Urteil des VG Köln vom 02.12.2008
VG Köln: gegen die guten sitten, treu und glauben, neues beweismittel, kläranlage, ermessen, klagebefugnis, entsorgung, grundstück, rechtssicherheit, rechtswidrigkeit
Verwaltungsgericht Köln, 14 K 65/07
Datum:
02.12.2008
Gericht:
Verwaltungsgericht Köln
Spruchkörper:
14. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
14 K 65/07
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Kläger als Gesamtschuldner.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger
dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 %
des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn
nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 %
des zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand:
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Die Kläger sind seit Ende des Jahres 2000 als Erben des verstorbenen Herrn X. T.
Eigentümer des im Außenbereich der Stadt Leichlingen gelegenen, mit einem
Wohnhaus bebauten Grundstücks A. 0. Das Grundstück ist nicht an den öffentlichen
Schmutzwasserkanal der Stadt Leichlingen angeschlossen. Die Kläger betreiben auf
ihrem Grundstück eine dezentrale Entwässerungseinrichtung, deren rechtliche
Einordnung - als Kleinkläranlage oder als abflusslose Grube - bis zum Jahr 2005 unter
den Beteiligten streitig war. Für die Entsorgung des in der dezentralen
Entwässerungseinrichtung anfallenden Abwassers bzw. Fäkalschlamms berechnete der
Beklagte seit dem Jahre 2005 Benutzungsgebühren auf der Grundlage des für
Kleinkläranlagen geltenden Maßstabs der Menge des abgefahrenen Anlageninhaltes
gem. § 10 Abs. 8 u. 9 Gebührensatzung vom 21.12.2000 i.d.F. der 3. Änderungssatzung,
die zum 01.01.2003 in Kraft trat. Die bis zum 31.12.2002 geltende Gebührensatzung sah
für die Einleitung des Schmutzwassers in den Schmutzwasserkanal und für die
Entsorgung von dezentralen Entwässerungsanlagen eine einheitliche nach dem
Frischwasserverbrauch bemessene Benutzungsgebühr vor und zwar ohne Rücksicht
darauf, ob das Schmutzwasser aus abflusslosen Gruben abgefahren wurde oder ob die
Grundstücksentwässerung in einer Kleinkläranlage erfolgte. Der gesonderte
Gebührenmaßstab des abgefahrenen Anlageninhalts wurde erst mit der zum
01.01.2003 in Kraft getretenen 3. Änderungssatzung der Gebührensatzung eingeführt.
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Mit Bescheiden vom 10.01.2003, 09.01.2004 und 14.01.2005 zogen die Stadtwerke
Leichlingen im Namen und im Auftrag des Beklagten die Klägerin zu 1) für die Jahre
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2002 bis 2004 auf der Grundlage des Frischwassermaßstabs zu
Schmutzwassergebühren in Höhe von 703,80 EUR (2002), 652,08 EUR (2003) und
797,94 EUR (2004) heran.
Mit Bescheid vom 18.03.2004 zog der Beklagte die „die Familie T. „ zunächst zu einer
Kleinkläranlagengebühr auf der Grundlage des abgefahrenen Anlageninhalts heran.
Diesen Bescheid hob der Beklagte mit Bescheid vom 17.11.2004 auf Widerspruch der
Klägerin zu 1) auf, weil es sich bei der Entwässerungsanlage der Kläger nach der
damaligen Auffassung des Beklagten nicht um eine Kleinkläranlage, sondern um eine
abflusslose Grube handelte.
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Mit Bescheid vom 18.01.2006 zogen die Stadtwerke Leichlingen im Namen des
Beklagten die Klägerin zu 1) zunächst für das Jahr 2005 zu Schmutzwassergebühren in
Höhe von 792,22 EUR auf der Grundlage des Frischwassermaßstabs heran. Diesen
Bescheid hoben die Stadtwerke Leichlingen im Namen des Beklagten mit Bescheid
vom 04.04.2006 auf. Stattdessen zog der Beklagte den Kläger zu 2) für das Jahr 2005
mit Bescheiden vom 29.09.2005 und 22.02.2006 zu Kleinkläranlagengebühren auf der
Grundlage des Maßstabs des abgefahrenen Anlageninhalts in Höhe von 617,69 EUR
und 341,36 EUR heran.
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Unter dem 04.07.2006 beantragten die Kläger, das Verfahren zur Festsetzung der
Abwassergebühren für den Zeitraum vom 01.01.1976 bis zum 02.01.2005 gem. § 51
Abs. 1 Nr. 2 VwVfG NRW wiederaufzugreifen und die für diesen Zeitraum ergangenen
Abwassergebührenbescheide auf 0 EUR festzusetzen. Zur Begründung führten sie aus,
dass sie erst nach mehreren Ortsterminen mit Vertretern des Beklagten und der Unteren
Wasserbehörde hätten nachweisen können, dass ihre Entwässerungsanlage über eine
nachgeschaltete Untergrundverrieselung verfüge und deshalb als Kleinkläranlage zu
qualifizieren sei. Mit Bescheid vom 04.04.2006 hätten die Stadtwerke Leichlingen im
Namen des Beklagten die für 2005 erhobenen Entwässerungsgebühren aufgehoben
und auch die für 2006 festgesetzten Abschläge abgesetzt. Dies habe auch für die
vorhergehenden Jahre zu geschehen. Das Schreiben vom 04.04.2006 sei ein neues
Beweismittel i.S.v. § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG NRW. Sie - die Kläger - hätten erstmals
durch dieses Schreiben erfahren, dass aufgrund der von ihnen betriebenen
Kleinklärgrube ein Rechtsgrund für die Erhebung kommunaler Entwässerungsgebühren
nicht bestehe.
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Den Antrag der Kläger lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 19.07.2006 ab. Zur
Begründung führte er aus, dass § 51 VwVfG NRW nicht einschlägig sei. Nach § 12 Abs.
1 Nr. 3 b KAG NRW finde die Regelung des § 130 Abs. 1 AO Anwendung. Eine
Rücknahme bestandskräftiger Abgabenbescheide sei gem. § 12 Abs. 1 Nr. 4 b i.V.m. §
169 AO nicht mehr zulässig, wenn die vierjährige Festsetzungsfrist verstrichen sei.
Selbst wenn die nach dem 01.01.2001 ergangenen Gebührenbescheide rechtswidrig
gewesen sein sollten, stehe deren Aufhebung in seinem Ermessen. Bei
Kommunalabgaben sei den Grundsätzen Haushalts- und Rechtssicherheit der Vorrang
einzuräumen.
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Mit ihrem Widerspruch vom 18.08.2006 machten die Kläger im Wesentlichen geltend,
dass die bestandskräftigen Gebührenbescheide wegen Zugrundelegung eines
fehlerhaften Gebührenmaßstabs rechtswidrig seien. Nach der Rechtsprechung des
OVG Koblenz dürften Eigentümer von Grundstücken mit Kleinkläranlagen nicht auf der
Grundlage des Frischwassermaßstabs zu Entsorgungsgebühren herangezogen
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werden. Die Berufung auf die Unanfechtbarkeit der Gebührenbescheid verstoße
vorliegend gegen die guten Sitten und den Grundsatz von Treu und Glauben. Der
Beklagte habe mangels Vorhandensein einer Kanalisation keine Gegenleistung für die
vereinnahmten Gebühren erbracht.
Den Widerspruch der Kläger wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom
06.12.2006 mit der Begründung zurück, dass die Aufhebung bestandskräftiger
Bescheide in seinem Ermessen stehe. Er habe bedacht, dass die bestandskräftigen
Bescheid rechtswidrig seien. Der Grundsatz der Rechtssicherheit spreche aber dafür, an
den bestandskräftigen Verwaltungsakten festzuhalten. Dies gelte namentlich im
Abgabenrecht, weil sich eine Gemeinde aus Gründen der Haushaltssicherheit darauf
verlassen können müsse, dass sie vereinnahmte Abgaben auch auf Dauer behalten
dürfe. Im Übrigen habe der Grund für die Rechtswidrigkeit der ursprünglichen Bescheide
- der fehlende Anschluss an die Kanalisation bzw. die Beseitigung der Abwässer über
eine Grundstücksentwässerungsanlage - von Anfang an bestanden und hätte vom
Erblasser der Kläger und später von den Klägern selbst durch Erhebung von
Rechtsmitteln gegen die Gebührenbescheide geltend gemacht werden können.
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Die Kläger haben am 06.01.2007 Klage erhoben. Ihrer Auffassung nach ist die Klage
des Klägers zu 2) nicht mangels Klagebefugnis unzulässig. Ob die bestandskräftigen
Bescheide tatsächlich nur an die Klägerin zu 1) gerichtet gewesen seien, entziehe sich
ihrer Kenntnis. Die Klagebefugnis beider Kläger ergebe sich bereits daraus, dass beide
Kläger als Eigentümer des Grundstücks gebührenpflichtig seien. Im Übrigen habe der
Beklagte die ursprünglichen Bescheide noch mit Schriftsatz vom 15.02.2007 mit den
Worten „überreichen wir wunschgemäß die an die Erbengemeinschaft T. ergangenen
Gebührenbescheide" an die Kläger übersandt. Damit habe er zum Ausdruck gebracht,
dass beide Kläger Adressaten der bestandskräftigen Gebührenbescheide seien. Das
nach § 130 Abs. 1 AO bestehende Ermessen habe sich in ihrem Fall dahingehend
verdichtet, dass der Beklagte zur Aufhebung der bestandskräftigen Gebührenbescheide
verpflichtet sei. Die rechtswidrige Erhebung von Abwassergebühren über einen
Zeitraum von mehr als 3 Jahrzehnten stelle einen offensichtlichen und schweren
Rechtsverstoß dar. Abwassergebühren nach dem KAG NRW dürften nicht ohne
Gegenleistung erhoben werden. Die Rechtswidrigkeit der Gebührenerhebung folge
nicht nur daraus, dass kein Anschluss an den öffentlichen Kanal vorhanden gewesen
sei. Der Beklagte sei darüber hinaus auch fehlerhaft davon ausgegangen, dass es sich
bei ihrer Kleinkläranlage um eine abflusslose Grube gehandelt habe. Auch ihnen - den
Klägern - sei bis zum Jahre 2003 nicht bekannt gewesen, dass eine
Untergrundverrieselung vorhanden gewesen sei. Erst im Juni 2005 hätten sie das
Rieselrohrnetz ihrer Kleinkläranlage gefunden und freigelegt. Bei ihrer Kleinkläranlage
sei aufgrund der Verrieselung des gereinigten Abwassers nur der Klärschlamm und
nicht das Abwasser in der Kläranlage entsorgt worden. Die vom Beklagten mit den
bestandskräftigen Bescheiden festgesetzten Gebühren seien satzungsgemäß - ebenso
wie bei an den Kanal angeschlossenen Grundstücken - nach dem Frischwasserbezug
berechnet worden und zwar unabhängig davon, ob überhaupt Schmutzwasser in dieser
Menge angefallen und durch Abfahren zur Kläranlage entsorgt worden sei. Für
Kleinkläranlagen sehe § 10 Nr. 1, 2 der Gebührensatzung in der ab 2007 geltenden
Fassung den abgefahrenen Anlageninhalt als Gebührenmaßstab vor. Die
Rechtswidrigkeit der bestandskräftigen Gebührenbescheide habe sich dem Beklagten
aufdrängen müssen. Ihm sei bekannt gewesen, dass ihr Grundstück nicht an den Kanal
angeschlossen sei. Gleichwohl habe er den turnusmäßig entsorgten Klärschlamm
zutreffend nach tatsächlicher Menge gebührenrechtlich erfasst und die
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Schmutzwassermenge rechtswidrig nach dem Frischwassermaßstab. Da der Beklagte
beide Abgabenbescheide erstellt habe, hätte sich ihm die Rechtswidrigkeit der
Gebührenerhebung aufdrängen müssen. Es hätten nicht beide Abgaben parallel
erhoben werden dürfen.
Die Kläger beantragen,
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den Beklagten unter entsprechender Änderung des ablehnenden Bescheides vom
19.07.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.12.2006 zu
verpflichten, für den Zeitraum vom 01.01.2002 bis zum 02.01.2005 das Verfahren
wiederaufzugreifen und die entsprechenden Festsetzungsbescheide für
Abwassergebühren aufzuheben.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Seiner Auffassung nach ist die Klage des Klägers zu 2) mangels Klagebefugnis
unzulässig, weil Adressatin der im streitigen Zeitraum ergangenen bestandskräftigen
Gebührenbescheide nur die Klägerin zu 1) sei. Die Klage sei jedenfalls unbegründet.
Die Vorschrift des § 51 VwVfG NRW finde auf die hier vorliegenden Kommunalabgaben
keine Anwendung. Ungeachtet dessen hätten die Kläger die Dreimonatsfrist des § 51
Abs. 3 VwVfG versäumt, weil sie nach eigenen Angaben bereits im Juni 2005 Kenntnis
davon gehabt hätten, dass es sich bei ihrer Entwässerungsanlage nicht um eine
abflusslose Grube, sondern um eine Kleinkläranlage handele. Die Kläger hätten keinen
Anspruch auf Aufhebung der bestandskräftigen Gebührenbescheide. Er - der Beklagte -
habe den Antrag auf Aufhebung der Bescheide ermessensfehlerfrei abgelehnt. In
seinem ablehnenden Bescheid und im Widerspruchsbescheid habe er die Grundsätze
der Rechtssicherheit und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung fehlerfrei miteinander
abgewogen.
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Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
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Die Klage hat insgesamt keinen Erfolg.
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Die Klage des Klägers zu 2) ist unzulässig. Er besitzt nicht die für die vorliegende
Verpflichtungsklage erforderliche Klagebefugnis gem. § 42 Abs. 2 VwGO. Die
Aufhebung bestandskräftiger belastender Verwaltungsakte kann nur der durch sie
belastete Adressat verlangen. Der Kläger zu 2) ist durch die im streitigen Zeitraum
ergangenen Gebührenbescheide nicht belastet. Ausweislich der vom Beklagten mit
Schriftsatz vom 26.11.2008 überreichten Duplikate der Gebührenbescheide vom
10.01.2003, 09.01.2004 und 14.01.2005 waren die genannten Bescheide nicht an ihn,
sondern allein an die Klägerin zu 1) gerichtet. Soweit die Kläger darauf verweisen, dass
dass der Beklagte ihnen die Bescheide später mit Schriftsatz vom 15.02.2007 mit der
Formulierung übersandt habe, dass er „die an Erbengemeinschaft T. ergangenen
Bescheide" überreiche, ändert dies nichts daran, dass die Klägerin zu 1) alleinige
Adressatin der Bescheide ist. In der Übersendung der Bescheide mit Schriftsatz vom
15.02.2007 ist keine erneute Bekanntgabe der Bescheide zu erblicken. Sie erfolgte nicht
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mit Bekanntgabewillen des Beklagten, sondern erkennbar allein zu
Informationszwecken für das vorliegende Verfahren.
Die bereits unzulässige Klage des Klägers zu 2) ist jedenfalls wie die Klage der
Klägerin zu 1) unbegründet. Der Bescheid des Beklagten vom 19.07.2006 in der
Fassung des Widerspruchsbescheides vom 06.12.2006 ist rechtmäßig und verletzt die
Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO). Die Kläger haben keinen Anspruch
auf Aufhebung der für die A. vom 01.01.2002 bis zum 02.01.2005 ergangenen
Gebührenbescheide vom 10.01.2003, 09.01.2004 und 14.01.2005. Ein solcher
Anspruch ergibt sich nicht unmittelbar aus der Bestimmung des § 51 Abs. 1 VwVfG
NRW über das Wiederaufgreifen abgeschlossener Verwaltungsverfahren. Vorschriften
des VwVfG NRW finden gem. § 2 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG NRW auf das vorliegende
kommunalabgabenrechtliche Verfahren unmittelbar keine Anwendung. Nach § 2 Abs. 2
Nr. 1 VwVfG NRW gilt das VwVfG NRW nicht für Verfahren, in denen Rechtsvorschriften
der Abgabenordnung - AO - anzuwenden sind. Dies ist bei den hier in Rede stehenden
Benutzungsgebühren gem. § 12 des Kommunalabgabengesetzes - KAG NRW - der
Fall.
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Auch ein in der älteren Rechtsprechung des OVG NRW anerkannter Anspruch auf
Wiederaufgreifen eines abgeschlossenen abgabenrechtlichen Verwaltungsverfahrens
nach den in § 51 VwVfG NRW zum Ausdruck kommenden Rechtsgrundsätzen,
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vgl. OVG NRW, Urteil vom 22.05.1980 - 3 A 2378/79 -, KStG 1980, 239; Beschluss vom
31.10.1983 - 2 B 1943/83 -, KStG 1984, 79; Urteil vom 26.10.1987 -2 A 2738/84 -, ZKF
1989, 34,
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besteht im vorliegenden Fall nicht. Die den bestandskräftig gewordenen
Gebührenbescheiden zu Grunde liegende Sach- und Rechtslage hat sich nicht, wie
nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG NRW erforderlich, nachträglich geändert. Der Vortrag der
Kläger, dass ihnen bis zum Jahre 2003 das Vorhandensein einer
Untergrundverrieselung nicht bekannt gewesen sei und dass sie erst im Juni 2005 das
Rieselrohrnetz ihrer Kleinkläranlage gefunden und freigelegt hätten, bedeutet keine
nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage. Eine nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG
NRW erhebliche Änderung muss die tatsächlichen oder rechtlichen Gegebenheiten
wirklich erfassen. Es reicht nicht aus, dass dem Betroffenen - wie hier - eine bereits vor
Erlass des bestandskräftigen Verwaltungsaktes gegebene Sach- und Rechtslage erst
nachträglich bekannt oder die Behörde dieselben tatsächlichen Verhältnisse später
anders beurteilt,
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Sachs, in: Stelkens/Bonk, VwVfG, 6. Aufl. 2001, § 51 Rn. 92.
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Selbst wenn man die subjektive Kenntnis der Kläger von den tatsächlichen
Gegebenheiten ihrer Entwässerungsanlage als nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG NRW
erhebliche Änderung der Sachlage ansähe, hätten die Kläger die nach § 51 Abs. 3
VwVfG NRW vorgesehene 3-Monatsfrist versäumt. Ihnen war bereits seit der im Juni
2005 erfolgten Freilegung der Untergrundverrieselung bekannt, dass ihre
Entwässerungsanlage als Kleinkläranlage einzuordnen war. Den
Wiederaufgreifensantrag haben sie erst mehr als ein Jahr später am 04.07.2006 gestellt.
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Einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens können die Kläger auf § 51 Abs. 1
Nr. 2 VwVfG NRW ebenfalls nicht stützen. Insbesondere der Bescheid vom 04.04.2006,
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mit dem die zunächst auf der Grundlage des Frischwassermaßstabs für das Jahr 2005
erhobenen Benutzungsgebühren aufgehoben wurden, ist kein neues Beweismittel im
Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG NRW. Beweismittel ist jedes Erkenntnismittel, das
die Überzeugung von der Existenz oder von der Nichtexistenz von Tatsachen
begründen kann. Der Aufhebungsbescheid vom 04.04.2006 ist nicht geeignet, die
Existenz oder die Nichtexistenz von Tatsachen zu belegen; mit ihm bringt der Beklagte
lediglich seine geänderte gebührenrechtliche Bewertung der Abwasseranlage der
Kläger zum Ausdruck. Soweit die Kläger meinen, der Aufhebungsbescheid vom
04.04.2006 sei ein neues Beweismittel dafür, dass beim Betrieb von Kleinkläranlagen
Abwassergebühren nicht erhoben werden dürften, verkennen sie, dass auch beim
Betrieb von Kleinkläranlagen Gebühren (sog. Verschmutzerbeitrag C) erhoben werden,
mit denen die Reinigung des Fäkalschlamms in der öffentlichen Kläranlage abgegolten
wird. Die Gebühren werden seit Inkrafttreten der 3. Änderungssatzung zur
Gebührensatzung vom 22.12.2000 am 01.01.2003 nach unterschiedlichen
Gebührenmaßstäben für abflusslose Gruben (Frischwassermaßstab) und
Kleinkläranlagen (abgefahrener Anlageninhalt) berechnet. Die Kläger können einen
Anspruch auf Aufhebung der bestandskräftigen Gebührenbescheide auch nicht mit
Erfolg auf § 130 Abs. 1 AO stützen, der gem. § 12 Abs. 1 Nr. 3 b KAG NRW auf
Kommunalabgaben entsprechend anzuwenden ist. Nach § 130 Abs. 1 AO kann ein
rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder
teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen
werden. Dem Beklagten steht nach dieser Vorschrift bei der Entscheidung, ob er einen
rechtswidrigen, aber bestandskräftig gewordenen Heranziehungsbescheid
zurücknimmt, Ermessen zu. Bei der Ausübung dieses Ermessens ist das Prinzip der
materiellen Gerechtigkeit gegenüber dem Prinzip der Rechtssicherheit abzuwägen. Nur
in Ausnahmefällen - etwa wenn die Aufrechterhaltung der Gebührenfestsetzung
schlechthin unerträglich wäre oder Umstände ersichtlich wären, die die Berufung der
Behörde auf die Unanfechtbarkeit der Gebührenbescheide als einen Verstoß gegen die
guten Sitten oder Treu und Glauben erscheinen ließe - verdichtet sich das
Rücknahmeermessen zu einer Pflicht zur Aufhebung der bestandskräftigen
Gebührenfestsetzung,
vgl. OVG NRW, Urteil vom 27.10.1992 - 9 A 3049/91 -, UA S. 8 f.
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Hiervon ausgehend ist die von des Beklagten getroffene Ermessensentscheidung nicht
zu beanstanden. Bei der im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 130 Abs. 1
AO vorzunehmenden Abwägung hat der Beklagte ermessensfehlerfrei maßgeblich auf
einen Vorrang des Finanzierungszwecks der Gebühr abgestellt. Die
Gebühreneinnahmen für die Entsorgung von Kleinkläranlagen und abflusslosen Gruben
dienen wie die übrigen Abwassergebühren dem Zweck, die Kosten des Beklagten bei
der Abwasserbeseitigung zu decken. Danach entsteht bei der Rückzahlung von
Gebühren grundsätzlich eine Deckungslücke im Gebührenhaushalt, die aus
allgemeinen Haushaltsmitteln geschlossen werden müsste. Es ist deshalb ein Bedürfnis
des Beklagten anzuerkennen, sich nach Eintritt der Bestandskraft der
Gebührenbescheide darauf verlassen zu können, dass es zu keinen Rückzahlungen
kommt und die Haushaltslage ausgeglichen ist.
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Umstände, die die Berufung des Beklagten auf die Unanfechtbarkeit der
Gebührenbescheide als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder Treu und Glauben
erscheinen ließe, sind nicht ersichtlich. Den Klägern war es zumutbar, die Richtigkeit
der Gebührenerhebung mittels eines Widerspruchs gegen die für die Zeit vom
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01.01.2002 bis 02.01.2005 ergangenen Gebührenbescheide überprüfen zu lassen.
Anhand der bestandskräftigen Gebührenbescheide war für sie erkennbar, dass die
Gebühren nach dem für abflusslose Gruben geltenden Frischwassermaßstab berechnet
wurden. Sofern die Kläger die Berechnung der Gebühr nach dem Frischwassermaßstab
in ihrem Fall deshalb für fehlerhaft hielten, weil es sich bei ihrer Entwässerungsanlage
nicht um eine abflusslose Grube, sondern um eine Kleinkläranlage handelt, waren sie
gehalten, diesen in ihrer Sphäre liegenden Umstand zur Begründung ihres
Rechtsmittels selbst zu ermitteln und ggfls. durch Vorlage einer für die
Untergrundverrieselung erforderlichen wasserrechtlichen Erlaubnis zu belegen. Soweit
die Kläger meinen, das Festhalten an den Gebührenbescheiden erweise sich deshalb
als unerträglich, weil Benutzungsgebühren nach dem KAG NRW nicht ohne
Gegenleistung erhoben werden, verkennen sie, dass sie mit der Reinigung des auf
ihrem Grundstück angefallenen Fäkalschlamms bzw. Fäkalabwassers in der
öffentlichen Kläranlage Gegenleistungen des Beklagten in Anspruch genommen haben.
Ungeachtet der Einordnung der Entwässerungsanlage der Kläger als abflusslose Grube
oder als Kleinkläranlage erweist sich die für die Entsorgung von abflusslosen Gruben
nach dem Frischwassermaßstab berechnete Entsorgungsgebühr zwar auch deshalb als
rechtswidrig, weil sie - anders als die von den Nutzern des öffentlichen
Schmutzwasserkanals erhobenen Schmutzwassergebühren - nur die Aufwendungen für
die Reinigung des Abwassers, nicht aber die Kosten für den Transport des
Fäkalabwassers zur öffentlichen Kläranlage abdeckte. Nach den Angaben des
Vertreters des Beklagten in der mündlichen Verhandlung mussten Betreiber von
abflusslosen Gruben bis zum 31.12.2007 zusätzlich für den Transport des
Fäkalabwassers zur öffentlichen Kläranlage ein privates Entgelt an das
Abfuhrunternehmen zahlen. Aber auch diesen Rechtswidrigkeitsgrund hätten die Kläger
mit einem Widerspruch gegen die Gebührenbescheide geltend machen können.
Aufgrund der Zahlung des zusätzlichen Entgeltes an das private Abfuhrunternehmen
war für sie erkennbar, dass der Transport des Abwassers zur Kläranlage für sie - im
Gegensatz zu den an den Schmutzwasserkanal angeschlossenen
Grundstückseigentümern - nicht mit der vom Beklagten erhobenen Entsorgungsgebühr
abgegolten war.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 2 VwGO. Die Entscheidung
zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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