Urteil des VG Köln vom 14.11.2005

VG Köln: amnesty international, politische verfolgung, irak, bundesamt für migration, gefahr, staatliche verfolgung, genfer konvention, tschechische republik, genfer flüchtlingskonvention, unhcr

Verwaltungsgericht Köln, 18 K 8609/03.A
Datum:
14.11.2005
Gericht:
Verwaltungsgericht Köln
Spruchkörper:
18. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
18 K 8609/03.A
Tenor:
Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom
18.11.2003 verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des §
60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich der Klägerin vorliegen; im Übrigen wird
die Klage abgewie- sen.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben
werden, tragen die Klägerin und die Beklagte je zur Hälfte.
T a t b e s t a n d
1
Die am 00.00.0000 in Bagdad geborene Klägerin ist irakische Staatsangehörige
christlicher Religionszugehörigkeit. Sie reiste auf dem Landweg nach Deutschland ein
und stellte am 08.04.2003 einen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte.
2
Im Rahmen ihrer Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländi- scher
Flüchtlinge (seit dem 01.01.2005 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge; im
Folgenden: Bundesamt) gab die Klägerin zur Begründung ihres Asylantrags an, sie sei
in Bagdad einsam gewesen, weil fast alle nahen Verwandten bereits im Ausland seien.
Mit Bescheid vom 18.11.2003 lehnte das Bundesamt den Asylantrag der Klägerin als
offensichtlich unbegründet ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs.
1 und des § 53 des Ausländergesetzes offensichtlich nicht vorliegen. Zugleich forderte
das Bundesamt die Klägerin zum Verlassen der Bundesrepublik Deutsch- land auf und
drohte ihr für den Fall nicht fristgemäßer Ausreise die Abschiebung in den Irak an. Die
Klägerin könne sich nicht auf das Asylgrundrecht nach Art. 16 a Abs. 1 GG berufen, weil
sie aus einem sicheren Drittstaat eingereist sei. Es bestehe auch kein
Abschiebungsverbot. Eine politische Verfolgung liege nicht vor und Abschie-
bungsschutzhindernisse bestünden nicht.
3
Am 26.11.2003 hat die Klägerin Klage erhoben und erfolgreich einen Antrag auf
Anordnung der aufschiebenden Wirkung gestellt. Zur Begründung der Klage trägt sie
vor, sie sei eine praktizierende Christin. Sie habe in Bagdad regelmäßig die Kirche
besucht, was sie auch Deutschland tue.
4
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
5
die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 18.11.2003 zu
verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen und festzustellen, dass die
Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen, hilfs- weise
festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.
6
Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
7
die Klage abzuweisen.
8
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakten und auf den Inhalt der der beigezogenen Verwaltungsvorgänge und des
Sitzungsprotokolls verwiesen.
9
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
10
Die Klage ist teilweise begründet.
11
Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte gemäß Art.16 a
Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom
18.11.2003 ist insoweit rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rech- ten (§
113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
12
Nach Art. 16 a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Auf Art. 16 a Abs. 1 GG
kann sich aber nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäi- schen
Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat eingereist ist, in dem die
Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Kon-
vention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist (Art. 16
a Abs. 2 Satz 1 GG). Gemäß § 26 a Abs. 2 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) in
Verbindung mit Anlage I sind solche sicheren Drittstaaten außer den Mitgliedstaa- ten
der Europäischen Gemeinschaften die Länder Finnland, Norwegen, Österreich, Polen,
Schweden, Schweiz und die Tschechische Republik. Damit ist jeder, der auf dem
Landweg nach Deutschland gekommen ist, notwendigerweise aus einem sol- chen
Drittstaat eingereist. Einer Feststellung, aus welchem sicheren Drittstaat ein
Asylsuchender eingereist ist, bedarf es nicht,
13
vgl. BVerfG, Urteil vom 14.05.1996 - 2 BvR 1938, 2315/93 -, BVerfGE 94, 49 ff.; BVerwG,
Urteil vom 07.11.1995 - 9 C 73.95 -, BVerwGE 100, 23.
14
Die Klägerin kann sich vorliegend nicht auf Art. 16 a Abs. 1 GG berufen, weil sie nach
eigenen Angaben in einem LKW über die Türkei auf dem Landweg und damit über
einen sicheren Drittstaat nach Deutschland eingereist ist. Das Gericht hat kei- nen
Anlass, an der Richtigkeit dieser Angaben zu zweifeln.
15
Im übrigen hat die Klage Erfolg.
16
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60
Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen. Der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom
18.11.2003 ist insoweit rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113
Abs. 5 Satz 1 VwGO).
17
Mit Inkrafttreten von Art. 1 des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S.
18
1950) nach Maßgabe des Art. 15 Abs. 3 dieses Gesetzes am 1. Januar 2005 ist das
Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Auslän- dern im
Bundesgebiet in Geltung gesetzt worden; das bisherige Ausländergesetz vom 9. Juli
1990 ist gleichzeitig außer Kraft getreten. Verbote der Abschiebung politisch Verfolgter
werden nunmehr in § 60 Abs. 1 AufenthG geregelt. Übergangsvorschriften für
anhängige verwaltungsgerichtliche Verfahren enthält das Zuwanderungsgesetz nicht,
so dass es mit Inkrafttreten in diesen Verfahren zu beachten ist (vgl. § 77 Abs. 1 des
Asylverfahrensgesetzes - AsylVfG - in Verbindung mit Art. 15 Abs. 3 des
Zuwanderungsgesetzes).
Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG), der inhaltlich die
Regelung in § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes (AuslG 1990) mitumfasst, vgl.
Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der
Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern
und Ausländern (Zuwanderungsgesetz), BTDrucks. 15/420, S. 91,
19
darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder
seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit
zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung
bedroht ist, wobei nach § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG eine Verfolgung wegen der
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen kann, wenn
die Bedrohung allein an das Geschlecht anknüpft.
20
Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG sind - ebenso wie vormals die
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 - grundsätzlich deckungsgleich mit
denjenigen des Asylanspruchs aus Art. 16 a Abs. 1 GG, soweit es die
Verfolgungshandlung, das geschützte Rechtsgut und den politischen Charakter der
Verfolgung betrifft,
21
vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315;
BVerwG, Urteil vom 18.02.1992 - 9 C 59.91 - DVBl. 1992, 843; Urteil vom 26.10.1993 - 9
C 50.92 u.a., NVwZ 1994, 500; Urteil vom 18.01.1994 - 9 C 48.92 -, DVBl. 1994, 531.
22
Eine politische Verfolgung liegt vor, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an seine
politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder für ihn unverfügbare
Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer
Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit
ausgrenzen. Die Verfolgungsmaßnahme kann dem Einzelnen oder ein durch ein
asylerhebliches Merkmal gekennzeichneten Gruppe gelten,
23
BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 ff.
24
In § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG wird nun im Unterschied zum bisherigen § 51 Abs. 1
AuslG 1990 ausdrücklich auf das Abkommen über die Rechtstellung der Flüchtlinge
vom 28. Juli 1951 (Genfer Konvention, BGBl. 1953 II, S. 559) Bezug genommen („in
Anwendung des Abkommens ..."). Die Sätze 3 bis 5 des § 60 Abs. 1 AufenthG
verdeutlichen, dass der durch das Abkommen vermittelte Schutz innerstaatlich nunmehr
auf Fälle von nichtstaatlicher Verfolgung erstreckt worden ist, so dass sich Deutschland
insoweit dieser Auffassung der überwiegenden Zahl der Staaten in der europäischen
Union angeschlossen hat,
25
Begründung des Gesetzesentwurfs a. a. O.
26
Für den Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG gelten demgemäss nicht
uneingeschränkt die gleichen Grundsätze wie für die Auslegung des Art. 16 a Abs. 1
GG, weil nach § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG die Verfolgung auch von
nichtstaatlichen Akteuren ausgehen kann, ohne dass es auf die Existenz einer
staatlichen Herrschaftsmacht und damit auch auf die von der bisherigen
Zurechnungslehre
27
vgl. BVerwG, Urteil vom 15. April 1997 - 9 C 15/96 -, BVerwGE 104, 254, 256 f.; vgl.
auch VG Aachen, Urteil vom 28. April 2005 - 5 K 1587/03.A -, Juris,
28
geforderte grundsätzliche Schutzfähigkeit des Staates ankommt. Damit geht der Begriff
der Verfolgung in § 60 Abs. 1 AufenthG über den Verfolgungsbegriff in Art. 16 a GG
hinaus. Dies unterscheidet § 60 Abs. 1 AufenthG von § 51 AuslG 1990.
29
Nach Auffassung der Kammer können nichtstaatliche Akteure im Sinne des § 60 Abs. 1
Satz 4 Buchst. c AufenthG Organisationen ohne Gebietsgewalt, Gruppen oder auch
Einzelpersonen sein, von denen eine Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG
ausgeht.
30
§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG stimmt in wesentlichen Teilen mit Art. 6 der
Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 über Mindestnormen für die
Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als
Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und
über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie) überein. Diese
Richtlinie wurde am 30.09.2004 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht und
ist nach Art. 39 am zwanzigsten Tag nach der Veröffentlichung in Kraft getreten (ABl.
2004 L Nr. 304, S. 12). Die Berücksichtigung der Qualifikationsrichtlinie bei der
Anwendung des Aufenthaltsgesetzes ist bereits jetzt im Wege gemeinschaftskonformer
Auslegung gefordert. Die Umsetzungsfrist für diese Richtlinie läuft zwar erst am
10.10.2006 ab (Art. 38 Abs. 1). Sie ist aber insoweit teilweise in Gestalt des
Aufenthaltsgesetzes in nationales deutsches Recht umgesetzt worden,
31
vgl. VG Köln, Urteil vom 10.06.2005 - 18 K 4074/04.A -, Juris; VG Karlsruhe, Urteil vom
10.03.2005 - A 2 K 12193/03 -, Juris.
32
Weder das Aufenthaltsgesetz noch die Qualifikationsrichtlinie enthalten eine nähere
Bestimmung des Begriffs des nichtstaatlichen Akteurs (vgl. andererseits Art. 2 der
Qualifikationsrichtlinie). Aus dem Wortlaut des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG
und auch aus der Gegenüberstellung mit Buchst. a, wonach die Verfolgung von dem
Staat ausgehen kann, folgt aber, dass der nichtstaatliche Akteur der Handelnde ist, der
nicht über staatlichen Strukturen verfügt. Aus der Gegenüberstellung von § 60 Abs. 1
Satz 4 Buchst. c AufenthG und Buchst. b folgt des weiteren, dass nichtstaatliche Akteure
im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG die Handelnden sind, die nicht
Parteien oder Organisationen sind, die den Staat oder wesentliche Teile des
Staatsgebietes beherrschen. Allerdings sind Parteien oder Organisationen in
Abgrenzung zu Buchst. a gleichfalls Akteure ohne staatliche Strukturen, wenngleich sie
feste Ordnungsstrukturen aufweisen oder gar staatsähnlich verfasst sein können.
Anerkennt § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG darüber hinaus ausdrücklich eine
Verfolgung von nichtstaatlichen Akteuren, so zeigt dies, dass sonstige nichtstaatliche
33
Akteure gemeint sind, die keinen Organisationsgrad aufweisen, wie er für Parteien oder
Organisationen üblich ist, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes
beherrschen. Nichtstaatliche Akteure können daher sonstige Organisationen, Gruppen
oder auch Einzelpersonen sein. Es ist danach für eine Bejahung der Voraussetzungen
des § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG nicht erforderlich, dass die Verfolgung von
Gruppen ausgeht, die dem Staat oder den Parteien oder Organisationen im Sinne von §
60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. b AufenthG ähnlich sind. Würde man dies verlangen,
so VG Regensburg, Urteil vom 24. Januar 2005 - RN 8 K 04.30779 -
34
so wäre § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG außerdem weitgehend überflüssig.
Entsprechende Sachverhalte könnten unter Buchst. b gefasst werden, indem sie
zumindest dem unbestimmten Begriff der Organisation zugeordnet werden.
35
Nach § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG kann demgemäss eine Verfolgung von
sonstigen nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern erwiesenermaßen weder der
Staat noch Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des
Staatsgebietes beherrschen, noch internationale Organisationen in der Lage oder
Willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten. Der Unterschied zu dem
Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG besteht darin, dass § 60 Abs. 1
AufenthG auf die Verfolgung aus bestimmten schutzrelevanten Gründen abstellt und zur
Flüchtlingsanerkennung kommt; § 60 Abs. 7 AufenthG gewährt hingegen Schutz bei der
Gefahr von sonstigen Menschenrechtsverletzungen und knüpft allein an eine faktische
Gefährdung an und setzt keine staatliche oder staatsähnliche Verfolgung voraus,
36
vgl. zu § 53 Abs. 6 AuslG 1990 BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -,
BVerwGE 99, 324, 329 f.
37
Für die Beurteilung, ob sich ein Schutzsuchender auf die Gewährung von
Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG berufen kann, gelten unterschiedliche
Maßstäbe: Hat er seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar
drohender politischer Verfolgung verlassen und war ihm auch ein Ausweichen innerhalb
seines Heimatstaates unzumutbar (Vorverfolgung), so ist Asyl oder Abschiebungsschutz
zu gewähren, wenn der Asylbewerber im Zeitpunkt der Entscheidung vor erneuter
Verfolgung nicht hinreichend sicher ist (herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab).
Hat der Asylsuchende seinen Heimatstaat hingegen unverfolgt verlassen, so kann sein
Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm aufgrund von beachtlichen
Nachfluchttatbeständen politische Verfolgung auf der Grundlage des nicht
herabgestuften Maßstabes der beachtlichen Wahrscheinlichkeit droht.
38
vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, BVerfGE 80, 315,
344 f.; BVerwG, Urteil vom 15. Mai 1990 - 9 C 17.89 -, BVerwGE 85, 139, 140 f.
39
1. Gemessen an den oben genannten Kriterien ist die Klägerin bei einer Rückkehr in
den Irak keiner individuellen staatlichen Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4
Buchst. a AufenthG ausgesetzt.
40
Dies gilt zunächst deshalb, weil das bisher herrschende Baath-Regime in der zweiten
Aprilwoche 2003 zusammengebrochen ist und keine staatliche Macht im Irak mehr
ausübt. Die hinreichende Gefahr einer politischen Verfolgung im Irak durch dieses
Regime lässt sich daher nicht mehr feststellen,
41
vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 13. Mai 2004 - 20 A 1206/02.A -, vom 27. Juli 2004 - 9
A 3288/02.A und 9 A 3441/01.A - und vom 12. November 2003 - 9 A 1447/03.A; ad-hoc-
Berichte des Auswärtigen Amts vom 7. August und vom 6. November 2003 sowie
Bericht vom 10.06.2005 über die asyl- und abschie- bungsrelevante Lage in der
Republik Irak.
42
Eine politische Verfolgung der Klägerin durch eine andere staatliche Organisation ist
ebenfalls nicht ersichtlich. Dabei kann dahinstehen, ob als Bezugspunkt für die Prüfung
der Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung die irakische Übergangsregie- rung oder die
multinationalen Truppen in Betracht kommen. Es ist nicht entscheidungsrelevant, wer im
Irak im asylrechtlichen Sinne effektiv und stabilisiert die Herrschaftsmacht ausübt. Sind
dies noch die multinationalen Truppen, gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass der
Klägerin von ihnen Verfolgung drohen könnte. Ist als Herrschaftsmacht die noch im Amt
befindliche Übergangsregierung anzuse- hen, sind Verfolgungsmaßnahmen durch
diese genauso wenig ersichtlich.
43
2. Entsprechendes gilt auch für das Vorliegen der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 1
Satz 4 Buchst. b AufenthG. Es ist nicht ersichtlich und es wird von der Klägerin auch
nicht geltend gemacht, dass eine Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG
von Parteien oder Organisationen ausgeht, die den Staat oder wesentliche Teile des
Staatsgebietes beherrschen.
44
3. Des Weiteren lässt die Kammer offen, ob die Klägerin bei einer Rückkehr in den Irak
einer gegen die religiöse Minderheit der Christen gerichteten Gruppenverfolgung durch
nichtstaatliche Akteure (§ 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG) unterliegen würde. Die
Gefahr eigener politischer Verfolgung eines Asylbewerbers kann sich aus gegen Dritte
gerichteten Maßnahmen ergeben. In welchem Maße dies der Fall ist, wird je nach den
tatsächlichen Verhältnissen, unter denen sich politische Verfolgung in den
Herkunftsländern ereignet, unterschiedlich zu beurteilen sein. Allgemein ist davon
auszugehen, dass die Gefahr eigener politischer Verfolgung wächst, je weniger der
Staat selbst oder Dritte bei ihren Verfolgungsmaßnahmen an ein bestimmtes Verhalten
der davon Betroffenen anknüpfen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder
erfassenden gruppengerichteten Verfolgung durch Dritte setzt jedenfalls voraus, dass
Gruppenmitglieder Rechtsgutbeeinträchtigungen erfahren, aus deren Intensität und
Häufigkeit jedes einzelne Gruppenmitglied die begründete Furcht herleiten kann, selbst
alsbald ein Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden. Das wird vor allem bei
gruppengerichteten Massenausschreitungen der Fall sein, die das ganze Land oder
große Teile desselben erfassen, aber etwa auch dann, wenn unbedeutende oder
kleinere Minderheiten mit solcher Härte, Ausdauer und Unnachsichtigkeit verfolgt
werden, dass jeder Angehörige dieser Minderheit sich ständig der Gefährdung an Leib,
Leben oder persönlicher Freiheit ausgesetzt sieht. Gruppengerichtete Verfolgungen, die
von Dritten ausgehen, brauchen nicht ein ganzes Land gewissermaßen flächendeckend
zu erfassen, sie können auch regional oder lokal begrenzt sein,
45
vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 -
BVerfGE 83, 216-238.
46
Die unmittelbare Betroffenheit des Einzelnen durch gerade auf ihn zielende
Verfolgungsmaßnahmen stellen ebenso wie die Gruppengerichtetheit der Verfolgung
nur Eckpunkte eines durch fließende Übergänge gekennzeichneten Erscheinungsbildes
47
politischer Verfolgung dar. Die Anknüpfung an die Gruppenzugehörigkeit bei
Verfolgungshandlungen ist nicht immer eindeutig erkennbar. Oft tritt sie nur als ein mehr
oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit
mitprägender Umstand hervor. Die gegenwärtige Gefahr politischer Verfolgung für einen
Gruppenangehörigen aus dem Schicksal anderer Gruppenmitglieder ist möglicherweise
auch dann herzuleiten, wenn diese Referenzfälle es noch nicht rechtfertigen, vom Typus
einer gruppengerichteten Verfolgung auszugehen. Entscheidend ist, ob vergleichbares
Verfolgungsgeschehen sich in der Vergangenheit schon häufiger ereignet hat, ob die
Gruppenangehörigen als Minderheit in einem Klima allgemeiner moralischer, religiöser
oder gesellschaftlicher Verachtung leben müssen, das Verfol- gungshandlungen, wenn
nicht gar in den Augen der Verfolger rechtfertigt, so doch tatsächlich begünstigt, und ob
sie ganz allgemein Unterdrückungen und Nachstellungen ausgesetzt sind, mögen diese
als solche auch noch nicht von einer Schwere sein, die die Annahme politischer
Verfolgung begründet.
Im Rahmen einer wertenden Betrachtung ist zu prüfen, ob Verfolgungsmaßnahmen
gegenüber Gruppenangehörigen bereits eine solche Dichte aufweisen, dass schon aus
diesem Grunde die Annahme einer jedes Gruppenmitglied einschließenden
Gruppenverfolgung gerechtfertigt ist, oder ob eine Verfolgungsgefahr nicht für alle, wohl
aber für den überwiegenden Teil oder nur für einige Gruppenangehörige begründet ist.
Die Feststellung der Verfolgungsdichte erfordert es, die Relation zwischen der Anzahl
der feststellbaren Verfolgungsschläge und der Größe der Gruppe in den Blick zu
nehmen, ohne sich aber auf eine rein quantitative Betrachtungsweise zu beschränken,
48
vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.01.1991, a. a. O.; BVerwG, Urteil vom 19.04.1994 - 9 C
462/93 - InfAuslR 1994, 325 bis 327; BVerwG, Urteil vom 08.02.1989 - 9 C 33 /87 -
InfAuslR 1989, 248 bis 249; OVG NRW, Urteil vom 24.11.2000 - 8 A 4/99. A -, Juris.
49
Gemessen an diesen Kriterien ist nicht zweifelsfrei, ob die Voraussetzungen für eine
Gruppenverfolgung der Christen im Irak landesweit oder regional begrenzt bereits
vorliegen.
50
Allerdings hat sich seit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein die Situation von
Angehörigen religiöser Minderheiten insgesamt spürbar verschlechtert. Besonders stark
betroffen von dieser dramatischen Verschlechterung der Situation nicht muslimischer
Religionsgemeinschaften sind die Christen im ehemaligen zentralirakischen Gebiet und
dort insbesondere im Großraum Mossul und Bagdad,
51
vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 10.06.2005; UNHCR,
Hintergrundinformation zur Gefährdung von Angehörigen religiöser Minderheiten im
Irak, April und Oktober 2005 sowie Gutachten an VG Stuttgart vom 06.09.2005;
Europäisches Zentrum für kurdische Studien (Siamend Hajo & Eva Savelsberg),
Gutachten vom 07.03.2005 an VG Köln; Deutsches Orient- Institut, Gutachten vom
14.02.2005 an VG Köln; amnesty international, Gut- achten vom 29.06.2005 an VG Köln.
52
Zwar garantiert die am 08.03.2004 verabschiedete Übergangsverfassung des Irak unter
ausdrücklicher Nennung der islamischen Religion als Staatsreligion prinzipiell die
Freiheit der Religionsausübung. Diese Übergangsverfassung bindet allerdings die vom
28.05.2004 eingesetzte, derzeit amtierende irakische Übergangsregierung nur bis zum
Inkrafttreten einer neuen, von der irakischen Nationalkonferenz beschlossenen
endgültigen Verfassung. Wie die Frage nach der Bedeutung der islamischen Religion
53
und der Sharia im künftigen irakischen Rechts- und Wertesystem beantwortet werden
wird, ist derzeit offen.
Es finden derzeit auch keine gezielten Übergriffe gegen Christen durch die irakische
Übergangsregierung oder ihr nachgeordnete Stellen statt, wenn man einmal von dem
Phänomen der lokal feststellbaren Zusammenarbeit zwischen islamistischen Gruppen
und Polizeikräften absieht.
54
Ungeachtet dessen aber sind Christen direkte Zielscheibe von Angriffen, die häufig und
an der Tagesordnung sind. Christen sind von der dramatischen Verschlechterung der
Situation nicht-muslimischer Religionsgemeinschaften besonders stark betroffen. Die
Urheber dieser gezielten und direkten Übergriffe auf die christliche Bevölkerung sind
überwiegend islamistische Gruppen. Diese Gruppen bilden keinen national
organisierten Widerstand, sondern es handelt sich dabei um eine Reihe von
nichtstaatlichen Akteuren, die verschiedenen Gruppen angehören oder auch alleine
agieren.
55
Auf das Konto dieser islamistischen Gruppen und einer Vielzahl von Einzelakteuren
gehen eine Reihe von gravierenden Übergriffen, die von gezielten Tötungen bis hin zu
Einschüchterungen und Beleidigungen reichen. Hinsichtlich gezielter Mordanschläge
gehen die niedrigsten Zahlen von 110 Morden bis Oktober 2004 aus, während andere
Quellen bis zu 600 Tötungen alleine in Mossul bis Dezember 2004 berichten. Das
Erscheinungsbild dieser Morde ist vielfältig und teilweise nur als bestialisch zu
bezeichnen. Immer wieder wurden Christen ermordet, die in irgendeiner Form für die
US-Truppen, US-Firmen oder Firmen aus dem Westen tätig waren. Dokumentiert sind
auch Morde an Personen, die für assyrische politische Organisationen arbeiten und die
Ermordung von Christen, die Restaurants besaßen oder darin arbeiteten, die
Alkoholläden betrieben oder darin arbeiteten oder die in Friseur- und Schönheitssalons
tätig waren. Darüber hinaus gibt es eine große Anzahl von Fällen, in denen der einzige
Grund, aus denen Personen umgebracht worden sind, unter ihnen auch Kinder,
offenkundig der war, dass es sich bei ihnen um Christen handelte. Die Ausführungen
dieser Mordanschläge reichen von Erschießungen auf offener Straße über Anschläge
auf Häuser/Geschäfte mit Handgranaten bis zu Enthauptungen auf offener Straße.
Neben derartigen gezielten Mordanschlägen auf Einzelpersonen gibt es Anschläge aller
Art auf Kirchen, Klöster, christliche Wohnhäuser, von Christen geführte Restaurants,
Alkoholgeschäfte und Alkoholfabriken, auch Friseur- und Schönheitssalons sowie auf
christliche Schulen und die Büros christlicher bzw. assyro-chäldäischer Parteien. Allein
zwischen Ende 2003 und Ende 2004 wurden über 25 Kirchen angegriffen und teilweise
vollständig zerstört. Zehn von zwölf Fabriken, die in Bagdad alkoholische Getränke
herstellten, wurden bis Oktober 2004 niedergebrannt. Im Januar 2005 wurden der
Führer der Christdemokratischen Partei im Irak, Minas al-Yousifi, sowie der syrisch-
katholische Erzbischof von Mossul entführt. Im Februar 2005 wurde eine christliche
Kranken- schwester von ihren Entführern enthauptet. Am 18. März 2005 vermeldete die
im Nordirak operierende Gruppierung Ansar Al-Sunna auf ihrer Internet-Seite die Tötung
eines christlichen Generals der irakischen Armee. Viele irakische Christen fürchten
Verfolgung durch aufständische Gruppierungen wie Ansar Al-Sunna und islamistische
Milizen, beispielsweise die Badr-Organisation oder die Mahdi-Armee, die in
verschiedenen Städten und Orten im Irak die faktische Kontrolle über ganze
Straßenzüge übernommen haben. Hinzu kommen alle Arten von Drohungen,
Einschüchterungen und Beleidigungen. Christliche, nicht verschleierte Frauen und
Mädchen in Bagdad und Mossul werden immer wieder auf der Straße beleidigt und
56
tätlich angegriffen. Es werden Fälle berichtet, in denen Frauen geschlagen und ihre
Kleidung zerrissen wurde und ihnen mit Tötung gedroht wurde, falls sie nochmals
unverschleiert auf der Straße angetroffen würden. An der Mossuler Universität haben
Berichten zufolge inzwischen ca. 1500 christliche Studentinnen wegen der
andauernden Bedrohungen ihr Studium aufgegeben. In christlichen Wohnvierteln finden
sich Graffiti, die Christen unter Androhung von Gewalt auffordern, zum Islam
überzutreten. Plakate erklären die christliche Bevölkerung für vogelfrei. Auch von
Entführungen scheinen Christen überproportional betroffen zu sein. Nach Angaben
christlicher Institutionen sind 90% aller Personen, die mit dem Ziel der Erpressung von
Lösegeld entführt werden, christlichen Glaubens. Neuerdings wird sogar - insbesondere
aus Mossul - von Hauskontrollen islamistischer Gruppen berichtet, bei denen nach der
religiösen Zugehörigkeit, der beruflichen Tätigkeit, der Religi- onsausübung, dem
Verhalten bzw. der Kleidung der weiblichen Familienmitglieder sowie nach besonderen
Gewohnheiten gefragt wird. Bei diesen Hauskontrollen werden auch Nachbarn über ihre
Nachbarn ausgehorcht. Diese zahlreichen Übergriffe haben bereits jetzt zu einer
Massenflucht von Christen nach Syrien oder in den von Kurden verwalteten Nordirak
geführt.
Exakte Angaben über die Häufigkeit der oben genannten Übergriffe bezogen auf den
gesamten Irak oder bezogen auf regional begrenzte Gebiete liegen allerdings nicht vor.
Dies liegt zum einen daran, dass Angriffe auf Christen in der Berichterstattung über die
ansonsten instabile Lage im Irak in den westlichen Medien meist untergehen. Ein
weiterer Grund liegt darin, dass erfolgte Übergriffe von den betroffenen Christen meist
nicht angezeigt werden, weil sie einerseits ohnehin nicht damit rechnen können, dass
Anzeigen zu strafrechtlicher Verfolgung oder Schutzgewährung durch staatliche
Behörden führen und weil andererseits es die Betroffenen aus Angst vor weiteren
Bedrohungen häufig vorziehen, im Verborgenen zu bleiben.
57
Aufgrund des unzureichenden Zahlenmaterials und der Unmöglichkeit einer genaueren
Bezifferung der Übergriffe unter Berücksichtigung einer vorhandenen Dunkelziffer ist es
problematisch, schon derzeit die für die Annahme einer Gruppenverfolgung der Christen
erforderliche Verfolgungsdichte zu bejahen. Die Situation für Christen, insbesondere im
Großraum Mossul und Bagdad wird zwar in den oben zitierten neueren
Erkenntnisquellen als extrem gefährlich bezeichnet und auch die Verfolgungsfurcht
jedes einzelnen Christen erscheint danach real. Dennoch lässt sich auch bei einer nicht
auf rein mathematischen Berechnungen beschränkten Beurteilung die für eine
Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte (noch) nicht zweifelsfrei bejahen,
58
vgl. verneinend OVG NRW, Beschluss vom 31.05.2005 - A 1738/05.A -; VGH München,
Urteil vom 03.03.2005 - 23 B 04.30734 -, Juris; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom
24.01.2205 - 10 A 10001/05 -, Juris; OVG Lüneburg, Beschluss vom 24.11.2004 - 9 IA
323/04 - AuAS 2005, 65 - 67; VG Aachen, Urteil vom 24.02.2205 - 4 K 2206/02 A -, Juris;
a.A. VG Regensburg, Urteil vom 17.01.2005 - RN 3 K 04.30621 - w.w.w. asyl.net-
magazin-3 - 2005.
59
Soweit in den genannten Entscheidungen zusätzlich darauf abgestellt wird, dass neben
den Religionsgemeinschaften der Christen auch Schiiten und Sunniten von Anschlägen
betroffen sind und Christen nicht nur wegen ihrer Religionszugehörigkeit mit
Anschlägen zu rechnen haben, sondern auch, weil sie als „Handlanger der ame-
rikanischen Streitkräfte" angesehen werden, weil sie vermehrt Bewerber und Anwärter
für den öffentlichen Dienst stellen, in bestimmten Berufszweigen arbeiten oder weil sie
60
als besonders vermögend gelten, so ist dies zwar zutreffend. Alle neueren
Auskunftsquellen und Gutachten weisen auf die verworrene Gemengelage bei den
Motiven der Angreifer hin. Es darf aber nicht übersehen werden, dass diese Motive zum
Teil ausschließlich in der Gedankenwelt der Angreifer existieren und mehr einer
religiösen Propaganda und bewussten Denunziation entsprechen ohne jeglichen realen
Hintergrund. Dies gilt etwa für den Vorwurf der Unterstützung der Koalitionstruppen oder
die Vorstellung, dass Christen besonders reich wären. In anderen Fällen, in denen
besonderes nicht moslemisches Verhalten abgestraft werden soll, wie zum Beispiel im
Falle von Alkoholladenbesitzern oder solchen Christen, die in Friseur- und
Schönheitssalons arbeiten, sind potentiell zwar auch Muslime, die sich den
traditionellen muslimischen Wertvorstellungen nicht unterordnen, Gefährdungen
ausgesetzt. Allerdings sind derartige Berufszweige traditionell in der Hand von
Angehörigen religiöser Minderheiten, die dort überpro- portional stark vertreten sind. So
können etwa Alkoholläden im Irak legal nur von Nichtmuslimen betrieben werden.
Die Anknüpfung an die christliche Religionszugehörigkeit bei den geschilderten
Verfolgungshandlungen mag daher nicht immer eindeutig erkennbar sein. Sie ist aber
doch ein in jedem Falle die Verfolgungsbetroffenheit mitprägender Umstand. Zu
berücksichtigen ist auch, dass Christen als Minderheit bereits jetzt in einem Klima
allgemeiner moralischer, religiöser und gesellschaftlicher Verachtung leben und sie -
obwohl „Buchbesitzer" - weit verbreitet als Ungläubige angesehen werden. Im Irak hat
sich eine Intoleranz, eine grundsätzliche Feindschaft zu religiösen Minderheiten
herausgebildet, die Bestandteil des Volksbewusstseins irakischer Schiiten und
Sunniten ist. Die innere Haltung ist geprägt von Ablehnung, Abgrenzung und einem tief
sitzenden Empfinden von der Inferiorität der Christen. Ob nach alledem die Annahme
einer Gruppenverfolgung von Christen zumindest regional begrenzt auf den Großraum
Mossul und Bagdad bereits jetzt gerechtfertigt ist, lässt die Kammer ausdrücklich offen.
61
Hieran ändert auch nichts die Stellungnahme des Deutschen Orient-Instituts vom
06.09.2005 an das Verwaltungsgericht Sigmaringen zu der Lage der Christen im Irak.
Der Gutachter geht davon aus, dass die in der Auskunft vom 14.02.2005 an das
Verwaltungsgericht Köln geäußerte Auffassung einer Gefährdung der irakischen
Christen als Gruppe zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht aufrecht erhalten bleiben
könne. Nach dieser - von ihm selbst „im höchsten Maße als vorläufig" bezeichneten -
Stellungnahme hätten Christen eine staatliche Verfolgung im Irak nicht zu befürchten.
Verfolgung von Christen durch Islamisten geschehe nicht unter dem Schutz des
irakischen Staates. Betroffen von Terrormaßnahmen seien schließlich alle Iraker
ungeachtet ihrer Religionszugehörigkeit.
62
Dieser Einschätzung steht allerdings die des UNHCR entgegen,
63
vgl. Hintergrundinformation zur Gefährdung von Angehörigen religiöser Minderheiten im
Irak, Oktober 2005 und Gutachten an VG Stuttgart vom 06.09.2005,
64
der für den Berichtzeitraum bis Oktober 2005 zu dem Ergebnis kommt, dass Christen
von der dramatischen Verschlechterung der Situation nicht-muslimischer
Religionsgemeinschaften besonders stark betroffen seien. Die gestiegene Zahl iraki-
scher Christen, die nach dem Ende des Krieges im Irak Zuflucht im benachbarten Syrien
gesucht hätten, müsse als ernstzunehmendes Indiz für eine weitere Zuspitzung der
Situation der Christen gewertet werden. Mit einem Anteil von 36 Prozent stellten
Christen die größte Gruppe der zwischen Oktober 2003 und März 2005 registrierten
65
irakischen Flüchtlinge in Syrien dar. Nach den Erkenntnissen des UNHCR werden
aufgrund der Ineffizienz der irakischen Sicherheitskräfte und der den Übergriffen
innewohnenden religiösen Komponenten die meisten Vorfälle dieser Art den Behörden
nicht angezeigt, so dass von einer hohen Dunkelziffer von Übergriffen gegen Christen
auszugehen sei. Die Opfer bleiben vielmehr häufig im Verborgenen, um keine weitere
Aufmerksamkeit zu erregen, und entscheiden sich schließlich zum Verlassen der
Gegend, um weiteren Bedrohungen aus dem Wege zu gehen. Der UNHCR hat zudem
Anzeichen dafür festgestellt, dass sich auch staatliche Behörden in zunehmendem
Maße an Diskriminierungen religiöser Minderheiten beteiligen.
Die Situation der Christen im Irak bedarf angesichts dieser Gegebenheiten einer
sorgfältigen Beobachtung. Die Kammer schließt daher nach wie vor nicht aus, dass bei
einer weiteren Verschärfung der Lage eine regional begrenzte Gruppenverfolgung
anzunehmen sein wird.
66
4. Unabhängig von der Frage einer Gruppenverfolgung der Christen ist die Klägerin
aber individuell aus religiösen Gründen verfolgt, weil sie bei einer Rückkehr nach
Bagdad dort asylerheblichen Eingriffen in ihre Religionsfreiheit durch nichtstaatliche
Akteure ausgesetzt wäre.
67
a) Eine Verfolgung aus religiösen Gründen im Sinne des Art. 16 a GG - und des § 60
Abs. 1 AufenthG -, liegt nach ständiger Rechtsprechung auch dann vor, wenn in das
religiöse Existenzminimum des Einzelnen eingegriffen wird. Dies ist jedenfalls dann der
Fall, wenn einem Glaubensangehörigen angesonnen wird, seine Religionsausübung
oder gar seine Religionszugehörigkeit als solche geheimzuhalten, um (staatlichen)
Repressalien zu entgehen. Die Religionsausübung im häuslich-privaten Bereich und
die Möglichkeit zum religiösen Bekenntnis im nachbarschaftlich-kommunikativen
Bereich gehören zu dem durch das Asylrecht geschützten elementaren Bereich der
sittlichen Person,
68
vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.12.1994 - 2 BvR 1426/91 - InfAuslR 1995, 210-211;
BVerwG, Beschluss vom 25.06.2004 - 1 B 282/03 -, Juris. Nach dem
übereinstimmenden Inhalt der vorliegenden Auskunftsquellen sind Christen im
Großraum Mossul und Bagdad zur Vermeidung von asylerheblichen Übergriffen
gezwungen, ihr Christsein zu verbergen. Sobald Christen als solche erkannt werden,
besteht für sie in dem genannten Gebiet die erhebliche Gefahr, an Leib und Leben
verletzt zu werden. Christliche Frauen und Mädchen sehen sich genötigt, sich auf der
Straße zu verschleiern und traditionellen muslimischen Kleidungsvorschriften zu
unterwerfen, christliche Männer sich einen muslimischen Bart wachsen zu lassen, um
ihr Christsein in der Öffentlichkeit zu verbergen. Um nicht als Christ erkannt zu werden,
vermeiden sie die Besuche von Gottesdiensten und halten sich traditionell christlichen
Berufsausübungen fern. Christen sind auch gezwungen, ihre Religionszugehörigkeit im
engsten nachbarschaftlich kommunikativen Bereich zu verbergen, um nicht in die
Gefahr zu geraten, aufgrund von Denunziationen in das Blickfeld islamistischer Gruppen
zu geraten,
69
vgl. Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten vom 07.03.2005 an VG
Köln; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 14.02.2005 an VG Köln; amnesty
international, Gutachten vom 29.06.2005 an VG Köln.
70
Dieser Zwang, seine religiöse Identität zu verbergen, stellt einen Eingriff in das religiöse
71
Existenzminimum jedes Einzelnen dar und ist damit asylrechtlich erheblich. Denn es
kann einem Glaubenszugehörigen nicht angesonnen werden, seine Religionsausübung
oder gar seine Religionszugehörigkeit als solche geheim zu halten, um Repressalien zu
entgehen.
Es kommt daher im vorliegenden Fall nicht darauf an, ob die der deutschen
Rechtsprechung geläufige Unterscheidung zwischen „Forum internum" und „Forum
externum" der Genfer Flüchtlingskonvention entspricht und inwieweit diese
Unterscheidung unter Berücksichtigung der EU-Qualifikationsrichtlinie noch aufrecht
erhalten werden kann,
72
vgl. zur richtlinienkonformen Auslegung vor Ablauf der Umsetzungsfrist Urteil der
Kammer vom 10.06.2005 - 18 K 4074/04.A -, Juris.
73
Vor diesem asylerheblichen Eingriff in ihr religiöses Existenzminimum findet die
Klägerin auch keinen Schutz durch die irakische Übergangsregierung oder dieser
nachgeordnete Stellen. Es entspricht übereinstimmender Auskunftslage, dass irakische
staatliche Stellen im ehemaligen Zentralirak weder über die Möglichkeiten effektiver
Schutzgewährung verfügen,
74
vgl. hierzu im einzelnen Urteil der Kammer vom 10.06.2005 - 18 K 4074/04.A -, Juris,
75
noch bezogen auf Christen irgendwelche Maßnahmen zur Schutzgewährung ergreifen,
76
vgl. Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten vom 07.03.2005 an VG
Köln; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 14.02.2005 an VG Köln; amnesty
international, Gutachten vom 29.06.2005 an VG Köln.
77
Das Gericht ist daher davon überzeugt, dass die Klägerin, die praktizierender Christin
ist, bei einer Rückkehr nach Bagdad ernsthaft gefährdet wäre, Opfer eines islamistisch
motivierten Angriffs und dabei an Leib und Leben verletzt zu werden, wenn sie ihre
Religionszugehörigkeit nicht bewusst verbergen würde, was ihr aus den oben
genannten Gründen nicht zugemutet werden kann.
78
Die Situation der Klägerin verschärft sich zusätzlich dadurch, dass sie auch auf- grund
ihres Frauseins, einem nach § 60 Abs. 1 S. 3 AufenthG schutzrelevanten Merkmal,
schon der erhöhten Gefahr unterliegen, Opfer von Tötungen, Entführungen, sexuellen
Übergriffen und ernsthaften Bedrohungen zu werden,
79
vgl. UNHCR, Anmerkungen zur gegenwärtigen Situation von Frauen im Irak, April 2005;
Schweizerische Flüchtlingshilfe, Irak - Update - Die aktuelle Lage, 15.06.2005;
Europäisches Zentrum für kurdische Studien (Siamend Hajo & Eva Savelsberg),
Gutachten vom 03.11.2004 und 07.03.2005 an VG Köln sowie vom 02.11.2004 an VG
Regensburg; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 14.02.2005 an VG Köln; amnesty
international, Gutachten vom 29.06.2005 und vom 16.08.2005 an VG Köln.
80
b) Der dargelegten Bedrohung unterliegt die Klägerin auch landesweit, weil sie nicht auf
das allein in Betracht kommende ehemals autonome Kurdengebiet verwiesen werden
kann. Auch wenn im kurdischen verwalteten Nordirak die Sicherheitslage insgesamt
stabiler und auch Übergriffe auf Christen seltener sein mögen, genügt dieses Gebiet bei
Zugrundelegung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes nicht den
81
Anforderungen, die an eine den Asylanspruch ausschließende inländische
Fluchtalternative zu stellen sind,
vgl. zur Anwendbarkeit der Grundsätze der inländischen Fluchtalternative auf die
autonomen Kurdengebiete im Nordirak BVerwG, Urteil vom 08.12.1998 - 9 C 17.98 -,
NVwZ 1999, 544; OVG NRW, Urteile vom 05.05.1999 - 9 A 4671/98.A -, und vom
08.03.2001 - 9 A 2993/98.A -.
82
Nach den Grundsätzen der inländischen Fluchtalternative ist die Schutzgewährung
wegen politischer Verfolgung ausgeschlossen, wenn der Asylsuchende auf Gebiete
seines Heimatstaates verwiesen werden kann, in denen er - nach dem herabgestuften
Wahrscheinlichkeitsmaßstab - vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist, und
wenn ihm dort - nach dem allgemeinen Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit -
keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere
einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung gleichkommen, sofern diese
existenzielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde,
83
vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 - BVerfGE 80, 315
(342 ff.); BVerwG, Urteile vom 15.05.1990 - 9 C 17.89 -, BVerwGE 85, 139 (145), vom
20.11.1990 - 9 C 73.90 -, InfAuslR 1991, 181, vom 08.12.1998 - 9 C 17.98 -, vom
05.10.1999 - 9 C 15/99 -, und vom 30.04.1996 - 9 C 171.95 -, DVBl. 1996, 1259.
84
Iraker aus dem Zentral- oder Südirak können indessen aufgrund der politischen
Ungewissheit über Umfang und Inhalt einer künftigen Autonomie des Nordirak und der
prekären humanitären Situation zurzeit nur mit äußerster Vorsicht und nach Abwägung
sämtlicher Umstände des Einzelfalls auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme einer
inländischen Fluchtalternative in den kurdisch verwalteten Gebieten im Nordirak
verwiesen werden. Die unter kurdischer Verwaltung stehenden Gebiete sind dazu
derzeit für Iraker aus anderen Teilen des Landes nur eingeschränkt zugänglich,
85
zur Lage in den kurdischen Regionen des Nordirak vgl. UNHCR, Gutachten an VG
Stuttgart vom 06.09.2005.
86
Auf dieser Grundlage kann die aus dem Zentralirak stammende Klägerin auf eine
inländische Fluchtalternative in den kurdischen Regionen des Nordirak daher nicht
verwiesen werden. Sie verfügt weder über familiäre noch sonstige soziale Bindungen in
den Nordirak. Mangels bestehender familiärer oder sonstiger sozialer Kontakte könnte
die Klägerin im Nordirak gegenwärtig und auf absehbare Zeit keine ihr Überleben auf
Dauer sichernde Existenzgrundlage finden.
87
vgl. Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Gutachten vom 07.03.2005 an VG
Köln; Deutsches Orient-Institut, Gutachten vom 14.02.2005 an VG Köln; amnesty
international, Gutachten vom 29.06.2005 an VG Köln.
88
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 83 b AsylVfG.
89