Urteil des VG Köln vom 13.02.2003

VG Köln: behinderung, treu und glauben, jugendhilfe, örtliche zuständigkeit, ärztliche behandlung, jugendamt, haushalt, vorrang, familie, sorgerecht

Verwaltungsgericht Köln, 26 K 12592/99
Datum:
13.02.2003
Gericht:
Verwaltungsgericht Köln
Spruchkörper:
26. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
26 K 12592/99
Tenor:
Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren
eingestellt.
Im Übrigen wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem
Kläger die in der Zeit vom 4. Dezember 1996 bis 28. Juli 2001 im
Hilfefall der Frau Bianca L. erbrachten Aufwendungen zu erstatten und
auf den seit Klageerhebung bis zum 30. April 2000 fälligen
Forderungsbetrag 4 % Zinsen, auf den ab dem 1. Mai 2000 fälligen
Forderungsbetrag 5 % Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz zu
zahlen.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben
werden, tragen der Kläger und die Beklagte je zur Hälfte.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige
Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder
Hinterlegung in Höhe des jeweils beizutreibenden Betrages abwenden,
wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger zuvor Sicherheit in gleicher
Höhe leistet.
T a t b e s t a n d :
1
Der Kläger begehrt von der Beklagten Erstattung der Bianca L. , geb. am 29. Juli 1974,
gewährten Eingliederungshilfe wegen seelischer Behinderung zuzüglich
Prozesszinsen. Er hat diese Leistungen ursprünglich für die Zeit vom 1. Januar 1995 bis
zum 30. November 2000 in Höhe von 426.372,41 DM ( 218.000,75 EUR) geltend
gemacht. Im Laufe des Verfahrens hat er sein Erstattungsbegehren auf die Zeit bis zum
28. Juli 2001 ausgedehnt. Für die Zeit vom 1. Januar 1995 bis 3. Dezember 1996 und in
Höhe der Aufwendungen, die von einer weiterhin bestehenden Krankenversicherung
übernommen worden wären, hat er die Klage in der mündlichen Verhandlung
zurückgenommen.
2
Ende Januar 1990 wurde Bianca L. nach Absprache mit dem Jugendamt der Beklagten
und der allein sorgeberechtigten Mutter in die Klinik und Poliklinik für Kinder- und
Jugendpsychiatrie der Universität zu L. aufgenommen. In dem an die Beklagte
gerichteten Bericht des Prof. Dr. M. und des Dipl. Psychologen T. vom 12. April 1990
heisst es u.a., als Bianca zwei bis drei Jahre alt gewesen sei, habe sie erlebt, wie der
Vater die Mutter und den älteren Bruder bei einer tätlichen Auseinandersetzung durch
die Eingangstür geschmissen und beiden die Wohnung verweigert habe. Ferner heisst
es in diesem Bericht und auch einem Bericht des Jugendamtes der Beklagten vom 2.
April 1990: Die Mutter habe ernstzunehmende Verletzungen erlitten, die einen
mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt nach sich zogen. Bianca und ihre ältere
Schwester Michaela seien für ca. 1,5 Jahre bei dem Vater geblieben. Dieser habe der
Mutter trotz deren Sorgerechts die Kinder entzogen. Mit Hilfe des Jugendamtes der
Beklagten sei Bianca dann zur Mutter gekommen. Die Kinder seien seinerzeit mit Hilfe
des Gerichtsvollziehers aus dem Haushalt des Vaters herausgeholt worden.
(Stellungnahme des Jugendamtes der Beklagten vom 18. Juli 1977;
Sorgerechtsbeschluss des Amtsgerichts M. vom 10. Mai 1978.) Die Kinder zeigten
seinerzeit Zeichen von Unterernährung. Der Vater hatte sich dennoch gegen die
Herausgabe der Mädchen gewehrt. 1980 habe die Mutter Herrn T. geheiratet, den
Bianca früh als Vater akzeptiert habe. Aus der Ehe stammten zwei Halbgeschwister von
Bianca. 1983 sei die Familie in ein Haus umgezogen. Der leibliche Vater habe mit
seiner Mutter, also einer Großmutter von Bianca, in einer Unterkunft, die nur als
Notunterkunft bezeichnet werden konnte, gelebt. Dort hätten ihn die Mädchen sonntags
besucht. Dann sei der Vater wegen Vermögensdelikten und Verführung Minderjähriger
für längere Zeit ins Gefängnis gekommen. Nach seiner Entlassung habe er Kontakt mit
den Töchtern aufgenom- men und diese überredet, wieder zu ihm zu ziehen. Dabei sei
Bianca sogar so weit gegangen, zu behaupten, die Mutter habe sie verletzt bzw.
misshandelt, so dass dem Vater mit Hilfe des Jugendamtes der Beklagten und der
Familienrichterin im Dezember 1988 das Sorgerecht übertragen worden sei. Der Vater
habe zu der Zeit mit der inzwischen an den Rollstuhl gefesselten Mutter immer noch in
der Notunterkunft gewohnt. Im Jahr 1989 habe Bianca immer häufiger gesundheitliche
Beschwerden geäußert. Es sei zu etwa zehn bis zwölf Krankenhausaufenthalten
gekommen. Der Vater, Herr L. , habe sie als stures und schwieriges Mädchen
bezeichnet, das seelisch total kaputt sei, nicht mit ihm rede, plötzlich zu weinen anfange
oder aufstehe und weglaufe. Er habe zugegeben, das Mädchen des öfteren mit Prügel
bestraft zu haben. Am 12. Oktober 1989 habe Bianca einer Sozialarbeiterin im
Krankenhaus erklärt, sie wolle wieder zu ihrer Mutter zurück, da sie von ihrem Vater
geschlagen werde. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus sei sie sofort zu ihrer
Mutter übergesiedelt. In der Zeit beim Vater hätten die Beschwerden von Bianca (häufig
auftretende Bauchschmerzen, seltener Herz- oder Kopfweh sowie Rückenschmerzen)
angefangen. Ihr Verhalten habe sich inzwischen sehr verändert: so habe sie Distanz bis
hin zur Angst gegenüber männlichen Personen gezeigt, keine Hygiene betrieben, sei
emotional labil gewesen. Nach Beobachtungen der Mutter habe Bianca, sobald von
Lehrern, Mitschülern oder Ge- schwistern Anforderungen gestellt worden seien oder
Auseinandersetzungen bestan- den hätten, Bauch- oder Kopfschmerzen beklagt und
sich sofort in ein Krankenhaus einweisen lassen. Dort hätten ihre Beschwerden schnell
nachgelassen. Nach der Untersuchung von Prof. Dr. M. erreichte Bianca im Prüfsystem
für die Schul- und Bildungsberatung einen Gesamt-IQ von 94. Im
Persönlichkeitsfragebogen zeigte sie eine hohe emotionale Erregbarkeit, eine extreme
Scheu und ganz extrem hohe existenzielle Ängste. Sie tendiere zur Isolation gegenüber
Gleichaltrigen, es zeige sich eine hohe Abhängigkeit gegenüber Erwachsenenen und
sie besitze extrem hohe Unterlegenheitsgefühle. Es werde eine deutliche Depressivität
3
erkennbar, neben Ängsten vor dem Vater und dessen aggressiven Handlungen. Die
Geamtsymptomatik werfe den Verdacht sexueller Misshandlung (durch den Vater) auf.
Es liege eine starke Stimmungslabilität vor und Bianca scheine sehr stark, etwa auf das
Niveau von Lernbehinderten, zu regredieren. Sie benötige einen freundlichen,
schützenden, überschaubaren Rahmen. Eine Entlassung in die häusliche Umgebung
würde trotz aller thematisierten Bemühungen der Eltern (T. ) vermutlich zu einem
erneuten Rückfall führen. Es werde daher eine kleinere heilpädagogisch orientierte
Institution und Teilnahme an einer einzeltherapeutischen Maßnahme empfohlen.
Die Mutter von Bianca L. beantragte darauf bei der Beklagten am 8. Juni 1990
wirtschaftliche Jugendhilfe in Form der Heimunterbringung. Am 11. Juni 1990 wurde
Bianca zu Lasten der Beklagten in das Kinderheim X. aufgenommen. Am 1. November
1990 wurde die Unterbringung beendet. Bianca wurde als suizidal in die Uniklinik L.
eingewiesen. Von dort sollte sie zur Langzeittherapie nach W. überwiesen werden.
Nach dem Schreiben der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der
Universität zu L. vom 20. November 1990 benötigte diese eine Langzeittherapie. Bianca
zeige weiterhin ein sehr labiles, suizidales Verhalten und brauche noch sehr viel
Zuwendung und Aufmerksamkeit der Betreuer. Es bestünden deutliche Anzeichen einer
Chronifizierung der Symptome. Sie habe in einem nach dortiger Einschätzung
glaubwürdigen schriftlichen Bericht einen massiven sexuellen Missbrauch durch den
Vater geschildert. Sie äußere häufig die Befürchtung, dass ihrer älteren Schwester
Gleiches widerfahren könne. Auch die dem Jugendamt der Beklagten bekannten
Lebensumstände in der leiblichen Familie des Vaters ließen eine deutliche Gefährdung
der Schwester befürchten. Dies sei Frau C. vom Jugendamt der Beklagten bereits bei
der ersten stationären Aufnahme von Bianca mitgeteilt worden. Man bitte um
nochmalige Information der zuständigen Jugendamtskollegin.
4
Nähere Angaben und Berichte über den Zustand von Bianca während des Aufenthaltes
im Kinderheim X. enthält der Vorgang der Beklagten nicht.
5
Zur Aufnahme einer Langzeittherapie kam es nicht. Stellungnahmen der letztlich hierzu
vorgesehenen Jugendpsychiatrie T. befinden sich nicht in dem Verwaltungsvorgang der
Beklagten. Stattdessen wurde aufgrund eines Antrages ihrer Mutter vom 17. Januar
1991 Bianca ab dem 5. Februar 1991 - dem Tag der Entlassung aus der Uni-Klinik -
Hilfe zur Erziehung durch Unterbringung im B. -Stift gewährt. In einem Antrag auf
Übernahme von Fahrtkosten für Besuche bei ihrer Mutter und ihrem Stiefvater heisst es
unter dem 27. April 1992, Bianca sei derart verhaltensauffällig und gestört, dass ihr das
Benutzen öffentlicher Verkehrsmittel nicht möglich sei.
6
In einem Vermerk im Verwaltungsvorgang der Beklagten vom 26. Juni 1992 heisst es
u.a., Bianca zeige ein durchschnittliches Leistungsvermögen. Sie werde den Abschluss
der 9. Klasse mit Erfolg absolvieren. Ihr Ziel, den Abschluss der 10. Klasse zu erreichen,
sei durchaus realistisch. Bianca sei nach wie vor bei hoher emotionaler Erregbarkeit,
extremer Scheu, extremen Ängsten und der Tendenz zur Isolation von Gleichaltrigen
sowie hoher Abhängigkeit von Erwachsenen in therapeutischer Behandlung. Die
erheblich seelisch geschädigte Heranwachsende bedürfe zu ihrer weiteren positiven
Entwicklung der Weitergewährung der Jugendhilfe.
7
Ab Ende September/Anfang Oktober 1992 befand sich Bianca, da sie erheblich suizidal
war, in der S. Landesklinik C. . Es hiess, sie bedürfe der stationären
psychotherapeutischen Behandlung. Mit Hinweis darauf wurde unter dem 12. Oktober
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das Ruhen der Hilfe zur Erziehung beantragt.
Bei dem Kläger wurde am 27. Januar 1993 die Gewährung von Eingliederungshilfe für
Behinderte in Form der Übernahme der stationären Behandlungskosten in der
Landesklinik beantragt. In der Diagnose des behandelnden Arztes hieß es "V.a.
Borderline Störung". Das Leiden könne durch ärztliche Behandlung behoben, gebessert
oder jedenfalls vor Verschlimmerung bewahrt werden. Als Therapie seien Gespräche
und Krisenintervention vorgesehen. Mit Bescheid vom 23. März 1993 gewährte der
Kläger Bianca L. ab dem 9. Oktober 1992 Eingliederungshilfe gem. §§ 39 ff. BSHG.
9
Am 31. Oktober 1994 teilte der Kläger dem Jugendamt des F. mit, dass er Bianca L.
wegen seelischer Behinderung Leistungen nach § 40 Abs. 1 BSHG gewähre. Aus
seiner Sicht sei die Fortführung der Maßnahme erforderlich. Für die Entscheidung über
die Weitergewährung der Eingliederungshilfe nach § 35 a KJHG übersende er einen
Auszug aus der Sozialhilfeakte. Gleichzeitig teilte er der Hilfeempfängerin mit, ab dem 1.
Januar 1995 werde Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder, Jugendliche und
junge Volljährige durch die örtlichen Jugendämter gewährt. Er habe den F. gebeten, ab
dem 1. Januar 1995 die Bearbeitung und Hilfegewährung zu übernehmen. Der F. leitete
die Originalunterlagen an die Beklagte weiter. Diese teilte unter dem 7. Dezember 1994
mit, gemäß der Arbeitshilfe des Landesjugendamtes liege eine Zuständigkeit des
Jugendhilfeträgers bei einer Erstmaßnahme für seelisch behinderte junge Volljährige
nur vor, wenn die Maßnahme voraussichtlich mit dem 21. Lebensjahr beendet werden
und in dieser Zeit das Ziel der Jugendhilfe erreicht werden könne. Aus dem ärztlichen
Attest gehe hervor, dass die Hilfeempfängerin an einer Borderline-Störung erkrankt sei.
Nach ihren Kenntnissen und Erfahrungen sei bei diesem Krankheitsbild mit einer
langjährigen Behandlungszeit zu rechnen.
10
Der Kläger teilte darauf unter dem 6. Februar 1995 u.a. der Beklagten mit, dass er die
Hilfe gem. § 44 BSHG zunächst weiter gewähre und machte einen Erstattungsanspruch
nach § 104 SGB X geltend. Im August 1995 übersandte er der Beklagten den Bericht
der Stationsärztin Dr. C. der S. Landesklinik C. , Abteilung für Allgemeine Psychiatrie II.
Danach war Bianca seit Jahren an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung erkrankt mit
der Symptomatik Angststörung, Schlafstörung mit Albträumen, innerer Unruhe,
Leeregefühl, häufigen Magen-Darm- Störungen, fluktuierenden Schmerzproblemen und
z.T. gravierenden Selbstverletzungen. Dazu komme eine Selbstwertproblematik,
Versagensängste und eine ausgeprägte fehlende Belastbarkeit. Der Verlauf der
Behandlung seit dem 5. Oktober 1992 habe über mehrere Stationen, offene und
geschlossene, zuletzt auf die geschlossene Langzeitstation S 1 B geführt. Durch die
dortige Behandlung, insbesondere vielfältige Therapien, habe sich der Zustand von
Bianca L. so gebessert, dass man eine weitere nachstationäre Versorgung in einer
passenden Familie, betreut durch das Familienpflegeteam der S. Landesklinik anstrebe.
11
Unter dem 23. August 1995 lehnte die Beklagte erneut die Übernahme des Falles in die
eigene Zuständigkeit ab. Sie führte aus, ihre Zuständigkeit sei nur gegeben, wenn die
Jugendhilfe voraussichtlich mit dem 21. Lebensjahr beendet sei und in dieser Zeit das
Ziel der Jugendhilfe erreicht werden könne. Eine solche Prognose sei im Fall von
Bianca, die am 29. Juli 1992 das achtzehnte Lebensjahr vollendet habe, aufgrund der
vorgelegten ärztlichen Bescheinigung nicht möglich.
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Der Kläger hat am 23. Dezember 1999 Klage erhoben. Die Kammer hat den Rechtsstreit
mit Beschluss vom 2. Januar 2003 der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur
13
Entscheidung übertragen.
Zur Begründung seiner Klage wiederholt und vertieft der Kläger seine bisherigen
Auführungen. Er verweist insbesondere darauf, dass ein Hilfeanspruch nach § 41 SGB
VIII nicht voraussetze, dass der junge Volljährige bis zur Vollendung des 21.
Lebensjahres seine Verselbständigung erreichen werde. Die Volljährigenhilfe sei nicht
notwendig auf einen bestimmten Entwicklungsabschluss gerichtet, sondern es genüge
auch schon ein Fortschritt im Entwicklungsprozess. Im Fall seelisch behinderter junger
Menschen gelte der Vorrang der Jugendhilfe uneingeschränkt. Ziele die Hilfe auf die
Überwindung der seelischen Behinderung ab, sei die Hilfe für junge Volljährige nach §§
41, 35 a SGB VIII zu gewähren.
14
Der Kläger hat in Kopie ärztliche Stellungnahmen, Bescheinigungen und
Entwicklungsberichte aus der Zeit von September 1995 bis Mai 2001 vorgelegt. Aus
diesen folgt u.a., dass Frau L. , nachdem ihrer Mutter das Sorgerecht entzogen worden
war und sie ab dem Alter von zwölf Jahren im Haushalt ihres Vaters lebte,von diesem u.
a. über einen Zeitraum von achtzehn Monaten vergewaltigt wurde. Sie sei weiterhin von
einer Persönlichkeitsstörung (Borderline-Persönlichkeit) bzw. einer paranoiden
Psychose betroffen, leide unter Angstzuständen und ein Rückfall sei jederzeit möglich.
Sie bedürfe weiterhin der ständigen Betreuung.
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Der Kläger nimmt seine Klage zurück, soweit er ursprünglich eine Erstattungsleistung
begehrte, die über 125.372,73 Euro hinausging und soweit ursprünglich eine
Feststellung der Verpflichtung zur Kostenerstattung für vor dem 4. Dezember 1996
liegende Zeiträume begehrt wurde.
16
Der Kläger beantragt nunmehr noch,
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festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger die in der Zeit vom 4.
Dezember 1996 bis 28. Juli 2001 im Hilfefall der Frau Bianca L. erbrachten
Aufwendungen zu erstatten und auf den seit Klageerhebung bis zum 30. April 2000
fälligen Forderungsbetrag 4 % Zinsen, auf den ab dem 1. Mai 2000 fälligen
Forderungsbetrag 5 % Zinsen über dem jeweiligen Basis- zinssatz zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie trägt vor, jedenfalls ab dem 21. Lebensjahr der Hilfeempfängerin, also ab dem 29.
Juli 1995, nicht mehr zur Hilfegewährung zuständig zu sein. Auch in der Zeit vom 1.
Januar bis 29. Juli 1995 scheide ihre Zuständigkeit aber aus, da Bianca L. unter einer
Borderline-Störung, also einer Erkrankung leide, die regelmäßig lebenslang fortbestehe.
Eine Heilung oder auch nur eine reelle Verbesserung in dem von der Jugendhilfe
umfassten Zeitraum sei schon aufgrund des Krankheitsbildes nicht möglich.
Zusammenfassend sei ein Zuständigkeitswechsel zur Jugendhilfe insgesamt
abzulehnen, da die Voraussetzungen nach § 39 BSHG günstiger seien, als die nach §
41 SGB VIII. Hilfe nach § 41 SGB VIII komme jedenfalls nur in begründeten Einzelfällen
und nur über einen begrenzten Zeitraum über die Regelzeitgrenze des § 41 Abs. 1 Satz
2/ 2. HS SGB VIII hinaus in Betracht. Sie scheide aus, wenn wegen des Umfangs der
seelischen Behinderung der die Volljährigkeit überschreitende Zeitraum der
Behandlung nicht mehr absehbar sei. Für Letzteres spreche, dass die Hilfeempfängerin
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an einer regelmäßig lebenslang bestehenden schweren Borderline- Störung leide.
Günstigere medizinische Prognosen lägen ihr nicht vor.
Die Beklagte hat auf gerichtliche Aufforderung einen weiteren Jugendamtsvorgang
vorgelegt. Danach hatte das Jugendamt im Jahr 1988, als der Vater der
Hilfeempfängerin das Sorgerecht erstritt, unter dem 28. Juni und 11. November 1988
Stellung genommen. Hinweise darauf, dass die Kinder bereits einmal unterernährt aus
dem Haushalt des Vaters gebracht wurden, und auf die erhebliche Körperverletzung
begangen an der Mutter und dem Bruder sowie darauf, dass dieser bereits 1977
mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten war, fehlen in der Stellungnahme. Es ist
auch nicht ausdrücklich darauf, dass der Vater zuvor u.a. wegen Verführung
Minderjähriger eine Haftstrafe ableisten musste, sondern nur auf eine Verurteilung
wegen einer Jugendschutzsache hingewiesen. Auf den Inhalt der Stellungnahmen wird
im Übrigen zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen. In der
Entscheidung des Familiengerichts hieß es, die Situation im Haushalt des Vaters
bedürfe der weiteren Beobachtung. Nach fünf Monaten sei nochmals eine Überprüfung
vorzunehmen. In der Folgezeit war es seitens des Jugendamtes ausweislich des
Verwaltungsvorganges zu keinerlei Besuchen der Hilfeempfängerin und ihrer
Schwester im Haushalt des Vaters gekommen. Im November 1989 nahm dann das
Jugendamt der Beklagten auf Aufforderung des Amtsgerichts C. erneut Stellung,
nachdem die Mutter u.a. beantragt hatte, ihr das Sorgerecht zu übertragen. Auch aus der
Stellungnahme vom 28. November 1989 folgt, dass das Jugendamt der Beklagten in der
Folgezeit keine kontrollierenden Kontakte zur Hilfeempfängerin und ihrer Familie
aufgenommen hatte. Im Übrigen wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf den
Inhalt dieser Stellungnahme Bezug genommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beteiligten ergänzend
Bezug geommen.
23
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
24
Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, ist das Verfahren einzustellen, § 92
Abs. 3 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
25
Die Klage ist zulässig. Zulässig ist insbesondere der in der mündlichen Verhandlung
erfolgte Übergang zu dem Feststellungsantrag nach § 43 Abs. 1 VwGO. Die in § 43 Abs.
2 VwGO geregelte Subsidiarität der Feststellungs- gegenüber der Leistungsklage steht
nicht entgegen, da die Klage sich gegen einen Hoheitsträger richtet und ein Streit über
die Höhe des geltend gemachten Anspruchs nicht besteht.
26
Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2001 - 5 C 34.00 -, BVerwGE 114, 61; OVG NRW,
Urteil vom 12. September 2002 - 12 A 4625/99 -.
27
Denn die Beklagte hat, nachdem der Kläger die Positionen, die von der
Krankenversicherung im Falle einer Weiterversicherung von Bianca übernommen
worden wären, aus seinem Erstattungsbegehren herausgerechnet hat, hinsichtlich der
Höhe dieses Erstattungsbegehrens keine Bedenken mehr geltend gemacht und nur
noch seine Erstattungspflicht dem Grunde nach in Frage gestellt.
28
Die zulässige Klage ist auch begründet. Dem Kläger steht der geltend gemachte
29
Erstattungsanspruch zu.
Dies folgt aus § 104 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch - SGB X -, auf den sich der
Kläger im Verwaltungsverfahren - allerdings unter gleichzeitiger Nennung des § 44
Bundessozialhilfegesetz (BSHG) - berufen und auf den er im verwaltungsgerichtlichen
Verfahren durch Nennung der Anspruchsnormen §§ 102 ff. SGB X Bezug genommen
hat. Da im Falle von Eingliederungshilfeleistungen an seelisch behinderte Menschen
sowohl der Sozialhilfeträger als auch der Jugendhilfeträger diesem gegenüber zur
Leistung verpflichtet ist und nur zwischen den beiden ein Vorrang-/Nachrang-verhältnis
besteht,
30
vgl. im Fall einer Mehrfachbehinderung BVerwG, Urteil vom 23. September 1999 - 5 C
26/98 -, NJW 2000, 2688f.,
31
hat der Kläger auch, wie schon bis zum 31. Dezember 1994, nach §§ 39, 40 BSHG und
nicht nur - wie er wohl bei gleichzeitiger Nennung von § 104 SGB X versehentlich
formulierte - nach § 44 BSHG geleistet, so dass für ein Erstattungsbegehren
grundsätzlich § 104 SGB X die zutreffende Anspruchsnorm darstellt.
32
Nach Absatz 1 Satz 1 dieser Vorschrift ist ein Leistungsträger, gegen den ein
Berechtigter einen Anspruch auf Sozialleistungen hat oder hatte, dem nachrangig
verpflichteten Leitungsträger, der dem Berechtigten gleichartige Leistungen erbracht hat,
ohne dass die Voraussetzungen des § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, zur Erstattung der
Kosten verpflichtet, soweit der vorrangig verpflichtete Leistungsträger nicht bereits selbst
geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt
hat. Nach Satz 2 nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit dieser bei
rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst
nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre.
33
Vorliegend waren sowohl der Kläger als auch die Beklagte im noch streitigen Zeitraum
zu gleichartigen Leistungen verpflichtet. Die Leistungspflicht der Beklagten war
gegenüber der Leistungspflicht des Klägers vorrangig.
34
Die Leistungsverpflichtung des Klägers gegenüber Bianca L. ergab sich aus § 39 BSHG
in der jeweils gültigen Fassung, diejenige der Beklagten aus §§ 41 i.V.m. 35 a des
Achten Buches Sozialgesetzbuch -SGB VIII - in der jeweils gültigen Fassung.
35
Für die Erbringung von Eingliederungshilfe nach §§ 41, 35 a SGB VIII ist nach § 85 SGB
VIII mangels ausdrücklicher Zuweisung dieser Aufgabe an den überörtlichen Träger der
örtliche Träger der Jugendhilfe sachlich zuständig. Die örtliche Zuständigkeit der
Beklagten folgt aus § 86 a Abs. 2 SGB VIII, weil Bianca L. vor dem ersten der ineinander
übergehenden Einrichtungsaufenthalte (Kinderheim X. , Uniklinik L. , B. -Stift,
Rheinische Landesklinik C. ,) ihren gewöhnlichen Aufenthalt nach § 30 Abs. 3 Satz 2
Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil (SGB I) unstreitig im Zuständigkeitsbereich der
Beklagten hatte. Deshalb hatte die Beklagte auch bis zur Aufnahme in die Rheinische
Landesklinik C. Jugendhilfe gewährt.
36
Bianca L. hatte auch in dem streitigen Zeitraum gegenüber der Beklagten als junge
Volljährige im Sinne von § 7 Abs.1 Nr. 3 SGB VIII wegen ihrer unstreitigen, in den
vielfältigen im Tatbestand zitierten ärztlichen Stellungnahmen und Berichten
beschriebenen seelischen Behinderung Anspruch auf Gewährung von
37
Eingliederungshilfe gem. §§ 41, 35 a SGB VIII i.V.m. §§ 39, 40 BSHG in den jeweils
gültigen Fassungen und zwar in der Form, wie sie erbracht wurde. Denn nach § 41 Abs.
1 Satz 1 SGB VIII soll einem jungen Volljährigen Hilfe für die
Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt
werden, wenn und solange die Hilfe aufgrund der individuellen Situation des jungen
Menschen notwendig ist. Nach Absatz 2 gilt für die Ausgestaltung der Hilfe unter
anderem § 35 a SGB VIII entsprechend. Nach § 35 a SGB VIII in der jeweils gültigen
Fassung hat ein seelisch behinderten oder von Behinderung bedrohter junger
Volljähriger Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe nach dem Bedarf im
Einzelfall auch in Einrichtungen über Tag und Nacht. Aufgabe und Ziel der Hilfe
bestimmen sich u.a. nach § 39 Abs. 3 BSHG (§ 35 a Abs. 2 a.F., § 35 a Abs. 3 n.F. SGB
VIII), sind also darauf ausgerichtet, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine
Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und den behinderten
Menschen in die Gesellschaft einzugliedern.
Der Kläger war gem. § 100 Abs. 1 Nr. 1, § 97 Abs. 2 Satz 1 und 2 BSHG aus §§ 39, 40
BSHG in der jeweils gültigen Fassung gleichfalls verpflichtet, der Hilfeempfängerin die
erbrachte Hilfe wegen seelischer Behinderung zu gewähren. Gem. § 39 Abs. 1 BSHG
aF. ist Personen, die nicht nur vorübergehend körperlich, geistig oder seelisch
wesentlich behindert sind, Eingliederungshilfe zu gewähren. Gem. § 39 Abs. 1 BSHG
n.F. ist Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 des
Neunten Buches Sozialgesetzbuch wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft
teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen Behinderung bedroht sind,
Eingliederungshilfe zu gewähren, wenn und solange die Aussicht besteht, dass die
Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Die Voraussetzungen lagen nach
den vorstehenden Ausführungen - und zudem unstreitig - vor.
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Der Anspruch der Hilfeempfängerin gegenüber dem Kläger ging dem Anspruch
gegenüber der Beklagten im Rang nach. Das Verhältnis der Ansprüche auf gleichartige
Leistungen nach § 35 a SGB VIII und § 39 BSHG ergibt sich aus § 10 Abs. 2 Satz 1
SGB VIII. Danach gehen Leistungen nach dem SGB VIII den Leistungen nach dem
BSHG vor. Dieser Vorrang entfällt gem. § 10 Abs. 2 Satz 2 nur in den Fällen, in denen
Eingliederungshilfe für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von
einer solchen Behinderung bedroht sind, gewährt werden. Der Gesetzgeber hat also
einen Vorrang von Jugendhilfeleistungen für junge Menschen, die seelisch behindert
oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, geregelt.
39
Vgl. Gesetzesbegründung zu Art. 1 Nr. 4 (§ 10 Abs. 2), BT-Drucks. 12/3711, S. 41.
40
Junge Menschen sind gem. § 7 Abs. 1 Nr. 4 SGB VIII diejenigen, die noch nicht 27
Jahre alt sind.
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Dem Vorrang der Leistungsverpflichtung der Beklagten steht also nicht § 41 Abs. 1 Satz
2 SGB VIII deshalb entgegen, weil die Hilfemaßnahme über das 21. Lebensjahr hinaus
andauerte und nach Aussage der Beklagten im Hinblick auf die Borderline-
Persönlichkeit von Bianca möglicherweise dauerhaft erforderlich bleibt. Die Hilfe nach §
41 SGB VIII setzt nicht voraus, dass der junge Volljährige bis zur Vollendung des 21.
Lebensjahres seine Verselbständigung erreicht hat. Weder dem Wortlaut noch dem
Sinn und Zweck der Vorschrift ist zu entnehmen, dass ein Hilfeanspruch nur gegeben
ist, wenn Aussicht besteht, dass mit der Hilfe eine Verselbständigung bis zur
Vollendung des 21. Lebensjahres oder in einem begrenzten Zeitraum darüber hinaus
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erreicht werden kann. Die Hilfe ist nicht notwendig auf einen bestimmten
Entwicklungsabschluss gerichtet, sondern auch schon auf einen Fortschritt im
Entwicklungsprozess bezogen.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. September 1999 - 5 C 26/98 -, a.a.O..
43
Zudem ist - insbesondere auch im Hinblick auf die schon zitierte Regelung des § 10
Abs. 2 SGB VIII - hinsichtlich der Frage, welche Art von Fortschritt mit der Hilfe für einen
jungen Volljährigen erreichbar sein muss, auf die Art der Hilfe, die § 41 SGB VIII i.V.m. §
35 a SGB VIII und § 39 BSHG vorsieht, abzustellen. Bei der Eingliederungshilfe für
seelisch Behinderte kann das Ziel je nach Schwere der Behinderung auch allein darin
bestehen, die Folgen der Behinderung zu mildern und den behinderten Menschen in die
Gesellschaft einzugliedern. In einem solchen Fall ist die Hilfe bei Bedarf bis zur
Vollendung des 27. Lebensjahres durch den Jugendhilfeträger und danach durch den
Sozialhilfeträger zu gewähren.
44
Vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 25. Januar 2000 - 4 L 2934/99 - , FEVS 52, 7 f.; vgl.
auch OVG des Saarlandes, Beschluss vom 26. Juni 2000 - 3 Q 102/99 -, bei JURIS S. 2
und AS RP-SL 28, 326ff.; VGH Mün- chen, Beschluss vom 24. April 2001 - 12 CE
00.1337 -, FEVS 52, 471 ff. (insbes. S. 475 unten).
45
Die Hilfeempfängerin erhielt bereits seit dem 17. September 1992, also seit sie
sechzehn Jahre alt war, wegen ihrer unstreitigen seelischen Behinderung
Eingliederungshilfe. Für die Hilfegewährung wäre von Anfang an aufgrund der am 1.
Januar 1991 in Kraft getretenen Neuregelung des Kinder- und Jugendhilferechts die
Beklagte zuständig gewesen, wenn nicht der Gesetzgeber zugleich zugunsten der
Jugendhilfeträger eine Übergangsregelung geschaffen hätte, die bis zum 31. Dezember
1994 weiterhin eine Gewährung der Eingliederungshilfe an seelisch Behinderte oder
von seelischer Behinderung Bedrohte durch die Sozialhilfeträger vorsah ( Art. 11 des
Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts vom 26. Juni 1990, BGBl.
I S. 1163, 1193, und Art. 2 des Ersten Gesetzes zur Änderung des Achten Buches
Sozialgesetzbuch vom 16. Februar 1993, BGBl. I S. 239, 252). Dieser Schutz war ab
dem 1. Januar 1995 entfallen, so dass die Beklagte, wie bei ihr beantragt, ab diesem
Zeitpunkt Hilfe für die seelisch behinderte junge Volljährige hätte gewähren müssen.
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Dem Erstattungsbegehren steht auch nicht, wie von der Beklagten in der mündlichen
Verhandlung erstmals vorgetragen, entgegen, dass die Hilfeempfängerin
möglicherweise Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz gehabt und deshalb
nicht in vollem Umfang die seitens des Klägers gewährte Kostenübernahme benötigt hat
(§ 2 BSHG). Diese Ansprüche will die Beklagte daraus herleiten, dass, wie mit ihr
erörtert und von ihr auch eingeräumt, nach derzeitigem Erkenntnisstand die seelische
Behinderung der Hilfeempfängerin maßgeblich von dem im Tatbstand geschilderten
eineinhalbjährigen sexuellen Missbrauch durch den Vater hervorgerufen wurde, der
wiederum erst dadurch möglich wurde, dass die Hilfeempfängerin nach den
unzureichenden Stellungnahmen des Jugendamtes der Beklagten im
Sorgerechtsverfahren und der anschliessenden völlig unterlassenen Kontrolle des
weiteren Schicksals der Hilfeempfängerin über diesen Zeitraum im Haushalt des Vaters
lebte.
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Ungeachtet der Frage, ob ein solcher Anspruch nach § 1 OEG bestand, hätte die
Beklagte selbst diesen Anspruch geltend machen müssen. Denn die Schädigung
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erfolgte in der Zeit von 1988 bis 1989. Von Juni 1990 bis Oktober 1992 gewährte die
Beklagte der Hilfeempfängerin wegen des seinerzeit schon aufgrund der Schädigung
bestehenden Störungsbildes Jugendhilfe. Sie hat in dieser Zeit keinerlei Ansprüche
geltend gemacht beziehungsweise die Geltendmachung veranlasst. Sie hat auch den
Kläger bei dessen Übernahme des Hilfefalles im Oktober 1992 oder jedenfalls bei
dessen Antrag auf Fortsetzung der Hilfe Ende 1994 oder in der Folgezeit nicht auf
etwaige Ansprüche nach dem Opferentschädigungsgesetz hingewiesen. Da dem
Beklagten die Jugendhilfeakten der Beklagten nicht vorlagen - maßgebliche Teile der
Akte hat die Beklagte erst auf nochmalige Aufforderung der Einzelrichterin im Februar
2003 dem Gericht vorgelegt -, waren dem Kläger die für einen Anspruch maßgeblichen
Tatsachen auch bisher nicht vollständig bekannt, worauf es allerdings nach dem
Vorstehenden schon nicht mehr ankommt.
Der neue Vortrag der Beklagten stellt sich daher als Verstoß gegen den in der gesamten
Rechtsordnung geltenden Grundsatz von Treu und Glauben, § 242 des Bürgerlichen
Gesetzbuches (BGB) und damit als unzulässige Rechtsausübung dar. Nach diesem
Grundsatz darf nicht vorsätzlich oder grobfahrlässig gegen schutzwürdige Interessen
des anderen Sozialhilfeträgers verstoßen werden.
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Vgl. OVG NRW, Urteile vom 5. Dezember 2001 - 12 A 3537/99 - und vom 12. September
2002 - 12 A 4625/99 -.
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Aus den Umständen, die zu der Behinderung von Bianca L. führten, folgt vielmehr, dass
die Beklagte ungeachtet der vorstehenden Ausführungen zur Auslegung des § 41 SGB
VIII im Falle seelischer Behinderung erst Recht zur Hilfegewährung bis zum 27.
Lebensjahr und damit auch zur Kostenerstattung verpflichtet ist. Denn gem. § 41 Abs. 1
Satz 2, 2. HS soll die Hilfe in begründeten Einzelfällen für einen begrenzten Zeitraum
darüber hinaus (über die Vollendung des 21. Lebensjahres Anm. d. Gerichts) fortgesetzt
werden. Ein solcher begründeter Einzelfall ist jedenfalls dann gegeben, wenn wie
vorliegend Versäumnisse und Unterlassungen des Jugendhilfeträgers in erheblichem
Umfang an der Entstehung des Hilfebedarfs beteiligt sind.
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Zudem steht aufgrund dieser Umstände die in diesem gerichtlichen Verfahren nicht zu
beantwortende Frage im Raum, ob nicht gegenüber der Beklagten
Amtshaftungsansprüche der Hilfeempfängerin bestehen und etwaige
Schadensersatzzahlungen deren Hilfebedarf zumindest verringern könnten.
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Der Erstattungsanspruch des nachrangig verpflichteten Klägers aus § 104 SGB X wird
durch die übrigen Erstattungstatbestände der §§ 102 ff SGB nicht verdrängt.
Insbesondere liegt - wie oben bereits ausgeführt - kein Erstattungsfall des § 102 SGB X
i.V.m. § 44 BSHG vor. Des weiteren liegt kein Fall des § 103 SGB X vor, da der
Anspruch auf die vom Kläger im streitigen Zeitraum erbrachten Sozialhilfeleistungen
nicht nachträglich entfallen ist. Der Kläger hat auch wie schon dargelegt die Hilfe nicht,
wie in § 105 SGB X vorausgesetzt, als unzuständiger, sondern als nachrangig
verpflichteter Leistungsträger erbracht.
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Der Kläger kann die Verzinsung seines Erstattungsanspruchs ab Rechtshängigkeit der
Forderung verlangen. Insoweit genügt auch eine Klage auf Feststellung eines der Höhe
nach bestimmten Erstattungsanspruchs. Die Höhe seines Begehrens hat der Kläger mit
Schriftsatz vom 11. Februar 2003 und den beigefügten Kontoauszügen beziffert. Der
Grundsatz, dass für öffentlich-rechtliche Geldforderungen Prozesszinsen unter
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sinngemäßer Anwendung des § 291 BGB zu entrichten sind, wenn das jeweilige
Fachrecht keine gegenteilige Regelung trifft, gilt auch für Erstattungsansprüche
zwischen Jugend- und Sozialhilfeträgern. Nach §§ 288 Abs. 1, 291 Satz 2 BGB in der
vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Beschleunigung fälliger Zahlungen vom 30. März
2000 (BGBl. I S. 330) geltenden Fassung betrug der Zinssatz 4 %. Seither (ab 1. Mai
2000) liegt der Zinssatz 5 Prozentpunkte über dem Basiszinssatz nach § 1 des
Diskontsatz-Überleitungs- Gesetzes vom 9. Juni 1998 (BGBl.I S. 1242). Dem Kläger
stehen daher die geltend gemachten Zinsen entsprechend der Tenorierung zu.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2, 194 Abs. 5 VwGO n.F.,
188 Satz 2 VwGO a.F.. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht
auf §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO).
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