Urteil des VG Köln vom 10.06.2005
VG Köln: genfer flüchtlingskonvention, irak, politische verfolgung, widerruf, bundesamt für migration, regierung, zeitung, anerkennung, sicherheit, flüchtlingseigenschaft
Verwaltungsgericht Köln, 18 K 4670/04.A
Datum:
10.06.2005
Gericht:
Verwaltungsgericht Köln
Spruchkörper:
18. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
18 K 4670/04.A
Tenor:
Der Bescheid vom 15.06.2004 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten
nicht erho- ben werden.
T a t b e s t a n d
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Der am 00.00.0000 in Bagdad geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger
arabischer Volkszugehörigkeit und schiitischer Religionszugehörigkeit.
2
Am 09.01.2002 beantragte der Kläger seine Anerkennung als Asylberechtigter.
Anlässlich der Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge erklärte er zu den Gründen seiner Ausreise, er sei bereits von Mai 1998 bis
Januar 1999 in Haft gewesen; damals habe man ihn anstelle seines Bruders
festgenommen. Im Juli 2001 sei er während der Teilnahme an der Beerdigung eines
moslemischen Scheichs erneut festgenommen worden unter dem Vorwurf der Auf-
wiegelung. 15 Tage lang habe man ihn im Sicherheitssamt von L. verhört, ge- schlagen
und misshandelt. Anschließend sei er 4 Monate im Gefängnis gewesen. Nach seiner
Freilassung im November 2001 habe er - zum wiederholten Male - Streit mit einem
Parteiangehörigen gehabt. Danach habe er sich in Sicherheit gebracht und sei
geflohen.
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Mit Bescheid vom 05.02.2002 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung aus-
ländischer Flüchtlinge (seit dem 01.01.2005 Bundesamt für Migration und Flüchtlin- ge,
im folgenden Bundesamt) den Asylantrag des Klägers wegen der Einreise auf dem
Landweg ab und stellte zugleich fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG
hinsichtlich des Irak vorliegen. Die Feststellung hinsichtlich der Voraus- setzungen des
§ 51 AuslG wurde am 01.03.2002 bestandskräftig.
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Am 21.04.2004 leitete das Bundesamt ein Widerrufsverfahren nach § 73 Abs. 1 S. 1
AsylVfG mit der Begründung ein, die Voraussetzungen für die Anerkennungs-
entscheidung lägen nicht mehr vor. Nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hus-
sein sei eine nachträgliche Änderung der Verhältnisse im Heimatland eingetreten. Der
Kläger wurde hierzu mit Schreiben vom 28.04.2004 angehört.
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Mit Bescheid vom 15.06.2004 widerrief das Bundesamt die mit Bescheid vom
05.02.2002 getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1
Ausländergesetz vorliegen. Zugleich wurde festgestellt, dass Abschiebungshindernisse
nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Zur Begründung wurde im wesentlichen ausgeführt,
der Kläger habe nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein nicht mehr mit
asylrelevanter Verfolgung zu rechnen. Es seien keine Anhaltspunkte dafür erkennbar,
dass von der alliierten Übergangsregierung (Coalition Provisional Authority - CPA)
politische Verfolgung ausgehe. Die Sicherheitslage im Irak sei im übrigen nicht derart
schlecht, dass der Kläger "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder
schwersten Verletzungen ausgeliefert würde". Die Versorgung der Bevölkerung mit
Nahrungsmitteln sei ebenso ausreichend wie die medizinische Versorgung.
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Am 23.06.2004 hat der Kläger die vorliegende Klage erhoben. Zur Begründung führt er
aus, dass eine gesicherte Prognose für den Irak nicht aufgestellt werden könne, so dass
auch eine Aussage über den Wegfall der Verfolgungsgefährdung für den Kläger nicht
getroffen werden könne. Die Situation des Klägers sei darüber hinaus besonders
gefährlich, da er dem Anhängerkreis von El Sadr zugerechnet werde und daher massive
Fahndungsmaßnahmen zu befürchten habe.
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Der Kläger beantragt,
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den Widerrufsbescheid vom 15.06.2004 aufzuheben.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
11
Sie bezieht sich zur Begründung auf den Inhalt des angefochtenen Bescheides.
12
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug
genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e Die Klage ist zulässig und begründet. Der Widerruf der
Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Auslän- dergesetz (AuslG
1990) vorliegen, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in eigenen Rechten (§ 113 Abs.
1 S. 1 VwGO). Rechtsgrundlage des Widerrufsbescheides des Bundesamtes vom
15.06.2004 ist § 73 Abs. 1 S. 1 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG 2005) in der seit dem
Inkrafttreten des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur
Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern vom
30.07.2004 (Zuwanderungsgesetz) zum 01.01.2005 geltenden Fassung. § 73 AsylVfG
2005 ist gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG bei der vorliegenden Entscheidung anzuwenden;
eine Übergangsregelung hat der Gesetzgeber nicht geschaffen, vgl. BVerwG, Urteil vom
08.02.2005 - 1 C 29.03 - zitiert nach Juris. Mit Inkrafttreten von Art. 1 des
Zuwanderungsgesetzes am 01.01.2005 ist das Gesetz über den Aufenthalt, die
Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet
(Aufenthaltsgesetz - AufenthG -) in Geltung gesetzt worden; das bisherige
Ausländergesetz vom 09.07.1990 ist gleichzeitig außer Kraft getreten. Verbote der
Abschiebung politisch Verfolgter werden nunmehr in § 60 Abs. 1 AufenthG,
Abschiebungshindernisse in § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG geregelt. Die vorübergehende
Aussetzung der Abschiebung (Duldung) findet sich in § 60a AufenthG.
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Übergangsvorschriften für anhängige verwaltungsgerichtliche Verfahren enthält das
Zuwanderungsgesetz nicht, so dass es mit Inkrafttreten in diesen Verfahren
anzuwenden ist, vgl. BVerwG, Urteil vom 08.02.2005 - 1 C 29.03 - a.a.O. Bei der
Anwendung des § 73 AsylVfG in der durch das Zuwanderungsgesetz geänderten
Fassung ist ebenso die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über
Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder
Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz
benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie)
zu berücksichtigen, die am 30.09.2004 im Amtsblatt der Europäischen Union
veröffentlicht und nach ihrem Art. 39 am zwanzigsten Tag nach der Veröffentlichung in
Kraft getreten ist. Die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen
Widerrufsbescheides maßgebliche Rechtslage hat sich demnach gegenüber der noch
der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zu Widerrufsbescheiden betreffend
irakische Flüchtlinge, vgl. BVerwG, Urteil vom 25.08.2004 - 1 C 22/03 - NVwZ 2005, 89-
90, zugrundeliegenden Rechtslage entscheidungserheblich verändert. Gemäß § 73
Abs. 1 S. 1 AsylVfG 2005 sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die
Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen,
unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.
Aufgrund dieser Vorschrift kann auch die Feststellung widerrufen werden, dass die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 vorliegen, obwohl diese Vorschrift am
01.01.2005 außer Kraft getreten ist, vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 10.03.2005 - A 2 K
12193/03 - zitiert nach Juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 17.01.2005 - 4 K 553/04.A -
zitiert nach Juris. Denn eine vor dem 01.01.2005 getroffene Feststellung der
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 bleibt trotz der Rechtsänderung als
Verwaltungsakt wirksam. Sie ist nach dem 01.01.2005 als Feststellung der
Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG 2004 zu behandeln. Dies entspricht dem
Willen des Gesetzgebers, wonach es sich bei den in den §§ 73, 31, 42 AsylVfG 2005
vorgenommenen Änderungen betreffend §§ 51 Abs. 1 und 53 AuslG 1990 lediglich um
redaktionelle Änderungen handelt, die zur Anpassung an das Aufenthaltsgesetz
erforderlich waren (vgl. Begründung des Gesetzentwurfes, BT-Drucksache 15/420 vom
07.02.2003, S. 110 ff.). Inhaltlich werden die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG
1990 jedenfalls von § 60 Abs. 1 AufenthG 2004 mitumfasst. Davon unberührt bleibt,
dass für einen Widerruf auf der Grundlage des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG 2005 neben
dem nachträglichen Wegfall der für die Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs.
1 AuslG 1990 maßgeblichen Umstände zusätzlich erforderlich ist, dass zum
entscheidungserheblichen Zeitpunkt auch die Voraussetzungen des mit einem weiteren
Anwendungsbereich versehenen § 60 Abs. 1 AufenthG 2004 nicht vorliegen.
Voraussetzung für einen Widerruf der Anerkennung als politischer Flüchtling nach § 73
Abs. 1 S. 1 AsylVfG 2005 ist, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung nicht mehr
vorliegen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Gefahr politischer Verfolgung
im Herkunftsstaat nicht mehr besteht, sich also die zum Zeitpunkt der Anerkennung
maßgeblichen Verhältnisse nachträglich entscheidungserheblich verändert haben. Die
Vorschrift ist auch anwendbar, wenn die Asylanerkennung oder die Gewährung von
Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG 1990 von Anfang an rechtswidrig war,
vgl. BVerwG, Urteil vom 25.08.2004 - 1 C 22/03 - NVwZ 2005, 89 f; BVerwG, Urteil vom
19.09.2000 - 9 C 12/00 - BVerwGE 112, 80-92; BVerwG, Beschluss vom 27.06.1997 - 9
B 280/97 - NVwZ-RR 1997, 741-742. Bei der Beurteilung der Frage, ob die Gefahr
politischer Verfolgung im Herkunftsstaat nicht mehr besteht, ist ein strenger
Prognosemaßstab anzulegen. Grundsätzlich ist daher der Widerrufstatbestand nur
erfüllt, wenn eine Wiederholung der Verfolgungsmaßnahmen wegen zwischenzeitlicher
15
Veränderungen im Verfolgerstaat mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden
kann. Ob etwas anderes gilt, wenn für die Zukunft befürchtete Verfolgungsmaßnahmen
keinerlei Verknüpfung mehr mit den früheren aufweisen, die zur Anerkennung geführt
haben, ist nicht abschließend geklärt, vgl. BVerwG, Beschluss vom 27.06.1997 - 9 B
280/97 - a.a.O.; BVerwG, Urteil vom 24.11.1992 - 9 C 3/92 - Buchholz 402.25 § 73
AsylVfG 1992 Nr. 1; BVerwG, Urteil vom 24.07.1990 - 9 C 78/89 - BVerwGE 85, 266-
273; OVG Lüneburg, Urteil vom 29.02.1988 - 11 OVG A 10/87 - . Wann eine
entscheidungserhebliche Veränderung der politischen Verhältnisse im Herkunftsstaat
angenommen werden kann, ist in Übereinstimmung mit der sogenannten Wegfall-der-
Umstände-Klausel in Artikel 1 C (5) des Abkommens über die Rechtsstellung der
Flüchtlinge vom 28.07.1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK) zu beurteilen, die
nunmehr wörtlich von Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) der Qualifikationsrichtlinie übernommen
worden ist. Hierfür kommt es nicht darauf an, ob die Genfer Flüchtlingskonvention den
Widerruf der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG 2005 im
engeren Sinne regelt, vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 26.07.2004 - 1 L
270/04 - Asylmagazin 10/2004, S. 36; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 16.03.2004 - A 6
S 219/04 - NVwZ-RR 2004, 790-791; OVG NRW, Urteil vom 04.12.2003 - 8 A 3766/03.A
- NVwZ 2004, 757-758; VG Göttingen, Urteil vom 26.04.2005 - 2 A 222/04 - zitiert nach
Juris.
Insoweit geht auch die Kammer davon aus, dass die Genfer Flüchtlingskonvention eine
konkrete Regelung über den Widerruf und insbesondere über das Verfahren, in dem ein
solcher Widerruf der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt, nicht trifft. Ungeachtet
dessen aber kann nicht zweifelhaft sein, dass der materielle Gehalt des Art. 1 C (5) GFK
bei der Auslegung des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG 2005 zu berücksichtigen ist und es sich
hier nicht nur - wie verschiedentlich angenommen - vgl. VG Ansbach, Urteil vom
25.01.2005 - AN 4 K 04.31781 - zitiert nach Juris, um ein politisches Ziel handelt. Auch
ohne Rückgriff auf das Übernahmegesetz vom 01.09.1953 (BGBl. II 19/1953, S. 559 ff)
und den grundsätzlich völkerrechtsfreundlichen Charakter des Grundgesetzes, vgl.
Michael Ton, Bedeutung von Art. 1 C (5) der GFK im Widerrufsverfahren nach § 73
Asylverfahrensgesetz, Asylmagazin 10/2004, S. 36, ergibt sich bereits aus den
Gesetzesmaterialien bei der Schaffung des § 11 Abs. 1 AsylVfG 1982, der insoweit im
wesentlichen gleichlautenden Vorgängervorschrift des heutigen § 73 Abs. 1 S. 1
AsylVfG 2005, dass Art. 1 C (5) GFK zur Auslegung der materiellen
Widerrufsvoraussetzungen nach deutschem Recht heranzuziehen ist (BT-Drucksache
9/895, S. 18), vgl. BVerwG, Urteil vom 19.09.2000 - 9 C 12/00 - a.a.O.; OVG Lüneburg,
Urteil vom 29.02.1988 - 11 OVG A 10/87 - und Beschluss vom 01.03.2005 - 9 LA 46/05 -
; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.03.2004 - A 6 S 219/04 - a.a.O.; VG des Saarlandes,
Urteil vom 09.02.2005 - 10 K 193/03.A - zitiert nach Juris; VG Göttingen, Urteil vom
26.04.2005 - 2 A 222/04 - a.a.O.; Machiel Salo- mons/Constantin Hruschka, Die
Ausnahmen von den Beendigungsklauseln ge- mäß Art. 1 C (5) 2 GK und die deutsche
Rechtsprechung zu § 73 Abs. 1 Asylverfahrensgesetz, ZAR 2005, S. 1 ff. In dem
Herkunftsstaat müssen demnach grundlegende Veränderungen stattgefunden haben,
aufgrund derer man annehmen kann, dass der Anlass für die Furcht vor Verfolgung nicht
länger besteht. Eine bloße - möglicherweise vorübergehende - Veränderung der
Umstände reicht dagegen nicht aus. Die Feststellung des Wegfalls der
Verfolgungsgefahr setzt daher einen grundlegenden, stabilen und dauerhaften
Charakter der Veränderungen voraus. Erforderlich ist, dass unter keinem denkbaren
rechtlichen Gesichtspunkt eine andauernde politische Verfolgung mehr unterstellt
werden kann, vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 29.02.1988 - 11 OVG A 10/87 - und
Beschluss vom 01.03.2005 - 9 LA 46/05 - ; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.03.2004 - A 6
16
S 219/04 - a.a.O.; VG Karlsruhe, Urteil vom 10.03.2005 - A 2 K 12193/03 - a.a.O. Dabei
müssen alle wesentlichen Umstände berücksichtigt werden. Ein Ende der
Feindseligkeiten, ein vollständiger Wechsel des politischen Systems und die Rückkehr
zu Frieden und Stabilität stellen die typischsten Situationen dar, in denen ein Widerruf in
Betracht kommt, vgl. Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der
Flüchtlingsei- genschaft, Neuauflage Dezember 2003, Kapitel III, B, 5); Guidelines on
International Protection vom 10.02.2003, B Nr. 11. Die Prüfung im Rahmen des § 73
Abs. 1 S. 1 AsylVfG 2005 kann daher nach Überzeugung der Kammer nicht -
gewissermaßen spiegelbildlich - lediglich auf den Wegfall der ursprünglich die
Verfolgung begründenden Umstände beschränkt werden. Bei der Anwendung des § 73
Abs. 1 S. 1 AsylVfG 2005 ist darüber hinaus die Möglichkeit der Schutzgewährung
durch den Herkunftsstaat mit in den Blick zu nehmen. Dabei ist denkbar, dass der
"Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt", nicht notwendig gerade
durch die "Regierung" des Heimatlandes gewährt wird; es kann genügen, wenn dieser
Schutz etwa aufgrund einer UN-Resolution für eine Übergangszeit von einer von ihr
legitimierten Verwaltung gewährleistet wird. Ausschlaggebend ist, dass aufgrund der
veränderten politischen Verhältnisse von einem effektiven und dauerhaften Schutz vor
erneuter politischer Verfolgung ausgegangen werden kann. Ein Widerruf kommt
dagegen nicht in Betracht, wenn sich der Staat oder andere Organismen als unfähig
erweisen, vor tatsächlicher oder drohender Verfolgung Schutz zu bieten, vgl. VGH
Baden-Württemberg, Urteil vom 16.03.2004 - A 6 S 219/04 - a.a.O.; Machiel
Salomons/Constantin Hruschka, Die Ausnahmen von den Beendigungsklauseln gemäß
Art. 1 C (5) 2 GK und die deutsche Rechtsprechung zu § 73 Abs. 1
Asylverfahrensgesetz, ZAR 2005, S. 1 ff; Michael Ton, Zur Beendigung der
Flüchtlingseigenschaft bei Rückkehrgefahren im Herkunftsland, ZAR 2004, S. 367 ff.;
Viktor Pfaff, Zur Rückführung afghanischer Staatsangehöriger, ZAR 2003, S. 225 ff.;
Reinhard Marx, Widerruf wider das Völkerrecht, InfAuslR 2005, S. 218 ff.. Der Aspekt der
Möglichkeit, Schutz zu erlangen, wird in Art. 1 C (5) GFK und nunmehr wortgleich auch
in Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) der Qualifikationsrichtlinie ausdrücklich hervorgehoben,
wenn dort - über den Wortlaut des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG hinausgehend - gefordert
wird, dass der Flüchtling es aufgrund des Wegfalls der Umstände nicht mehr ablehnen
kann, den Schutz des Landes in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er
besitzt. Nach dem Konzept der internationalen Schutzbedürftigkeit verlieren Flüchtlinge
ihre Rechtsstellung demnach nur dann, wenn ihnen aufgrund des Wegfalls der die
Flüchtlingseigenschaft begründenden Umstände eine Rückkehr in den Herkunftsstaat
zumutbar ist und diese in Sicherheit und Würde erfolgen kann, vgl. Machiel
Salomons/Constantin Hruschka, Die Ausnahmen von den Beendi- gungsklauseln
gemäß Art. 1 C (5) 2 GK und die deutsche Rechtsprechung zu § 73 Abs. 1
Asylverfahrensgesetz, ZAR 2005, S. 1 ff; Michael Ton, Zur Beendigung der
Flüchtlingseigenschaft bei Rückkehrgefahren im Herkunftsland, ZAR 2004, S. 367 ff.;
Reinhard Marx, Widerruf wider das Völkerrecht, InfAuslR 2005, S. 218 ff. Die
Zumutbarkeit ist grundsätzlich auch nach deutschem Recht stets das vorrangige
qualitative Kriterium und Ausdruck des humanitären Charakters des Asylrechts. Das
Kriterium der Zumutbarkeit ist deshalb auch bei der Anwendung des § 73 Abs. 1 S. 1
AsylVfG 2005 als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal zu berücksichtigen, vgl.
BVerwG, Urteil vom 05.11.1991 - 9 C 118/90 - BVerwGE 89, 162 ff; OVG Lüneburg,
Urteil vom 29.02.1988 - 11 OVG A 10/87 -; VG Frankfurt, Urteil vom 28.10.1999 - 5 E
30435/99.A - AuAS 2000, 10-12. Diese Auslegung unter Zugrundelegung des
Schutzzwecks des Art. 1 C (5) GFK und Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) der
Qualifikationsrichtlinie wird zusätzlich bestätigt durch die Neufassung des § 60 Abs. 1
AufenthG 2004. Dort wird anders als in der Vorgängerregelung des § 51 Abs. 1 AuslG
1990 ausdrücklich auf die Genfer Flüchtlingskonvention Bezug genommen und der
Schritt von der bislang den Flüchtlingsbegriff nach deutschem Recht prägenden
Zurechnungslehre hin zu der der Konvention zugrundeliegenden Schutzlehre vollzogen.
Mit der Neufassung des § 60 Abs. 1 AufenthG 2004 wurde die Qualifikationsrichtlinie in
Teilen bereits umgesetzt, vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 10.03.2005 - A 2 K 12193/03 -
a.a.O.; Reinhard Marx, Widerruf wider das Völkerrecht, InfAuslR 2005, S. 218 ff. Die
Berücksichtigung der Schutzklausel des Art. 11 Abs. 1 Buchst. e) der
Qualifikationsrichtlinie im Rahmen des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG 2005 ist auch schon
jetzt im Wege gemeinschaftskonformer Auslegung gefordert. Die Umsetzungsfrist für
diese Richtlinie läuft zwar erst am 10.10.2006 ab und sie ist bislang noch nicht
vollständig und ausdrücklich in nationales deutsches Recht umgesetzt. Unabhängig
davon aber ist sie als Rechtsakt wirksam erlassen und entfaltet auch unabhängig von
ihrer nationalen Umsetzung rechtliche Ausstrahlungskraft bereits insoweit, als sie -
bestätigend und verdeutlichend - das gemeinschaftsrechtliche Verständnis darüber zum
Ausdruck bringt, wann die Flüchtlingseigenschaft eines Drittstaatsangehörigen oder
Staatenlosen entfällt, vgl. allgemein zur richtlinienkonformen Auslegung vor Ablauf der
Umsetzungsfrist u.a. BGH, Urteil vom 05.02.1998, I ZR 211/95 - BGHZ 138,55-66; OVG
NRW, Beschluss vom 18.05.2005 - 13 A 2062/03 -; zur Qualifikationsrichtlinie: VG
Lüneburg, Urteil vom 11.05.2005 - 1 A 397/01 -; VG Karlsruhe, Urteil vom 10.03.2005 - A
2 K 12193/03 - a.a.O.; Reinhard Marx, Widerruf wider das Völkerrecht, InfAuslR 2005, S.
218 ff. Wann die Möglichkeit einer effektiven Schutzgewährung im Herkunftsstaat unter
Beachtung des Zumutbarkeitskriteriums bejaht werden kann, ist dabei auch unter
Berücksichtigung der vom UNHCR hierfür aufgestellten Kriterien zu beurteilen. Der
erforderliche Schutz des Herkunftsstaates muss danach wirksam und verfügbar sein.
Eine rein physische Sicherheit für Leib und Leben ist nicht ausreichend. Erforderlich ist
das Vorhandensein einer funktionierenden Regierung und grundlegender
Verwaltungsstrukturen, wie sie z.B. in einem funktionierenden Rechtsstaat vorliegen,
sowie das Vorhandensein einer angemessenen Infrastruktur, innerhalb derer die
Einwohner ihre Rechte ausüben können einschließlich ihres Rechts auf
Existenzgrundlage, so Guidelines on International Protection vom 10.02.2003, B Nr. 15.
Wie die geänderten Verwaltungsstrukturen im einzelnen auszusehen haben und ob die
Möglichkeit einer effektiven Schutzgewährung erst dann bejaht werden kann, wenn eine
signifikante Verbesserung der allgemeinen Menschenrechtslage eingetreten ist und
freie und allgemeine Wahlen abgehalten wurden, vgl. Guidelines on International
Protection vom 10.02.2003, B Nr. 16, ist eine Frage der Bewertung im Einzelfall. Hier
wird man keine überspannten Anforderungen stellen können. Vor dem Hintergrund der
obigen Ausführungen ist es nach Überzeugung der Kammer allerdings nicht zulässig,
für die Schutzgewährung wesentliche Aspekte wie die allgemeine Sicherheitslage, die
sich unmittelbar bereits auf die Sicherheit für Leib und Leben der Betroffenen auswirken
kann, bei der Anwendung des § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG 2005 auszuklammern und
lediglich im Rahmen von Abschiebungshindernissen zu berücksichtigen oder gar zuvor
anerkannte Flüchtlinge auf Abschiebungsschutz aufgrund vorübergehender Erlasslagen
zu verweisen, vgl. so aber VGH München, Urteil vom 10.05.1995 - 23 B 05.30217 -
zitiert nach Juris und Beschluss vom 06.08.2004 - 15 ZB 04.30.565 - InfAuslR 2005, 43-
44; VG Karlsruhe, Urteil vom 04.02.2005 - A 3 K 11689/04 - zitiert nach Juris; VG
Ansbach, Urteil vom 25.01.2005 - AN 4 K 04.31781 - a.a.O. Gemessen an den oben
genannten Kriterien liegen die Voraussetzungen für einen Widerruf der
Flüchtlingseigenschaft des Klägers gemäß § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG 2005 nicht vor.
Zwar hat sich die Situation im Irak insoweit grundlegend geändert, als das Regime von
Saddam Hussein durch den Einsatz der amerikanischen und britischen Truppen
beseitigt worden ist. Auch die Kammer geht davon aus, dass diese Veränderung
dauerhaft ist jedenfalls insoweit, als mit einer Reinstallierung dieses Regimes nicht
mehr zu rechnen ist, vgl. BVerwG, Urteil vom 25.08.2004 - 1 C 22/03 - NVwZ 2005, 89-
90. Ebenso wenig verkennt die Kammer die seit dem offiziellen Ende der
Hauptkampfhandlungen erreichten Fortschritte im formalen Demokratisierungsprozess.
So ist der Irak, der bis zum 28.06.2004 unter amerikanischer und britischer Besatzung
stand, seitdem wieder formell souverän. Die US-Zivilverwaltung wurde aufgelöst und die
Macht wurde an die irakische Übergangsregierung übergeben. Am 01.09.2004 wurde
durch eine große nationale Konferenz der Übergangsnationalrat (Interim National
Council) etabliert, dem unter anderem Vertreter der Provinzen, der politischen Parteien
(darunter die großen Kurdenparteien PUK und DPK), der Zivilgesellschaft und
Mitglieder des ehemaligen Regierungsrates angehören mit einem gesetzlich
festgelegten Frauenanteil von 25 %. In der Regierung und im Nationalrat sind die
wesentlichen ethnischen und religiösen Gruppen beteiligt. Vertreter der Schiiten,
Sunniten, Kurden, Christen und Turkmenen sowie Yeziden, Mandäer und andere kleine
religiöse und ethnische Minderheiten gehören diesen Organen an. Am 30.01.2005
fanden die vorgesehenen Parlamentswahlen statt, bei denen das schiitische
Wahlbündnis die absolute Mehrheit der Mandate gewann und die Kurden sich als
zweitstärkste Kraft erheblichen Einfluss sicherten. Die Sunniten, die einst den
baathistischen Staatsapparat stützten, sind in der irakischen Nationalversammlung
kaum vertreten. Am 06.04.2005 wurde vom Parlament der neue irakische
Staatspräsident, der Kurde Dschalal Talabani, gewählt. Talabani ernannte sodann den
schiitischen Politiker Ibrahim Dschaafari zum Premierminister und beauftragte ihn mit
der Bildung einer Regierung. Dreieinhalb Monate nach der Parlamentswahl wurde am
08.05.2005 die Regierungsbildung abgeschlossen. Bis zum 15.08.2005 sollen die
Abgeordneten nun eine neue Verfassung entwerfen, über die das irakische Volk bis
spätestens 15.10.2005 abstimmen soll, vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom
02.11.2004, Stand Oktober 2004; Süddeutsche Zeitung vom 14.02.2005 (Schiiten
übernehmen die Macht im Irak), vom 15.02.2005 (Neuland im Zweistromland;
Demokratische Drohkulisse), vom 23.02.2005 (Dschaafari setzt auf Versöhnung), vom
17.03.2005 (Parlament im Ausnahmezustand), vom 8.04.2005 (Dschalal Talabani als
Präsident des Irak vereidigt), vom 29.04.2005 (Demokratische Regierung im Irak).
Obwohl damit der für die Übergangsperiode vorgesehene Zeitplan im wesentlichen
eingehalten wurde, kann aber dennoch von einer dauerhaften und stabilen Entwicklung
im Irak nicht die Rede sein. Die Kammer teilt insoweit in vollem Umfang die
Einschätzung des UNHCR, dass sich der Irak immer noch inmitten einer Phase des
politischen Umbruchs befindet, der eine hinreichend sichere Prognose bezüglich der
politischen Zukunft des Landes derzeit ausschließt. Der UNHCR hat hierzu zuletzt in
seiner Stellungnahme vom April 2005 folgendes ausgeführt: "Die gegenwärtige
irakische Übergangsregierung stellt noch keine dauerhaft tragfähige allgemein
akzeptierte politische Lösung dar. Angesichts der angespannten Sicherheitslage im
gesamten Irak und der auch nach den Wahlen zur Nationalversammlung vom 31.
Januar 2005 anhaltend unter Einsatz von Gewalt geführten Auseinandersetzungen
verschiedener politischer und religiöser Gruppierungen ist die politische Zukunft des
Landes derzeit eben so offen, wie die Frage welche Kräfte künftig effektiv den Irak
beherrschen werden und welche konkreten Auswirkungen dies für die irakische
Bevölkerung haben wird. Für die Sicherheit und Stabilität des Landes entscheidende
Probleme, wie Inhalt und Umfang einer Autonomieregelung für den Nordirak, der Status
der Städte Mosul und Kirkuk, die Einbindung der Sunniten in den politischen Prozess
und die Integration bzw. Auflösung bewaffneter Milizen sind noch immer ungelöst."
UNHCR-Hinweise zur Anwendung des Art. 1 C (5) der Genfer Flüchtlingskonvention
("Wegfall der Umstände"-Klausel) auf irakische Flüchtlinge, Anlage zum Schreiben an
den Präsidenten den VG Köln vom 20.04.2005. Diese Lagebewertung einer
internationalen Organisation, die sich seit Jahrzehnten in herausragender Weise mit
weltweiten Flüchtlingsproblemen befasst, ist nach Überzeugung der Kammer
außerordentlich ernst zu nehmen. Gegenteilige Analysen und Lagebewertungen
kompetenter Gutachter und Auskunftsstellen liegen nicht vor. Die Einschätzung des
UNHCR wird vielmehr in vollem Umfang durch andere Auskunftsquellen sowie durch
die umfangreiche Berichterstattung in den Medien über die Entwicklungen im Irak
bestätigt. Der in Gang gesetzte Demokratisierungsprozess ist danach mit ganz
erheblichen Risiken verbunden. Die ursprünglich mit der Abhaltung der Wahlen
verbundenen Hoffnungen wurden bislang in keiner Weise erfüllt. Die bereits bei der
Regierungsbildung zu Tage getretenen gravierenden Konflikte zwischen den
verschiedenen Bevölkerungsgruppen dauern unverändert an. Die Gewaltwelle nimmt
stetig zu und wird in der Presse mit immer neuen Superlativen gekennzeichnet. Es liegt
auf der Hand, dass das Ausmaß der politischen Gewalt im Irak nicht nur unmittelbar die
Sicherheit jedes einzelnen Irakers betrifft, sondern eine ernst zu nehmende Gefahr für
den Fortbestand der politischen Fortschritte darstellt, zumal es das erklärte Ziel der
verschiedenen agierenden Widerstandsgruppen ist, den politischen Prozess im Irak zu
stoppen, ja umzukehren. Selbst der irakische Außenminister Hoshyar Zebari hat nach
Agenturmeldungen zuletzt eingeräumt, dass sein Land sich mit einer "zerstörerischen
Welle des Terrors und der Gewalt" konfrontiert sehe, deren Ziel es sei, den politischen
Prozess zum Scheitern zu bringen. Ganz plastisch wird dies auch daran deutlich, dass
zahlreiche hochrangige Politiker und Regierungsbeamte bereits Anschlägen zum Opfer
gefallen sind und derzeit nicht einmal mit Gewissheit vorhergesagt werden kann, ob die
zentralen Akteure des politischen Geschehens in der irakischen Regierung die
kommenden Monate überleben werden. Auch in den Anrainerstaaten wächst die Sorge
um die Stabilität des Irak, vgl. z. B. Süddeutsche Zeitung vom 17.03.2005 (Parlament im
Ausnahmezu- stand), 22.04.2005 (Iraks Premier Allawi entgeht knapp einem Anschlag),
02.05.2005 (Sorge um Iraks Stabilität), 03.05.2005 (In babylonischer Gefangen- schaft),
06.05.2005 (Blutige Anschläge und Überfälle im Irak), 14./15./16.05.2005 (Brüchiger
Anfangserfolg), 19.05.2005 (Spitzenbeamte im Irak ermordet), 21./22.05.2005
(Schlachtfeld des Friedens), 02.06.2005 (Blutiger Mai im Irak; Bagdad bittet um
Beistand). Offene Fragen für die Zukunft des Irak sind auch mit dem Prozess der De-
Baathifizierung verbunden, der weniger radikal als zunächst vorgesehen verlief. Zum
Teil wurden selbst hochrangige Baathisten im Amt belassen. Zudem beschränkten sich
die ergriffenen Maßnahmen auf die zentrale Verwaltung in Bagdad, während die
Verwaltung in den einzelnen Provinzen regionalen Strukturen überantwortet wurde, so
dass ehemalige sunnitische Stammeseliten, die zuvor eng mit der Baath- Regierung
kooperiert hatten, auf lokaler Ebene - so etwa im sunnitischen Dreieck - ihren Einfluss
weitgehend behielten. Ehemalige Baathisten und arabische Nationalisten arbeiten auch
eng mit islamistischen Gruppen zusammen. Nach jüngsten Angaben eines hohen US-
Offiziers sollen die Mehrheit der Aufständischen irakische Nationalisten, frühere
Offiziere sowie Mitglieder der Baath-Partei sein; nur 5 % der Rebellen sollen Ausländer
sein, vgl. Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Eva Savelsberg & Siamend
Hajo, Gutachten vom 17.12.2004 an VG Köln und vom 07.03.2005 an VG Köln;
Süddeutsche Zeitung vom 31.05.2005 (Festnahme empört Sunniten). Verschiedentlich
wird sogar auf die Gefahr eines Bürgerkriegs hingewiesen. Zuletzt war Anlass hierfür
die vorübergehende Festnahme eines hochrangigen sunnitischen Politikers im Irak
durch US-Truppen, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 31.05.2005 (Festnahme empört
Sunniten). Selbst in den USA - und dort bis in die Reihen der Republikaner - werden
Stimmen laut, die einen Rückzug aus dem Irak fordern. Aus Angst vor einem möglichen
Einsatz im Irak melden sich immer weniger Freiwillige zur US-Armee, vgl. Süddeutsche
Zeitung vom 06.05.2005 (Blutige Anschläge und Überfälle im Irak) und 21./22.05.2005
(Ruf nach Rückzug). Angesichts dieser hochgradig instabilen Lage, so schon
Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 02.11.2004 (Stand Oktober 2004), kann von
einer dauerhaften und stabilen Änderung der politischen Verhältnisse, die Grundlage
der Anerkennungsentscheidung waren, nicht ausgegangen werden. Der - gewaltsame -
Sturz des Regimes von Saddam Hussein alleine reicht für eine solche Annahme
offenkundig nicht aus. Dies gilt für den gesamten Irak. Es liegt auf der Hand, dass die
geschilderten Konflikte und Risiken die Entwicklung in allen Landesteilen betreffen.
Auch der Fortbestand der Machtverhältnisse und der - im Vergleich zum ehemaligen
zentralirakischen Gebiet - relativ stabileren Lage in den kurdischen Gebieten des
Nordirak hängt von der politischen Entwicklung im Gesamtstaat ab, zumal gerade der
Erhalt der derzeitigen weitgehenden Autonomie, die hiervon erfassten Gebiete und die
Positionierung der Kurden im Machtgefüge des Gesamtstaates zu den wesentlichen
Konflikten gehören, die gegenwärtig noch ungelöst sind.
Neben den bestehenden gravierenden Unsicherheiten hinsichtlich der zukünftigen
politischen Entwicklung im Irak liegen die Voraussetzungen für einen Widerruf der
Flüchtlingseigenschaft des Klägers aber auch deshalb nicht vor, weil aufgrund der
gegenwärtigen Situation eine Rückkehr des Klägers unzumutbar im Sinne der
Schutzklausel ist und der Kläger es daher ablehnen kann, den Schutz seines
Herkunftslandes in Anspruch zu nehmen. Die Sicherheitslage im Irak ist, worauf bereits
hingewiesen wurde, völlig unzureichend. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die
zunehmende Zahl terroristischer Anschläge als auch im Hinblick auf die allgemeine
Kriminalität, die teilweise außer Kontrolle geraten ist, vgl. schon Lagebericht des
Auswärtigen Amtes vom 02.11.2004 (Stand Oktober 2004). Die nachfolgende Auflistung
der schwerwiegendsten Terroranschläge alleine seit Mai 2005 spricht für sich: 1. Mai
2005: 26 Tote bei Selbstmordanschlag in der nordirakischen Stadt Tel Afar bei Mosul,
mindestens 30 weitere Teilnehmer einer Trauerfeier wurden dabei verletzt; 2. Mai 2005:
Mindestens fünf Menschen getötet bei drei Autobombenanschlägen in Bagdad, zehn
weitere Menschen verletzt; 4. Mai 2005: Bei Bombenanschlag in Arbil im Nordirak
mindestens 50 Tote und 200 Verletzte; 5. Mai 2005: Mehr als 20 Tote bei
Bombenanschlag in Bagdad; 6. Mai 2005: Mindestens 17 Tote und 40 Verletzte bei
einem Anschlag südlich von Bagdad; 10. Mai 2005: Mindestens sieben Tote und 16
Verletzte bei Bombenanschlag in Bagdad; 11. Mai 2005: Mindestens 24 Tote und 70
Verletzte bei Bombenanschlag in Tikrit; Mindestens 21 Tote bei Bombenanschlag in
Howeidscha im Nordirak; Mindestens 15 Tote bei Selbstmordanschlag in Bagdad und
60 Verletzte; 23. Mai 2005: Mindestens 30 Tote und zehn Verletzte bei zwei Anschlägen
in Mosul im Nordirak; 24. Mai 2005: Mindestens 20 Tote bei mehreren
Autobombenanschlägen; 28. Mai 2005: Mindestens 30 Tote und Dutzende Verletzte bei
mehreren Bombenanschlägen, Angriffen und Razzien; 30. Mai 2005: 27 Tote und
weitere 128 Verletzte bei Selbstmordanschlägen in Hilla. Alle zitiert nach
http://portale.web.de-Schlagzeilen-Irak. Die Zahl der Anschläge hat sich seit April
diesen Jahres auf 70 pro Tag verdoppelt. Seit Amtsantritt der irakischen Regierung
Ende April diesen Jahres sollen der von Aufständischen ausgehenden Gewalt bereits
etwa 700 Menschen zum Opfer gefallen sein, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 02.06.2005
(Blutiger Mai im Irak) und vom 30.05.2005 (Großoffensive gegen Aufständische im Irak);
Spiegel-Online vom 09.05.2005 (USA ändern Taktik im Kampf gegen Rebellen). Die
Zahl der Anschläge ist inzwischen so groß, dass die dabei getöteten Menschen und die
Zahl der Verwundeten kaum mehr zu erfassen sind. Bei den bekannt werdenden
Anschlägen handelt es sich lediglich um die Spitze des Eisbergs, vgl. u.a. Deutsches
Orient-Institut, Gutachten vom 14.02.2005 an VG Köln. Dabei finden diese Anschläge
17
inzwischen in allen Landesteilen des Irak statt und vermehrt auch im Nordirak.
Zunehmend werden in erheblichem Maße Zivilisten von den Anschlägen betroffen, was
den Regierungssprecher in Bagdad zuletzt dazu veranlasste, die "blinde Gewalt" gegen
Zivilisten ausdrücklich zu verurteilen, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 25./26.05.2005
(Irakische Regierung verurteilt "blinde Gewalt"). Ungeachtet aber der Verurteilung dieser
Gewalt durch die irakische Regierung und vermehrter Großoffensiven auch der
Besatzungstruppen gegen Aufständische, wie zuletzt die "Operation Blitzschlag" in
Bagdad, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 30.05.2005 (Großoffensive gegen
Aufständische im Irak), sind weder die Regierungstruppen noch die Besatzungstruppen
in der Lage, dieser Gewalt Einhalt zu bieten. Dies gilt auch für den Nordirak, obwohl es
dort grundsätzlich funktionierende Polizei- und Verwaltungsstrukturen gibt. Die
Unfähigkeit zur Schutzgewährung wird von der irakischen Regierung selbst eingeräumt
und im übrigen auch vom UNHCR sowie von weiteren Gutachtern anlässlich der
Bewertung der Situation von Christen und Yeziden im Irak hervorgehoben, vgl. UNHCR,
Stellungnahme vom April 2005; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 14.02.2005;
Europäisches Zentrum für Kurdische Studien, Eva Savelsberg & Siamend Hajo,
Gutachten vom 07.03.2005. Im Gegenteil wird die irakische Zivilbevölkerung durch die
massiven Gegenoffensiven der irakischen Sicherheitskräfte und der alliierten Truppen
zusätzlich erheblich in Mitleidenschaft gezogen, sei es durch Bombenangriffe,
Abriegelungen und Razzien in großen Gebieten und Verhaftungen Tausender
Menschen, bei denen es sich keineswegs ausschließlich um Aufständische handelt, vgl.
Süddeutsche Zeitung vom 30.05.2005 (Großoffensive gegen Aufständische im Irak) und
vom 11.05.2005 (USA verschärfen Offensive im Irak). Aufgrund der gegenwärtigen
Situation im Irak muss daher nach Überzeugung der Kammer bereits davon
ausgegangen werden, dass die physische Sicherheit für Rückkehrer nicht gewährleistet
ist, was aber die Mindestvoraussetzung dafür ist, einem Flüchtling die Rückkehr in
seinen Herkunftsstaat zuzumuten. Ob daneben unter anderen Gesichtspunkten - wie
etwa schlechte Gesundheitsversorgung, mangelhafte Wasserversorgung und weitere
Infrastrukturdefizite - die Aufnahme eines Lebens in Sicherheit und Würde für Iraker
möglich ist, kann angesichts dieser dramatischen Situation zurückstehen. Dies gilt auch
für die Frage, ob der Kläger als Anhänger von El Sadr gegebenenfalls in besonderem
Maße einer Gefährdung bei Rückkehr ausgesetzt wäre.
Auf die Frage der Anwendbarkeit des § 73 Abs. 2a S. 2 AsylVfG 2005 kommt es im
vorliegenden Verfahren nicht an, da seit Unanfechtbarkeit der Feststellung, dass
hinsichtlich des Klägers die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, bis zum
Erlass des Widerrufsbescheides noch keine drei Jahre vergangen waren.
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Ebensowenig bedurfte es einer Entscheidung, ob die Pflicht zum unverzüglichen
Widerruf gemäß § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG 2005 vorliegend verletzt ist und der Kläger
sich darauf berufen könnte,
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verneinend BVerfG, Beschluss vom 23.07.2004 - 2 BvR 1056/04 - zitiert nach
www.asyl.net/Magazin/1; BVerwG, Urteil vom 27.06.1997 - 9 B 280/97 - a.a.O..
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG.
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