehrgeiziges,
ausdauerndes und intensives Üben, die häusliche und außerschulische Unterstützung
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und nicht zuletzt ihre intensiven Bemühungen um seine optimale Förderung hätten ihres
Erachtens zu dieser erfolgreichen Entwicklung beigetragen. Sie seien der Meinung,
dass C. bei gleich bleibender positiver Arbeitshaltung in der Lage sei, nach seiner
Grundschulzeit eine weiterführende Schule zu besuchen, ohne weiterhin auf
sonderpädagogische Fördermaßnahmen angewiesen zu sein. In dem Notenzeugnis
sind C.s Leistungen in Mathematik, Englisch und Deutsch mit jeweils befriedigend
bewertet, in Deutsch dabei mit den Einzelnoten Sprachgebrauch ausreichend, Lesen
befriedigend und Rechtschreiben gut. Seine Leistung in Sachunterricht ist mit gut
bewertet. Das Sozialverhalten ist mit gut bewertet, im Bereich Arbeitsverhalten ist seine
Leistungsbereitschaft mit sehr gut und seine Zuverlässigkeit/ Sorgfalt mit gut bewertet.
C.s Stammgruppenlehrerinnen sind in der mündlichen Verhandlung informatorisch
gehört worden; diesbezüglich wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.
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Den Antrag der Kläger auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage
hat die Kammer mit Beschluss vom 25.11.2008 - 10 L 1260/08 - abgelehnt; die
hiergegen eingelegte Beschwerde der Kläger hat das Oberverwaltungsgericht für das
Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW) mit Beschluss vom 03.12.2009 - 19 B 6/09 -
zurückgewiesen. In dem Beschwerdeverfahren haben die Kläger u.a. folgende
Unterlagen vorgelegt: Einen Bericht der Gemeinschaftspraxis der Fachärzte für Kinder-
und Jugendpsychiatrie Dres. F. und S. vom 27.10.2008, wonach bei C. ein leichtes ADS
bei durchschnittlichen IQ-Potenzial aber deutlichen Problemen durch eine
Konzentrationsstörung bestehe; der von ihnen durchgeführte Intelligenztest K-ABC habe
einen Standardwert von 103 ergeben; ein Schreiben des Kölner Therapiezentrums vom
13.02.2009, wonach C. bei dem dort im Januar 2009 durchgeführten Intelligenztest
HAWIK III mit einem Gesamt-IQ von 105 ein Ergebnis durchschnittlicher Intelligenz
erreicht habe. Das beklagte Schulamt legte u.a. einen Kurzbericht der Q2. vom
19.05.2009 vor. Danach habe sich C.s Haltung grundlegend geändert. C. arbeite gut an
seinem Wochenplan, sei fleißig und ehrgeizig, er frage nach, wenn er etwas nicht
verstanden habe. Aus dieser massiv veränderten Haltung heraus habe er unglaubliche
Lernfortschritte erzielt und eine sehr positive Entwicklung durchlaufen. Wenn diese
Entwicklung anhalte, sei es gut vorstellbar, dass C. nach 5 Schulbesuchsjahren ohne
sonderpädagogische Förderung auf die weiterführende Schule wechseln könne. Er
arbeite derzeit in der altersgemischten Gruppe im GU in der Lerngruppe des 3.
Schuljahres, wo er in einigen Bereichen individuelle Hilfen und Differenzierungen
benötige, in anderen Bereichen mitarbeiten könne. In den Fächern Mathematik und
Deutsch arbeite er je nach Themenbereich an Aufgaben aus dem 2. und 3. Schuljahr.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte, der Akte 10 L 1260/09 sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge
Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e Die zulässige Klage ist begründet.
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Der Bescheid des beklagten Schulamtes vom 28.07.2008 ist rechtswidrig und verletzt
die Kläger in ihren Rechten ( § 113 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -).
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Der Bescheid vom 28.07.2008 ist gestützt auf § 19 des Schulgesetzes für das Land
Nordrhein-Westfalen (SchulG) in Verbindung mit der Verordnung über die
sonderpädagogische Förderung, den Hausunterricht und die Schule für Kranke (AO-
SF). Danach werden Schüler, die wegen körperlicher, seelischer oder geistiger
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Behinderung oder wegen erheblicher Beeinträchtigung des Lernvermögens nicht am
Unterricht einer allgemein bildenden Schule teilnehmen können, ihrem individuellen
Förderbedarf entsprechend an allgemeinen Schulen (im Gemeinsamen Unterricht bzw.
in Integrativen Lerngruppen) oder an Förderschulen sonderpädagogisch gefördert. Der
von dem Beklagten hier angenommene Förderbedarf wegen einer Lernbehinderung im
Sinne von § 5 Abs. 1 AO-SF besteht jedoch nicht; hierbei ist gemäß der
Rechtsprechung des
OVG NRW, Beschlüsse vom 09.03.2007 - 19 B 211/07 - und vom 28.11.2002 - 19 A
353/02-, Urteil vom 04.11.1988 - 19 A 881/88-, NVwZ-RR 1989, 303f,
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die Entwicklung C.s bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung zu berücksichtigen.
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Gemäß § 5 Abs. 3 AO-SF liegt eine Lernbehinderung vor, wenn die Lern- und
Leistungsausfälle schwerwiegender, umfänglicher und langdauernder Art sind und
durch Rückstand der kognitiven Funktionen oder der sprachlichen Entwicklung oder des
Sozialverhaltens verstärkt werden. Es ist nicht ersichtlich, dass diese Voraussetzungen
im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch erfüllt sind. Zwar hat C. nach dem
Lernentwicklungsbericht vom 29.01.2010 und den seinen Lehrerinnen in der
mündlichen Verhandlung gegebenen Erläuterungen in einigen Themenbereichen
insbesondere des Faches Deutsch noch Lernrückstände. Hieraus ergeben sich jedoch
wegen der erforderlichen Beurteilung seiner Gesamtpersönlichkeit unter maßgeblicher
Einbeziehung seiner bisherigen schulischen Entwicklung, vgl. hierzu OVG NRW,
Beschluss vom 03.12.2009 - 19 B 6/09 - m.w.N.,
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keine schwerwiegenden und umfänglichen Lern- und Leistungsausfälle im Sinne von §
5 Abs. 1 AO-SF. Seine bereits im Kurzbericht der Q2. vom 19.05.2009 geschilderte
positive Entwicklung ist bis heute kontinuierlich weitergegangen. Er hat den Berichten
zufolge seitdem insbesondere in den Fächern Mathematik und Deutsch enorme
Lernfortschritte gemacht und einen Lernzuwachs erzielt, so u.a. z.B. hinsichtlich des
Zahlenraums, der Rechenarten und der Rechtschreibung. Hierfür sprechen auch die
Bewertungen seiner fachlichen Leistungen in dem Notenzeugnis vom 29.01.2010. C1.
Lern- und Arbeitsverhalten verbessert sich kontinuierlich. Er arbeitete nach dem
Lernentwicklungsbericht vom 29.01.2010 ausdauernd und konzentriert, von
Schwierigkeiten in manchen Aufgabenstellungen ließ er sich nicht zurückhalten, er
bemühte sich aus eigenem Antrieb um eigenständige Lösungen. So wird
dementsprechend zum Sachunterricht wird ausgeführt, dass C. sich selbständig
Informationen beschaffen, diese strukturieren und vortragen konnte. In dem
Notenzeugnis vom 29.10.2010 ist sein Arbeitsverhalten hinsichtlich der
Leistungsbereitschaft mit sehr gut und hinsichtlich Zuverlässigkeit/Sorgfalt mit gut
bewertet. Die aktuelle schulische Entwicklung C.s , sein Lern- und Arbeitsverhalten,
seine erzielten enormen Lernfortschritte und nicht zuletzt die Prognosen seiner
Lehrerinnen hinsichtlich eines möglichen Wechsels auf die weiterführende Schule ohne
sonderpädagogische Förderung - auch wenn diese zumindest in der mündlichen
Verhandlung auf Basis einer zum Schuljahresende, d.h. noch knapp 5 Monate
weiterlaufenden sonderpädagogischen Förderung abgegeben worden sind - lassen
nicht erwarten, dass die bestehenden Lernrückstände nicht noch in einem
überschaubaren Zeitraum aufgeholt werden könnten, und sprechen dagegen sie als
umfängliche, schwerwiegende und langdauernde Lern- und Leistungsausfälle im Sinne
von § 5 Abs. 1 AO-SF anzusehen. Zweifelhaft ist zudem, ob, wie von § 5 Abs. 1 AO-SF
vorausgesetzt, eine Verstärkung der Lern- und Leistungsausfälle durch Rückstand der
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kognitiven Funktionen bei C. vorliegt. Indiziell hiergegen sprechen die Ergebnisse der
Intelligenztests aus dem Herbst 2008 und Januar 2009, vor allem aber die Schilderung
von C.s Lern- und Arbeitsverhalten im Lernentwicklungsbericht vom 29.01.2010,
wonach er gut zuhört und konzentriert arbeitet, sowie bei Denksportaufgaben, wenn
auch meistens noch mit Unterstützung, zu richtigen Lösungen kam. Ein Rückstand der
sprachlichen Entwicklung oder des Sozialverhaltens liegt unstreitig nicht vor.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 166 VwGO in
Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung.
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