Urteil des VG Köln vom 04.11.2005

VG Köln: politische verfolgung, widerruf, anerkennung, bundesamt, gefährdung, eltern, folter, familie, gefahr, asylrecht

Verwaltungsgericht Köln, 3 K 7669/04.A
Datum:
04.11.2005
Gericht:
Verwaltungsgericht Köln
Spruchkörper:
3. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
3 K 7669/04.A
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
T a t b e s t a n d
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Die am 21.12.1983 in B. /Türkei geborene Klägerin ist türkische Staatsangehö- rige. Sie
ist die Tochter der Klägerin des Verfahrens 3 K 7670/04.A und des in der Türkei zu
lebenslanger Haft verurteilten N. L. ; das Urteil ist noch nicht rechts- kräftig.
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Sie war im Februar 1985 gemeinsam mit ihrer Mutter auf dem Luftwege in die
Bundesrepublik Deutschland eingereist und hatte im Juli 1987 gemeinsam mit ihren
Eltern und Geschwistern die Anerkennung als Asylberechtigte beantragt.
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Mit Bescheid vom 03.02.1988 war der Asylantrag der Klägerin, ihrer Eltern und der
Brüder abgelehnt worden. Das Bundesamt hatte u.a. ausgeführt, es ließen sich dem
Sachvortrag der Eltern keine Hinweise auf eine politisch motivierte Verfolgung der
Klägerin entnehmen.
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Mit Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 03.09.1992 - 15 K 10993/88 - wurde die
Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 03.02.1988 verurteilt, u.a. die Klägerin
als Asylberechtigte anzuerkennen und festzustellen, dass die Vorausset- zungen des §
51 Abs. 1 AuslG (a.F.) vorliegen. Das Gericht hatte ausgeführt, der Vater der Klä- gerin
habe sich in Deutschland in einem Maße engagiert, dass davon auszugehen sei, dass
ihm bei einer Rückkehr in die Türkei politische Verfolgung drohe. Der An- spruch der
Klägerin ergebe sich daraus, dass sie sich auf die politisch motivierte Ver- folgung ihres
Vaters berufen könne.
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Die Beklagte legte gegen dieses Urteil kein Rechtsmittel ein. Sie erkannte mit Bescheid
vom 09.12.1992 u.a. die Klägerin als Asylberechtigte an und stellte das Vorliegen der
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (a.F.) fest.
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Nachdem dem Vater der Klägerin das Asylrecht aberkannt worden war, wurde die
Klägerin mit Schreiben vom 25.05.2004 zum beabsichtigten Widerruf der Asylbe-
rechtigung angehört. Die Beklagte führte aus, die Asylberechtigung des Vaters und die
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Feststellung der Flüchtlingseigenschaft seien zwischenzeitlich unanfechtbar auf-
gehoben. Es sei davon auszugehen, dass nunmehr auch die Gefährdung der Kläge- rin
entfallen sei, da diese Folge der Gefährdung des Vaters gewesen sei. Hinzu komme,
dass sich die Verhältnisse in der Türkei entscheidend verändert hätten (z.B. die
Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte). Mit Bescheid vom 15.10.2004 wider- rief die
Beklagte die mit Bescheid vom 09.12.1992 ausgesprochene Anerkennung als
Asylberechtigte sowie die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des
Ausländergesetzes (a.F.) vorliegen. Gleichzeitig wurde festgestellt, dass Ab-
schiebungshindernisse nach § 53 des Ausländergesetzes (a.F.) nicht vorliegen. Zur
Begründung wurde angegeben, die Voraussetzungen für die Anerkennung als Asyl-
berechtigte und die Feststellung des Abschiebungsverbotes nach § 51 Abs. 1 AuslG
(a.F.) lägen nicht mehr vor, weil sich die erforderliche Prognose drohender politischer
Verfolgung nicht mehr treffen lasse. Habe der Asylbewerber schon einmal politische
Verfolgung erlitten, so könne ihm asylrechtlicher Schutz nur versagt werden, wenn eine
Wiederholung mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden könne. Das
Verwaltungsgericht Köln sei in seiner Entscheidung vom 03.09.1992 aufgrund der
damals in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen von einer Gefährdung der
Klägerin als Tochter eines in der Türkei gesuchten politischen Straftäters ausgegan-
gen. Es habe eine Inhaftierung und damit verbundene scharfe Verhöre mit Übergrif- fen
und Misshandlungen bis hin zu Folter mit dem Ziel, Auskunft über den Aufent- haltsort
des gesuchten Vaters zu erzwingen, angenommen. Diese Voraussetzungen lägen
heute nicht vor. Es gebe keine Sippenhaft im rechtlichen Sinne. Der Umstand allein, aus
einer Familie zu stammen, in der Mitglieder „politisch-oppositionell" tätig sind, führe zu
keiner Strafverfolgung, sofern nicht für eigene Aktivitäten Anhaltspunk- te vorlägen. Es
könne zwar vorkommen, dass Familienangehörige im Rahmen des
Ermittlungsverfahrens zu Vernehmungen geladen würden und im Falle der Nichtbe-
folgung zwangsweise Vorführungen erfolgten. Das Recht auf Aussageverweigerung sei
aber dabei im Grundsatz gewährleistet. Die Ausübung eines wie auch immer ge- arteten
Zwanges zum Erhalt von Auskünften über den Aufenthaltsort des Vaters der Klägerin
könne ausgeschlossen werden, nachdem dieser sich seit dem 12.10.2004 in türkischem
Gewahrsam befinde. Aufgrund des Bekanntheitsgrades und der Be- deutung des Vaters
der Klägerin könne auch ausgeschlossen werden, dass ihr bei einer Abschiebung in die
Türkei Folter und Misshandlung drohen könne. Mit der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit
auf den Fall der Familie L. gerade vor dem Hintergrund der anstehenden Entscheidung
über den künftigen EU-Beitritt der Türkei wirke sich diese Schutzfunktion auch auf die
Klägerin selbst in gleicher Weise aus wie auf ihren Vater. Entgegen der Ansicht der
Verfahrensbevollmächtigten könne nicht davon ausgegangen werden, dass der
türkische Staat auf nahestehende Ver- wandte eines politischen Gegners zugreife, denn
die in der Türkei in dem Dorf B1. (Kreis F. ) lebenden Familienangehörigen des Vaters
der Klägerin (Cou- sins T. und D. L. und deren Familien) hätten nach Erkenntnissen des
Bundesamtes keinerlei Schwierigkeiten mit der Gendarmerie gehabt. Es sei ferner
davon auszugehen, dass die Klägerin unverfolgt ausgereist sei.
Die Klägerin hat am 27.10.2004 Klage erhoben. Sie trägt vor, dass sie originär als
Asylberechtigte anerkannt worden sei und kein Familienasyl erhalten habe. Sie habe
allerdings keine Nachfluchttatbestände verwirklicht.
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Die Klägerin beantragt,
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den Bescheid der Beklagten vom 15.10.2004 aufzuheben.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie verweist auf den Inhalt des angefochtenen Bescheides.
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Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt des Sitzungsprotokolls, der Streitakte dieses
Verfahrens und des Verfahrens des Mutter der Klägerin - VG Köln, 3 K 3770/04.A - und
der beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie der den Beteiligten im Verlaufe des
Verfahrens bekanntgegebenen Auskünfte, Stellungnahmen und
Presseveröffentlichungen Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
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Der Widerrufsbescheid des Bundesamts vom 15.10.2004 ist im maßgeblichen
gegenwärtigen Zeitpunkt rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.
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Der Widerruf der der Klägerin durch Bundesamtsbescheid vom 09.12.1992 in
Verbindung mit dem Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 03.09.1992 - 15 K
10993/88 - zuerkannten Rechtsposition aus Art. 16a GG, § 51 Abs. 1 des am 01.01.2005
außer Kraft getretenen Ausländergesetzes beurteilt sich nach § 73 AsylVfG in der seit
dem 01.01.2005 geltenden Fassung vom 30.07.2004 (BGBl. I S. 1950).
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Danach ist die Asylanerkennung bzw. die Feststellung eines Abschiebungsverbots
gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG (vormals § 51 Abs. 1 AuslG) bindend zu widerrufen, sofern
die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen und nicht von einem Widerruf gemäß §
73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG abzusehen ist.
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Für die Klägerin liegen die Voraussetzungen des Art. 16a GG, § 60 Abs. 1 AufenthG
(früher § 51 Abs. 1 AuslG) (jetzt) nicht mehr vor. Der für die Anerkennung der Klägerin
maßgebliche Umstand besteht nicht mehr (1.) und es kann ferner mit ernstliche Zweifel
ausschließender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die Klägerin als
Türkin bei Rückkehr in ihre Heimat gegenwärtig und auf absehbare Zeit auch aus
anderen Gründen weder einer gruppengerichteten politischen Verfolgung noch einer
individuellen politischen Verfolgung unterworfen sein wird (2.). Schließlich ist der
Bescheid auch nicht wegen des am 01.01.2005 neu eingefügten § 73 Abs. 2a AsylVfG
aufzuheben (3.).
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1. Das Bundesamt hat zutreffend festgestellt, dass der maßgebliche Grund für die nach
dem Urteil des VG Köln vom 03.09.1992 - 15 K 10993/88 - mit jetzt widerrufenem
Bescheid vom 09.12.1992 erfolgte Anerkennung der Klägerin als Asylberechtigte nicht
mehr besteht. Das Gericht hatte damals ausgeführt, der Vater der Klägerin habe sich in
Deutschland in einem Maße engagiert, dass davon auszu- gehen sei, dass ihm bei
einer Rückkehr in die Türkei politische Verfolgung drohe. Der Anspruch der Klägerin
ergebe sich daraus, dass sie sich auf die politisch motivierte Verfolgung ihres Vaters
berufen könne. Nach den türkischen Strafgesetzen sei zwar eine „Sippenhaft" nicht
vorgesehen, Verwandte von gesuchten politischen Straftätern würden aber inhaftiert und
scharf verhört, um sie zur Preisgabe des Aufenthaltsortes der gesuchten Person zu
zwingen. Dabei komme es auch zu Übergriffen und Misshandlungen bis hin zur Folter.
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Diese Gefahr besteht nach Überstellung des N. L. an die türkische Justiz unzweifelhaft
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nicht mehr fort. Das Bundesamt hat im übrigen überzeugend dargelegt, dass auch aus
Gründen der sonstigen Informationsbeschaffung durch türkische Stel- len keine Gefahr
eines Zugriffs auf die Klägerin besteht.
2. Die Klägerin hat die Türkei auch unverfolgt verlassen; insoweit sind die Ausführungen
des Bundesamtes in dem Bescheiden vom 03.08.1988 und vom 15.10.2004 schon mit
Rücksicht auf das Alter der Klägerin bei Ausreise (14 Monate) nicht zu beanstanden.
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Das Vorhandensein von Nachfluchtgründen hat die Klägerin selbst ausgeschlossen.
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Auch die in der mündlichen Verhandlung unter Beweis gestellte und vom Gericht als
wahr unterstellte Tatsache, dass die Klägerin seit mehreren Monaten vergeblich
versucht hat, über das türkische Generalkonsulat einen türkischen Reisepass zu
erhalten, ist für das hiesige Verfahren nicht von Bedeutung, denn dieser Umstand ist
nicht geeignet, die Schwelle der asylerheblichen Verfolgung der Klägerin durch
türkische Behörden darzutun und zu begründen.
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3. Die Klägerin kann auch nichts für sie Günstiges daraus herleiten, dass nach dem mit
Wirkung vom 01.01.2005 neu eingeführten § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG nunmehr eine
Ermessensentscheidung zu treffen ist, wenn nach der in dieser Vorschrift erstmals
verbindlich geforderten Prüfung, die jetzt spätestens nach drei Jahren zu erfolgen hat,
ein Widerruf oder eine Rücknahme nicht erfolgt ist. § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG findet
aus materiell-rechtlichen Gründen auf vor dem 01.01.2005 wirksam und noch nicht
unanfechtbar gewordene Widerrufsentscheidungen keine Anwendung.
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So auch Hess. VGH, B. v. 17.05.2005 - 7 UZ 345/05.A -.
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Der hessische VGH hat in dieser Entscheidung, der das erkennende Gericht sich
anschließt, u.a. ausgeführt, das ergebe sich sowohl aus der Gesetzessystematik als
auch aus dem Zweck der Regelung.
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Mit § 73 Abs. 2a AsylVfG sei mit Wirkung ab 01.01.2005 gemäß Art. 3 Nr. 46 Buchst. b
und Art. 15 Abs. 3 Zuwanderungsgesetz eine Verfahrensvorschrift eingeführt worden,
die in einem mehrstufigen Verfahren dem eigentlichen Widerruf eine obligatorische,
fristgebundene Prüfungspflicht und die Pflicht zur Mitteilung des Ergebnisses der
Prüfung an die Ausländerbehörde vorschalte. Die Neuregelung diene zum einen dem
öffentlichen Interesse an einer Überprüfung der Schutzbedürftigkeit des
Asylberechtigten oder des Ausländers, bei dem das Bundesamt das Vorliegen der
Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG festgestellt hat, zum anderen verfolge sie
ausländerrechtliche Zwecke. Denn die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach §
26 Abs. 3 AufenthG setze eine negative Prüfungsentscheidung des Bundesamts voraus.
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Der erkennbare Zusammenhang mit § 26 Abs. 3 AufenthG verdeutliche, dass es sich bei
der Prüfungs- und Mitteilungspflicht des § 73 Abs. 2a Satz 1 und 2 AsylVfG, an die die
nach § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG zu treffende Ermessensentscheidung anknüpft, um
einen zukunftsgerichteten Auftrag an das Bundesamt handele.
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Etwas anderes ergebe sich auch nicht aus § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG. Nach dieser
Vorschrift sei zwar für eine gerichtliche Entscheidung das zum Zeitpunkt der mündlichen
Verhandlung geltende neue Recht maßgeblich. Dies besage aber nicht, dass diesem
bezüglich neu eingeführter Fristbestimmungen samt daran anknüpfenden Pflichten eine
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Rückwirkung über den Zeitpunkt ihres Inkrafttretens hinaus zuzumessen wäre (so auch
Bay. VGH, B. v. 25.04.2005 - 21 ZB 05.30260 -).
Ein im Wege einer erweiternden Auslegung des § 73 Abs. 2a AsylVfG begründeter
Anspruch der Klägerin auf eine Ermessensentscheidung sei auch nicht aus
Vertrauensschutzgesichtspunkten herzuleiten (a.A. VG Darmstadt, U. v. 12.01.2005 - 1
E 2836/03.A [3] -). § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG knüpfe an die negative Mitteilung an,
dass ein Widerruf nicht erfolgen werde. Diese liege bei den sog. Altfällen jedoch nicht
vor. Es sei seitens des Bundesamts kein Vertrauenstatbestand geschaffen worden, dem
im Rahmen einer Ermessensentscheidung Rechnung getragen werden müsste. Die
sich aus dem längeren Aufenthalt in Deutschland ergebenden individuellen Belange
eines Ausländers seien im ausländerrechtlichen Verfahren, in dem regelmäßig nach
pflichtgemäßem Ermessen nach § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG darüber zu ent-
scheiden ist, ob der aufgrund der nun widerrufenen asylrechtlichen Entscheidung
gewährte Aufenthaltstitel zu widerrufen ist, zu berücksichtigen. Das Asylrecht ziele
dagegen auf die objektive Schutzbedürftigkeit des Ausländers ab. Sei diese entfallen,
bedürfe es des Asyl- oder Flüchtlingsstatus nicht mehr.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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