Urteil des VG Köln vom 30.04.2009

VG Köln: beginn der frist, wiedereinsetzung in den vorigen stand, berechnung der frist, bekanntgabe, stillschweigende annahme, verwaltungsakt, vorverfahren, abgabenordnung, anfechtungsklage, datum

Verwaltungsgericht Köln, 13 K 4793/07
Datum:
30.04.2009
Gericht:
Verwaltungsgericht Köln
Spruchkörper:
13. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
13 K 4793/07
Tenor:
Der Beitragsbescheid Nr. 29 der Beklagten in der Fassung ihres
Widerspruchsbescheides vom 12. Oktober 2007 wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte. Die Hinzuziehung eines
Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die
Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder
Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, soweit
nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe
leistet.
Tatbestand
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Die Klägerin betreibt eine Eierpackstelle. Als solche unterlag sie seit 1993 der
Beitragspflicht nach dem Absatzfondsgesetz. Die gesetzlichen Grundlagen für die
Beitragserhebung sind vom Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 3. Februar 2009 -
2 BvL 54/06 - für den Zeitraum ab 1. Juli 2002 für nichtig erklärt worden.
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Mit Datum vom 1. August 2007 erstellte die Klägerin eine so bezeichnete "Absatzfonds-
Beitragsmitteilung" für den Zeitraum von 1. Januar bis 30. Juni 2007, in der sie anhand
der verpackten Eier (5.687.820 Stück) den Beitrag selbst auf 1.706,10 Euro errechnete.
Die Beitragsmitteilung enthält den Passus
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"Diese Beitragsmitteilung gilt als Bescheid, wenn der Beitragsbetrag darin zutreffend
angegeben wird. Ist dies nicht der Fall, so erteilt die Bundesanstalt einen
Beitragsbescheid."
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Die auf dem seitens der Beklagten zur Verfügung gestellten Vordruck aufgedruckte
Rechtsbehelfsbelehrung lautete dahin gehend, dass gegen "diesen Bescheid ... binnen
eines Monats nach Bekanntgabe Widerspruch erhoben werden" könne.
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Die Beitragsmitteilung ging am 3. August 2007 bei der Beklagten ein und wurde durch
eine Unterschrift vom selben Tage seitens eines Mitarbeiters der Beklagten als
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zutreffend qualifiziert; am 14. August 2007 überwies die Klägerin den von ihr
errechneten Betrag.
Mit Schreiben vom 10. September 2007, eingegangen bei der Beklagten am 11.
September 2007, legte die Klägerin vertreten durch ihre Prozessbevollmächtigten
Widerspruch gegen die Festsetzung der Absatzfondsbeträge für den Zeitraum Januar
bis Juni 2007 ein. Zur Begründung verwies sie auf die Ausführungen im achtseitigen
Widerspruchsschreiben vom 30. Juli 2003 für den Beitragszeitraum Januar bis Juni
2003. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 12. Oktober 2007 als
unzulässig zurück, weil die Widerspruchsfrist nicht eingehalten worden sei. Die Klägerin
habe als Selbstveranlagerin eine zutreffende Beitragsmitteilung abgegeben, die mit der
widerspruchslosen Entgegennahme durch die Beklagte am 3. August 2007 als
Beitragsbescheid gelte. Nach der Rechtsprechung sei die Heranziehung zu Beiträgen
nach dem Absatzfondsgesetz aufgrund einer Selbsterrechnungserklärung des
Beitragspflichtigen so anzusehen, als wäre ein Beitragsbescheid ergangen, der die
Rechtsmittelfrist in Lauf setze. Der erst am 11. September 2007, einem Dienstag,
eingegangene Widerspruch der Klägerin wahre die damit laufende Monatsfrist nicht. Der
Widerspruchsbescheid wurde am 15. Oktober 2007 zugestellt.
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Am 14. November 2007 hat die Klägerin Anfechtungsklage erhoben.
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Zur Begründung trägt sie vor, aus der von der Beklagten herangezogenen
Rechtsprechung ergebe sich, dass nicht in der Übersendung der Beitragsmitteilung
durch die Klägerin, sondern erst in deren widerspruchsloser Entgegennahme durch die
Beklagte ein Verwaltungsakt gesehen werden könne. Dieser Zeitpunkt sei für den
Betroffenen nicht bestimmbar. Die Frist für einen Rechtsbehelf beginne erst zu laufen
wenn die Entscheidung dem Betroffenen bekannt gegeben worden sei; daran fehle es
hier, denn die widerspruchslose Entgegennahme sei der Klägerin nicht bekannt
gegeben worden. Selbst wenn man eine Bekanntgabe unterstellen würde, fehle es an
einer Rechtsbehelfsbelehrung; die der Beitragsmitteilung beigegebene könne nicht als
auf den späteren Zeitpunkt der widerspruchslosen Entgegennahme bezogen
verstanden werden. Der Erlass einer quasi prophylaktischen Rechtsbehelfsbelehrung
vor Erlass des eigentlichen Verwaltungsakts sei mit der Rechtsschutzgarantie
unvereinbar. Folge sei, dass jedenfalls vom Lauf einer Jahresfrist für die Einlegung des
Widerspruchs auszugehen sei; diese Frist habe die Klägerin gewahrt.
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Entgegen der Ansicht der Beklagten könnten hier nicht Regelungen der
Abgabenordnung für die Steuererhebung analog angewendet werden. Die insoweit in
Bezug genommene Steueranmeldung sei der Beitragsmitteilung nach dem
Absatzfondsgesetz nicht vergleichbar. Die Steueranmeldung sei kein Verwaltungsakt
und bedürfe daher auch keiner Rechtsbehelfsbelehrung. Hier aber gehe die Beklagte
davon aus, dass mit der widerspruchslosen Entgegennahme ein Verwaltungsakt
ergehe. Auch im Übrigen fehle es an der Vergleichbarkeit. Anders als in der
Abgabenordnung komme es bei der Beitragsmitteilung nicht auf den Zeitpunkt des
Eingangs bei der Behörde an, sondern auf den Zeitpunkt, in dem die Beklagte die
Mitteilung als zutreffend werte und daher keinen anderen Beitragsbescheid erlasse.
Dieser Zeitpunkt sei aber nicht erkennbar oder auch nur schätzbar.
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In der Sache macht die Klägerin geltend, dass die Beitragserhebung nach dem
Absatzfondsgesetz verfassungswidrig sei, wie das Bundesverfassungsgericht nunmehr
auch festgestellt habe.
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Die Klägerin beantragt,
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den Beitragsbescheid Nr. 29 der Beklagten in der Fassung ihres
Widerspruchsbescheides vom 12. Oktober 2007 aufzuheben,
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und
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die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu
erklären.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie bezieht sich auf die Darlegungen im Widerspruchsbescheid; mit der
widerspruchslosen Entgegennahme sei die Bekanntgabe des Verwaltungsakts
gegeben. Die Bekanntgabe werde fingiert. Mit dieser fingierten Bekanntgabe beginne
auch der Lauf der Rechtsbehelfsfrist. Dagegen könne nicht auf den Vorgang der
Billigung der Beitragsmitteilung abgestellt werden, etwa durch die Sollstellung oder das
Verbuchen des erklärten Betrages, denn diese Vorgänge blieben behördenintern.
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Darüber hinaus macht sie geltend, die Beitragserhebung durch
Selbsterrechnungserklärungen entspreche der aus dem Steuerrecht bekannten
Steueranmeldung; auch hier sei der Abgabenpflichtige gehalten, einen eventuellen
Einspruch binnen eines Monats nach Eingang der Steueranmeldung bei der
Steuerbehörde einzulegen. Mangels Mitteilung des Eingangs sei der Adressat darauf zu
verweisen, den Eingang in entsprechender Anwendung von verfahrensrechtlichen
Vorschriften zu schätzen und solle davon ausgehen, dass die Beitragsmitteilung binnen
drei Tagen nach Absendung eingegangen sei. Auch könne er sich bei der Beklagten
telefonisch nach dem Datum des Eingangs erkundigen. Danach sei aber hier von einer
Nichteinhaltung der Monatsfrist auszugehen. Ein Grenzfall, der eine Wiedereinsetzung
in den vorigen Stand rechtfertige, sei nicht gegeben, weil der Widerspruch erst fünf
Wochen nach Absendung der Beitragsmitteilung eingegangen sei.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten Bezug
genommen.
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Entscheidungsgründe
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Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.
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Der - fiktive - Beitragsbescheid Nr. 29 der Beklagten ist entgegen ihrer Auffassung nicht
bestandskräftig, vielmehr hat die Klägerin rechtzeitig Widerspruch eingelegt, weil
jedenfalls die beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung unzutreffend gewesen ist und
Widerspruch innerhalb eines Jahres eingelegt werden konnte. Die Einhaltung der
Widerspruchsfrist des § 70 VwGO ist als Zulässigkeitsvoraussetzung der Klage von
Amts wegen zu prüfen,
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Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 13. Februar 1987 - 8 C 128.84 -; Neue
24
Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 1988, 63; Oberverwaltungsgericht für das Land
Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Urteil vom 26. September 1994 - 22 A 2426/94 -,
NVwZ-RR 1995, 623 f.; Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007 § 70 Rn. 6 m. w. N.
Die Beitragserhebung erfolgt hier auf der Grundlage des Gesetzes über die Errichtung
eines zentralen Fonds zur Absatzförderung der deutschen Land- und
Ernährungswirtschaft (Absatzfondsgesetz - AbsFondsG) in Verbindung mit der aufgrund
der in § 10 Abs. 8 AbsFondsG enthaltenen Verordnungsermächtigung erlassenen
Verordnung über die Beiträge nach dem Absatzfondsgesetz (AbsFondsGBeitrV). Nach
§ 10 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Nr. 7 AbsFondsG werden von den Betrieben der
Land- und Ernährungswirtschaft Beiträge erhoben, die für Eierpackstellen 0,30 Euro je
1.000 verpackte Eier betragen. Der Betriebsinhaber hat gemäß § 4 Abs. 2
AbsFondsGBeitrV der Beklagten die für die halbjährliche Beitragsschuld maßgeblichen
Mengen innerhalb eines Monats nach Ablauf des Kalenderhalbjahres zusammen mit
einer Errechnung des geschuldeten Beitrages mitzuteilen. Die Beitragsmitteilung gilt
nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AbsFondsGBeitrV als Beitragsbescheid, wenn der
Beitragsbetrag darin zutreffend angegeben worden ist.
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1. Bei der Prüfung der Rechtzeitigkeit des von der Klägerin eingelegten Widerspruchs
kann zum einen dahinstehen, ob es sich bei der seitens der Klägerin als einer
Privatperson erstellten Beitragsmitteilung bzw. Selbsterrechnungserklärung um einen
Verwaltungsakt handelt, bei dem allenfalls in der stillschweigenden widerspruchslosen
Annahme durch die Beklagte die "hoheitliche Maßnahme einer Behörde" als
konstitutives Merkmal des Verwaltungsakts im Sinne von § 35 Satz 1 des
Verwaltungsverfahrensgesetzes gesehen werden kann,
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so das BVerwG in st. Rspr. zu § 26 Gewerbesteuergesetz a. F., vgl. Urteil vom 26. Juni
1964 - VII C 6.64 -, Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE) 19, 68
(69); Urteil vom 16. Oktober 1964 - VII C 100.63 -, BVerwGE 19, 323 (325); Urteil vom
18. September 1970 - VII C 68.68 -, Kommunale Steuerzeitschrift (KStZ) 1971, 10 (11);
Urteil vom 18. August 1972 - VII C 55.70 -, Verwaltungsrechtsprechung) (VerwRspr.) 24
Nr. 171 sowie BVerwG, Urteil vom 27. April 1995 - 3 C 9.95 -, Neue Zeitschrift für
Verwaltungsrecht - Rechtsprechungsreport (NVwZ-RR) 1996, 107 für die vergleichbare
Beitragsleistung zum Deutschen Weinfonds;
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denn ein Verwaltungsakt im Sinne von § 35 Satz 1 VwVfG kann nicht durch die
Regelung in dem im Rang unter dem förmlichen Bundesgesetz stehenden § 4 Abs. 3
Satz 1 AbsFondsGBeitrV fingiert werden,
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BVerwG, a.a.O., NVwZ-RR 1996, 107.
29
Ebenfalls offen bleiben kann, ob diese "stillschweigende Annahme" seitens der
Behörde, die Gegenstand der Anfechtungsklage sein soll,
30
BVerwG, wie vor,
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der Klägerin in einer dem § 41 VwVfG genügenden Weise "bekannt gegeben" und
damit wirksam worden ist. Die verfassungsrechtlich geforderte Bekanntgabe dient der
Information des Betroffenen darüber, was die Behörde als für ihn rechtens einseitig
hoheitlich regelnd festgestellt hat,
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vgl. nur U. Stelkens, in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl. 2008, § 41 Rn. 1.
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Die Bekanntgabe sieht das Bundesverwaltungsgericht gleichfalls in der
unbeanstandeten Entgegennahme der Steuererklärung, weil die Behörde, soweit sie
nichts anderes erkläre, einen entsprechenden Bescheidungswillen habe, um etwaige
Einwendungen des Beitragspflichtigen an Rechtsmittelfristen zu binden; dem
Beitragspflichtigen, der die Selbsterrechnungserklärung abgegeben und die Steuer
gezahlt habe, sei dieser Heranziehungsakt bekannt. Praktikabilitäts- wie
Billigkeitsgesichtspunkte forderten die Wertung, dass mit der widerspruchslosen
Entgegennahme der Selbsterrechnungserklärung auch die Bekanntgabe anzunehmen
sei.
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BVerwG, Urteil vom 18. August 1972, a.a.O.; ebenso BVerwG, Urteil vom 30. Juni 1972 -
7 C 36.70 -, Buchholz 401.5 § 26 GewStG Nr. 4 (S. 8 f.). Ähnlich BVerwG, Urteil vom 18.
September 1970 - 7 C 68.68 -, KStZ 1971, 10 (11).
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Ob an dieser vor Inkrafttreten der §§ 35, 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes
vertretenen Rechtsauffassung festgehalten werden kann, bedarf keiner Entscheidung.
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Allerdings hat die Klägerin die Monatsfrist nicht eingehalten. Nach § 70 Abs. 1 Satz 1
VwGO ist der Widerspruch innerhalb eines Monats, nachdem der Verwaltungsakt dem
Beschwerten bekannt gegeben worden ist, schriftlich einzulegen, wobei nach § 70 Abs.
2 VwGO der § 58 VwGO entsprechend gilt. Jedoch hat hier die Widerspruchsfrist nicht
zu laufen begonnen, weil die Rechtsbehelfsbelehrung unrichtig erteilt worden ist, so
dass der Widerspruch gemäß § 70 Abs. 2, § 58 Abs. 2 VwGO innerhalb eines Jahres
nach Eingang der Beitragsmitteilung bei der Beklagten eingelegt werden konnte. Dabei
kommt es nicht darauf an, ob die Beklagte nach § 59 VwGO gegebenenfalls zur
Beifügung einer Rechtsbehelfsbelehrung verpflichtet war oder nicht. Denn fügt sie eine
bei, muss diese richtig sein.
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Nach § 58 Abs. 1 VwGO beginnt die Widerspruchsfrist nur zu laufen, wenn der Adressat
über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsbehörde oder das Gericht, bei denen der
Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich belehrt
worden ist. Zu der Belehrung über die Frist gehört zwar nicht, dass der Adressat im
Einzelnen über den Beginn der Frist, die Berechnung der Frist sowie die dafür
maßgeblichen Besonderheiten aufgrund der Art der Bekanntgabe oder Zustellung
belehrt wird. Fügt die Behörde jedoch solche Hinweise bei, müssen sie zutreffend und
nicht irreführend sein,
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vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007, § 58 Rn. 11, 12, 13.
39
Auch ist es nicht erforderlich, in einer Rechtsbehelfsbelehrung auf sämtliche Modalitäten
einer Fristberechnung hinzuweisen. Das Risiko einer falschen Berechnung kann dem
Empfänger aber nur insoweit zugemutet werden, als ihm die für die Fristberechnung
notwendigen Fakten, insbesondere der Beginn der Frist, entsprechend den gesetzlichen
Vorschriften angegeben werden und er anhand dieser Angaben die Frist berechnen
kann,
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vgl. OVG NRW, Beschluss vom 4. März 2009 - 5 A 924/07 -, juris Rn. 27.
41
Der Empfänger muss in die Lage versetzt werden zu berechnen, bis wann er seinen
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Rechtsbehelf anbringen muss.
Fehlerhaft ist eine Rechtsbehelfsbelehrung dann, wenn sie die in § 58 Abs. 1 VwGO
zwingend geforderten Mindestangaben nicht enthält oder wenn diesen Angaben ein
unzutreffender oder irreführender Zusatz beigefügt ist, der sich generell eignet, die
Einlegung des Rechtsbehelfs zu erschweren,
43
BVerwG, Urteil vom 27. April 1990 - 8 C 70.88 -, Neue Juristische Wochenschrift (NJW)
1991, 508.
44
Gemessen an diesem durch Art. 19 Abs. 4 GG gerechtfertigten Maßstab war die der
Beitragsmitteilung beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung zumindest irreführend, wenn
nicht unzutreffend. Denn sie hätte den erheblichen Besonderheiten dieses
Heranziehungsverfahrens - Erstellen der Beitragsmitteilung durch den
Abgabeschuldner, konkludenter Verwaltungsakt durch widerspruchslose
Entgegennahme der Behörde, fiktive Bekanntgabe im Zeitpunkt des Eingangs bei der
Beklagten - durch entsprechend klare Hinweise Rechnung tragen müssen. Dies ist mit
der Angabe, dass die Widerspruchsfrist mit der "Bekanntgabe" zu laufen beginne, aber
nicht erfolgt. Statt auf die hier in der Realität nicht erfolgte Bekanntgabe hätte die
Klägerin auf den Zeitpunkt des Eingangs der Beitragsmitteilung bei der Beklagten als
den Lauf der Monatsfrist des § 70 Abs. 1 VwGO in Gang setzendes Ereignis
hingewiesen werden müssen, wie dies im Übrigen in der von der Beklagten als
Parallele bemühten Abgabenordnung der Fall ist. Hier bestimmt § 355 Abs. 1 Satz 2 AO
für die einem Steuerbescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleichgestellte (§
167 Abs. 1 Satz 1, § 168 AO), der Beitragsmitteilung nach dem Absatzfondsgesetz
vergleichbare Steueranmeldung in einer dem Gebot des fairen Verfahrens und dem
Rechtsschutzgebot des Art. 19 Abs. 4 GG gerecht werdenden Deutlichkeit, dass der
Einspruch gegen eine Steueranmeldung innerhalb eines Monats nach Eingang
einzulegen ist.
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Die aufgrund der fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung frühestens ab dem 3. August
2007 - Eingang der Erklärung bei der Beklagten - laufende Jahresfrist hat die Klägerin
mit dem am 11. September 2007 eingelegten Widerspruch gewahrt.
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2. Die Klage hat auch in der Sache Erfolg. Der Beitragsbescheid Nr. 29 der Beklagten in
der Fassung ihres Widerspruchsbescheides vom 12. Oktober 2007 ist rechtswidrig und
verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Mit der
Verfassungswidrigerklärung der maßgeblichen Rechtsgrundlagen des § 10 Abs. 1 bis 8
AbsFondsG ab dem 1. Juli 2002 durch das Bundesverfassungsgericht,
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Urteil vom 3. Februar 2009 - 2 BvL 54/06 -, Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl.) 2009,
375,
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fehlt es an einer Rechtsgrundlage für die Beitragserhebung im hier betroffenen Jahr
2007.
49
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren war für notwendig zu
erklären. Gemäß § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO sind auf Antrag die Gebühren und
Auslagen eines Bevollmächtigten im Vorverfahren erstattungsfähig, wenn das Gericht
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die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig erklärt.
Notwendig ist die Zuziehung eines Bevollmächtigten nach der ständigen
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dann, wenn es der Partei nach ihren
persönlichen Verhältnissen nicht zuzumuten war, das Verfahren selbst zu führen.
Maßgeblich ist insoweit, ob ein verständiger Bürger mit gleichem Bildungs- und
Erfahrungsstand bei gleicher Sach- und Rechtslage sich eines Rechtsanwalts bedient
hätte. Die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren und
damit die Erstattungsfähigkeit seiner Gebühren und Auslagen ist in der Regel zu
bejahen, da ohne rechtskundigen Rat der Bürger nur in Ausnahmefällen materiell und
verfahrensrechtlich in der Lage ist, seine Rechte gegenüber der Verwaltung
ausreichend zu wahren,
vgl. nur Kopp/Schenke, a.a.O., § 162 Rn. 18 m. w. Nachw.
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Diese Voraussetzungen sind hier gegeben, insbesondere angesichts der sich hier
stellenden schwierigen verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Fragen. Die
Prozessbevollmächtigten der Klägerin sind für diese im Vorverfahren als
Bevollmächtigte tätig geworden und haben Widerspruch eingelegt sowie diesen
begründet.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 Satz 1 und
Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.
54
Gründe, die Berufung zuzulassen, bestehen nicht. Das Urteil weicht nicht im Sinne des
Zulassungsgrundes des § 124a Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 123 Abs. 2 Nr. 4 VwGO von der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ab, weil dieses die Frage, welche
Anforderungen im Einzelnen an die Rechtsbehelfsbelehrung bei einer Konstellation wie
der vorliegenden zu stellen sind, noch nicht entschieden hat. Auch hat die Sache keine
grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 124a Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 123 Abs. 2 Nr. 3
VwGO, weil es sich nach der Verfassungswidrigerklärung der Grundlagen der
Beitragserhebung nach dem Absatzfondsgesetz um ausgelaufenes Recht handelt.
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