Urteil des VG Köln vom 18.11.2010

VG Köln (eugh, öffentliche sicherheit, juristische person, kläger, zeitpunkt, kommentar, verfügung, ex tunc, lex specialis, bundesrepublik deutschland)

Verwaltungsgericht Köln, 1 K 3497/06
Datum:
18.11.2010
Gericht:
Verwaltungsgericht Köln
Spruchkörper:
1. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
1 K 3497/06
Tenor:
Die Ordnungsverfügung des Beklagten vom 18. April 2006 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheids des Landrats des Rhein-Sieg Kreises vom
29. Juni 2006 wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte. Die Hinzuziehung eines
Bevollmächtigten durch den Kläger im Vorverfahren wird für notwendig
erklärt.
Tatbestand
1
Der Kläger meldete zum 01. Dezember 2005 beim Beklagten das Gewerbe
"Sportwetten Vermittlung" an. In seiner in der L. Straße 0000, 00000 U. gelegenen
Betriebsstätte vermittelte er Sportwetten für den in England ansässigen und mit einer
dort erteilten staatlichen Konzession ausgestatteten Anbieter "H. (V. ) M. ".
2
Mit Verfügung vom 18. April 2006 untersagte der Beklagte dem Kläger unter Berufung
auf die §§ 14 Abs. 1 und 17 Ordnungsbehördengesetz (OBG) die Weiterführung seines
Betriebes in Bezug auf das Betreiben von Sportwetten oder anderer Wetten auf den
Ausgang bestimmter Ereignisse, insbesondere
3
- das Bereithalten bzw. Zugänglichmachen der Angebote von Glücksspielveranstaltern
(z.B. Sportwetten Buchmacher),
4
- die Annahme und die Auswertung von Formularen zur Beteiligung an Glücksspielen
(z.B. Wettscheine, Lose),
5
- die unmittelbare Übernahme der Angaben des Teilnehmers am Glücksspiel in eine
Datenverarbeitungsanlage,
6
- die Übermittlung der Teilnahme- oder Wettangebote an die Veranstalter,
7
- die Entgegennahme der Einsätze und die Auszahlung der Gewinne.
8
Zugleich ordnete er die sofortige Vollziehung an und drohte dem Kläger für den Fall,
dass dieser der Verfügung nicht innerhalb von 3 Tagen nach Zustellung Folge leiste, ein
9
Zwangsgeld in Höhe von 5.000,- EUR an. Zur Begründung führte er im Wesentlichen
aus, der Kläger verursache eine Störung der öffentlichen Sicherheit, da er durch das
Betreiben des Gewerbes Sportwetten-Vermittlung den Straftatbestand des § 284
Strafgesetzbuch (StGB) erfülle. Danach sei nämlich das Anbieten und/oder Vermitteln
von privaten Sportwetten - mit Ausnahme von Pferderennwetten - ohne eine in
Deutschland geltende Erlaubnis verboten. Diese Tätigkeit sei im Hinblick auf das in § 1
Abs. 1 Satz 2 Sportwettengesetz NRW normierte staatliche Sportwettenmonopol auch
nicht erlaubnisfähig,
Mit Bescheid vom 29. Juni 2006, zugestellt am 30. Juni 2006, wies der Landrat des
Rhein-Sieg Kreises den hiergegen eingelegten Widerspruch des Klägers vom 20. April
2006 unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des OVG NRW als unbegründet
zurück.
10
Nachdem das OVG NRW durch Beschluss vom 12. Dezember 2006 -4 B 1693/06- den
Aussetzungsantrag des Klägers - abweichend vom Ausgangsbeschluss der
erkennenden Kammer vom 14. Juli 2006 (1 L 690/06) - abgelehnt hatte, meldete der
Kläger zu einem hier nicht bekannten Zeitpunkt das in Rede stehende Gewerbe beim
Beklagten ab; er hat inzwischen keine tatsächliche Zugriffsmöglichkeit mehr auf die
Räumlichkeiten der in Rede stehenden Betriebsstätte.
11
Mit der am 28. Juli 2006 erhobenen Klage macht der Kläger im Wesentlichen geltend:
Die Untersagungsverfügung sei rechtswidrig und verletze ihn in seinen Rechten. Die
das staatliche Sportwettenmonopol begründenden gesetzlichen Regelungen verstießen
gegen Art. 43 und 49 EG und seien schon deshalb seit dem Erlass der angegriffenen
Verfügung rechtswidrig. Sie erfüllten wegen der unterschiedlichen Behandlung im
Vergleich zu Spielcasinos, gewerblichen Spielhallen und Pferdewetten nicht das
europarechtliche Kohärenzgebot. Das habe der EuGH in seiner jüngsten
Rechtsprechung bestätigt.
12
Der Kläger beantragt,
13
1. die Ordnungsverfügung des Beklagten vom 18. April 2006 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids des Landrats des Rhein-Sieg Kreises vom 29. Juni 2006
aufzuheben,
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2. hilfsweise festzustellen, dass die vorgenannten Verfügungen bis zum 31. Dezember
2007 rechtswidrig waren,
15
3. die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären.
16
Der Beklagte beantragt,
17
die Klage abzuweisen.
18
Er tritt dem Vorbringen des Klägers im Wesentlichen unter Berufung auf einen Erlass
des Ministeriums für Inneres und Kommunales NRW vom 14. September 2010
entgegen.
19
Soweit der Beklagte gegen den Kläger ferner wegen Nichtbefolgung der angefochtenen
Ordnungsverfügung mit Bescheid vom 28. April 2006 ein Zwangsgeld in Höhe von
20
5.000,- EUR festgesetzt hat, ist der dagegen am 04. Mai 2006 erhobene Widerspruch
des Klägers noch nicht beschieden.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen.
21
Entscheidungsgründe
22
Die Klage ist zulässig. Der Anfechtungsantrag hat sich weder durch die Abmeldung des
Gewerbes (§ 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Gewerbeordnung ) noch dadurch erledigt,
dass der Kläger die tatsächliche Verfügungsbefugnis über die Räumlichkeiten der in
Rede stehenden Betriebsstätte inzwischen verloren hat. Denn wie noch darzulegen sein
wird, ist die angefochtene Ordnungsverfügung weiterhin Rechtsgrund für die
Zwangsgeldfestsetzungen.
23
Die Klage ist ferner begründet. Die angegriffene Ordnungsverfügung ist im
maßgeblichen Zeitpunkt rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113
Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung ).
24
1. Bei der Beantwortung der Frage nach dem maßgeblichen Zeitpunkt ist im
vorliegenden Falle zu berücksichtigen, dass sich die in Betracht kommenden
Rechtsgrundlagen seit dem Erlass der angegriffenen Ordnungsverfügung geändert
haben:
25
Vom 28. März 2006 bis zum 31. Dezember 2007 (Übergangszeitraum) fand
grundsätzlich die ordnungsbehördliche Generalermächtigung des § 14 Abs. 1 des
Ordnungsbehördengesetzes NRW (OBG) i.V.m. dem Sportwettengesetz vom 03. Mai
1955, GV NW 1955, 84, zuletzt geändert durch Art. 78 des Gesetzes vom 18. Mai 2004,
GV NRW S. 248, und - mit Wirkung ab dem 01. April 2007 - durch Art. 7 des
Haushaltsbegleitgesetzes vom 21. Dezember 2006, GV NRW S. 631, (SportwettenG
NRW) Anwendung. Allerdings durften wegen der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts
26
vgl.: Urteil vom 28. März 2006 -1 BvR 1054/01-, BVerfGE 115, 276 (319) sowie
Beschluss vom 02. August 2006 -1 BvR 2677/04-, juris Randnummer (Rn.) 16
27
das gewerbliche Veranstalten von Wetten durch private Wettunternehmen und die
Vermittlung von Wetten, die nicht durch ein Bundesland veranstaltet werden, nur dann
ordnungsrechtlich unterbunden werden, wenn bereits im Übergangszeitraum (28. März
2006 bis zum 31. Dezember 2007) damit begonnen wurde, das bestehende
Wettmonopol konsequent an einer Bekämpfung der Wettsucht und einer Begrenzung
der Wettleidenschaft auszurichten. Wenn im angegriffenen Widerspruchsbescheid
davon ausgegangen wird, dass im Übergangszeitraum zusätzlich die Bestimmungen
des Staatsvertrages zum Lotteriewesen in Deutschland, GV NRW 2004, 315, (LoStV)
und des Lotterieausführungsgesetzes NRW vom 16. November 2004, GV NRW S. 686,
(LoAG) Anwendung fänden, trifft dies nicht zu, da das SportwettenG NRW lex specialis
ist.
28
Soweit teilweise
29
OVG NRW, Beschluss vom 09. November 2006 - 4 B 1647/06 -, amtl. Abdruck S. 3
30
die Anwendbarkeit von § 15 Abs. 2 Satz 1 GewO für möglich gehalten wird, steht dem
entgegen, dass diese Vorschrift ein grundsätzlich nach Gewerberecht oder
gewerberechtlichem Nebenrecht zulassungsfähiges Gewerbe voraussetzt,
31
vgl.: BVerwG, Urteil vom 21. Juni 2006 - 6 C 19.06 -, BVerwGE 126, 149 (154) und juris
Rn. 39,
32
Daran fehlt es aber, da nach § 1 Abs. 1 Satz 2 SportwettenG NRW Träger eines
Wettunternehmens für sportliche Wettkämpfe nur eine juristische Person des
öffentlichen Rechts oder eine juristische Person des privaten Rechts sein kann, deren
Anteile überwiegend juristischen Personen des öffentlichen Rechts gehören (im
Folgenden: staatliches Sportwettenmonopol), worunter die H. (V. ) M. nicht fällt.
33
Seit dem 01. Januar 2008 richtet sich das Einschreiten gegen das Veranstalten und
Vermitteln von und das Werben für Sportwetten nach den Bestimmungen des durch Art.
1 des Gesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen vom 30. Oktober 2007, GV NRW
2007, 445, landesrechtlich inkorporierten Staatsvertrages zum Glücksspielwesen in
Deutschland (Glücksspielstaatsvertrag - GlüStV -) sowie nach den Vorschriften des
Gesetzes zur Ausführung des Staatsvertrages zum Glücksspielwesen in Deutschland
(Glücksspielstaatsvertrag Ausführungsgesetz NRW - GlüStV-AG NRW) vom 30. Oktober
2007, GV NRW 2007, 445. Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 GlüStV hat die Glücksspielaufsicht
die Aufgabe, unter anderem darauf hinzuwirken, dass unerlaubtes Glücksspiel und die
Werbung hierfür unterbleiben. Die zuständige Behörde des jeweiligen Landes kann die
erforderlichen Anordnungen im Einzelfall erlassen, § 9 Abs. 1 Satz 2 GlüStV. Sie kann
insbesondere die Veranstaltung, Durchführung und Vermittlung unerlaubter
Glücksspiele und die Werbung hierfür untersagen, § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 GlüStV.
34
In der obergerichtlichen Rechtsprechung wird einhellig
35
vgl. u.a.: Bay.VGH, Urteil vom 18. Dezember 2008 -10 BV 07.558-, juris Rn. 21; OVG
NRW, Beschluss vom 18. April 2007 -4 B 1246/06- juris Rn. 55 f; VGH Bad.-Württ.,
Beschluss vom 28. März 2007 -6 S 1972/06-, juris Rn.5
36
die Auffassung vertreten, bei Anfechtungsklagen der vorliegenden Art sei die im
Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung geltende Rechtslage maßgeblich, da
Anfechtungsgegenstand ein Dauerverwaltungsakt sei. Sei der Anspruch auf Aufhebung
eines fehlerhaften Verwaltungsakts in diesem Zeitpunkt infolge einer nachträglichen
Änderung der Rechtslage weggefallen, so würden die schutzwürdigen Interessen des
Klägers hinreichend dadurch gesichert, dass -erstens- die Änderung nicht zu seinen
Lasten verwertet werden dürfe, ohne ihm eine angemessene Gelegenheit zur
Stellungnahme zu geben, und er - zweitens - die Kostenlast durch eine
Erledigungserklärung abwenden könne.
37
Dieser Auffassung vermag die Kammer nicht zu folgen. Sie ist vielmehr der Auffassung,
dass es auf die innerhalb des Übergangszeitraums zuletzt (31. Dezember 2007)
geltende Rechtslage ankommt. Das ergibt sich aus Folgendem:
38
In Bezug auf Veränderungen der Sachlage gibt es keine prozessrechtliche Norm des
Inhalts, dass bei Anfechtungsklagen gegen Dauerverwaltungsakte solche
Veränderungen stets bis zur gerichtlichen Entscheidung zu berücksichtigen seien.
39
Vielmehr richtet sich der maßgebliche Zeitpunkt nach materiellem Recht. Nur wenn es
an gegenteiligen gesetzlichen Anhaltspunkten fehlt, kommt es auf die tatsächlichen
Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an,
so: BVerwG, Urteil vom 23. November 1990 -1 B 155/90-, Buchholz 451.20 § 35 GewO
Nr. 47.
40
Es besteht kein durchgreifender Grund, dies bei einer Änderung der Rechtslage anders
zu sehen. Vielmehr kommt es auch in derartigen Fällen - grundsätzlich - darauf an, ob
das neue Recht seine gewissermaßen rückwirkende Berücksichtigung bei der
gerichtlichen Beurteilung der nach früherem Recht erlassenen Verwaltungsakte
vorschreibt,
41
so: BVerwG, Urteil vom 21. Mai 1976 -IV C 80.74-, BVerwGE 51, 15 (24, 25); ähnlich:
BVerwG, Urteil vom 21. Juni 2006 -6 C 19.06-, a.a.O., S. 151, und juris Rn. 33;
Beschluss vom 04. Juli 2006 -5 B 90.95-, juris Rn. 6.
42
Das ist aber weder im GlüStV noch im GlüStV-AG NRW geschehen.
43
Eine Ausnahme hat das BVerwG nur für Anfechtungsklagen aus dem
Erschließungsbeitragsrecht angenommen, da dort eine Pflicht zur Beitragserhebung
bestehe und somit feststehe, dass der etwa aufgehobene Bescheid aufgrund der
geänderten Rechtslage sogleich wieder an den Beitragspflichtigen gerichtet werden
müsse,
44
so: BVerwG, Urteil vom 27. April 1990 -8 C 87.88-, Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 218.
45
Vergleichbare Voraussetzungen sind im Sportwettenrecht nicht gegeben.
46
Unter diesen Umständen ist zwar einerseits wegen der Dauerwirkung der
angefochtenen Verfügung nicht - wie in der Regel bei der Anfechtung sonstiger
Verwaltungsakte - auf den Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung (hier: 29.
Juni 2006) abzustellen. Andererseits ist jedoch zu berücksichtigen, dass den gemäß §
29 Abs. 1 Satz 1 GlüStV und § 22 Abs. 1 GlüStV-AG NRW am 01. Januar 2008 in Kraft
getretenen Bestimmungen des neuen Glücksspielrechts keine Rückwirkung zukommt.
Das ergibt sich nicht nur aus dem Fehlen einer ausdrücklichen Rückwirkungsregelung,
sondern auch daraus, dass durch § 22 Abs. 2 GlüStV-AG NRW das vorher geltende
SportwettenG NRW - erst - mit Wirkung ab dem 01. Januar 2008 aufgehoben wurde.
Daher kann das neue Recht weder für die vor diesem Zeitpunkt erlassenen
Verwaltungsakte gelten noch findet es ab diesem Zeitpunkt ohne weiteres auf Alt-
Verfügungen Anwendung.
47
Etwas anderes ließe sich für den nach dem 01. Januar 2008 liegenden Zeitraum
allenfalls dann annehmen, wenn und soweit die angegriffene Maßnahme durch eine
ergänzende, auf das neue Glücksspielrecht gestützte Verfügung aufrechterhalten
worden wäre,
48
so: BVerfG, Beschluss vom 20. März 2009 -1 BvR 2410/08-, NVwZ 2009, 1221 (1223)
und juris Rn. 22 .
49
Eine solche Verfügung liegt hier aber nicht vor. Soweit der Beklagte in seiner
50
Klageerwiderung und in der mündlichen Verhandlung die Auffassung vertritt, die
Rechtmäßigkeit der angefochtenen Ordnungsverfügung beurteile sich auch nach dem
neuen Glücksspielrecht, handelt es sich lediglich um eine juristische
Meinungsäußerung. Um einen Ermessensverwaltungsakt ab einem bestimmten
Zeitpunkt auf eine neue Rechtsgrundlage zu stellen, bedürfte es jedoch eines
ergänzenden, entsprechend begründeten Verwaltungsakts,
a.A. OVG Lüneburg, Beschluss vom 08. Juli 2008 -11 MC 71/08-, juris Rn. 28.
51
Dies auch deshalb, weil dadurch der ursprüngliche Dauerverwaltungsakt in seinem
Wesen geändert würde. Denn anders als dieser wäre eine auf das neue
Glücksspielrecht gestützte Maßnahme gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. § 9 Abs. 2
GlüStV kraft Gesetzes sofort vollziehbar.
52
Abgesehen davon kann entgegen der o.g. obergerichtlichen Rechtsprechung auch nicht
davon ausgegangen werden, dass in Fällen der vorliegenden Art der Anfechtungskläger
dem durch die Berücksichtigung einer nachträglichen Änderung der Rechtslage
bedingten teilweisen Wegfall seines Aufhebungsanspruchs durch die Abgabe einer
Erledigungserklärung begegnen könne. Denn ein Verwaltungsakt ist nicht erledigt,
wenn er sofort vollziehbar ist und daher vom Adressaten befolgt wird, erst recht nicht,
wenn er - wie hier im Hinblick auf die Zwangsgeldfestsetzungen - der Rechtsgrund für
noch belastende Vollziehungsmaßnahmen ist,
53
vgl. BVerwG, Urteil vom 25. September 2008 -7 C 5.08-, Buchholz 345 § 6 VwVG Nr. 1;
VGH Mannheim, Urteil vom 20. Januar 1989 -5 S 3157/88-, NVwZ-RR 1989, 515; OVG
Koblenz, Urteil vom 20. November 1996 -8 A 13546/95-, NVwZ 1997, 1009;
Eyermann/Schmidt, VwGO, Kommentar, 12. Aufl., Rn. 81 zu § 113; Kopp/Schenke,
VwGO, Kommentar, 16. Aufl., Rn. 106 zu § 113; Kuntze, in Bader/Funke-
Kaiser/Kuntze/v.Albedyll, VwGO, Kommentar, 4. Aufl., Rn. 53 zu § 113; Wolff in
Sodan/Ziekow, VwGO, Großkommentar, 3. Aufl., Rn. 250 zu § 113; a.A. bei
irreversiblem Vollzug: Gerhardt, in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO,
Kommentar, Rn. 88 zu § 113.
54
Schließlich verbietet sich ein ausschließliches Abstellen auf die Rechtslage im
Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung auch deshalb, weil dann die Frage der
Rechtmäßigkeit der Verfügung für den vorhergehenden Zeitraum offen bliebe, obwohl
der Kläger zu Recht deren Aufhebung ex tunc verlangt. Dies wäre nicht nur
verfassungsrechtlich zu beanstanden,
55
so: BVerfG, Beschluss vom 20. März 2009 -1 BvR 2410/08-, a.a.O.,
56
sondern widerspräche auch dem als allgemeiner Grundsatz des Europarechts
geltenden Gebot effizienten Rechtsschutzes,
57
vgl.: EuGH, Urteil vom 13. März 2007, Unibet, C-432/05, Slg. 2007, I-2271, Rn. 37, 38.
58
2. Im nach alledem maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt (31. Dezember 2007) verstößt
die untersagte Tätigkeit nicht gemäß § 14 Abs. 1 OBG gegen die öffentliche Sicherheit.
Bei den vom Kläger vermittelten und beworbenen Sportwetten handelt es sich nämlich
nicht um unerlaubtes Glücksspiel im Sinne von § 284 Abs. 1 oder § 285 StGB. Zwar
besitzt der Wettanbieter H. (V. ) M. keine in NRW geltende behördliche Erlaubnis zum
59
Veranstalten von Sportwetten. Doch kann dies ihm - und damit auch dem Kläger als
Vermittler - nicht entgegengehalten werden, da die vom BVerfG durch das o.g. Urteil
aufgrund verfassungsrechtlicher Erfordernisse modifizierten Regelungen über das
staatliche Sportwettenmonopol wegen Verstoßes gegen die durch Art. 49 des Vertrags
zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG) geschützte Dienstleistungsfreiheit
unanwendbar sind.
Nach Art. 49 Abs. 1 EG sind Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs
innerhalb der Gemeinschaft für Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen
Staat der Gemeinschaft als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind, nach
Maßgabe der Art. 50 bis 55 EG verboten. Diese Vorschrift ist anwendbar, wenn
wenigstens einer der Leistungsanbieter in einem anderen Mitgliedstaat als dem
niedergelassen ist, in dem die Leistung angeboten wird, es sei denn, Art. 43 EG
(Niederlassungsfreiheit) ist einschlägig. Letzteres ist aber nicht der Fall, denn es ist
nichts dafür vorgetragen oder sonstwie ersichtlich, dass es sich beim Gewerbebetrieb
des Klägers um eine Tochtergesellschaft, Zweigniederlassung oder Agentur der H. (V. )
M. handelt,
60
vgl. EuGH, Urteil vom 08. September 2010, Winner Wetten, C-409/06, http://eur-
lex.europa.eu, Rn. 44 - 47.
61
Das aus dem staatlichen Sportwettenmonopol folgende Verbot des Veranstaltens von
Sportwetten durch rein privatrechtlich organisierte Anbieter, die ihren Sitz in einem
anderen Mitgliedstaat als dem haben, in dem die Wetten vermittelt werden sollen, stellt
eine Beschränkung des Rechts des Veranstalters auf freien Dienstleistungsverkehr dar,
62
so: EuGH, Urteil vom 06. November 2003, Gambelli u.a., C-243/01, Slg. 2003, I-13031,
Rn. 58.
63
Nach Art. 55 i.V.m. Art. 46 Abs. 1 EG beeinträchtigt eine solche Beschränkung
allerdings nicht die Anwendbarkeit der Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die eine
Sonderregelung für Ausländer vorsehen und aus Gründen der öffentlichen Ordnung,
Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind.
64
2.1 Das staatliche Sportwettenmonopol genügt im Übergangszeitraum diesen
Anforderungen schon in formeller Hinsicht nicht.
65
Der Text des Art. 46 Abs. 1 EG fordert für die Rechtfertigung von Beeinträchtigungen
"Rechts- und Verwaltungsvorschriften". Ferner ist eine mitgliedstaatliche Beschränkung
von Grundfreiheiten vergleichbar mit dem Fall der Unvereinbarkeit nationalen Rechts
mit dem europäischen Primärrecht, so dass auch in formeller Hinsicht dafür keine
niedrigeren Anforderungen gelten können. Zur Ausräumung einer Unvereinbarkeit im
letztgenannten Sinne hat der EuGH verbindliches innerstaatliches Recht verlangt, das
denselben rechtlichen Rang haben muss wie die zu ändernde Bestimmung,
66
so: EuGH, Urteil vom 15. Oktober 1986, Rechtssache 168/85, Slg. 1968, S. 02945, Rn.
13.
67
Außerdem hat der EuGH gerade für das Glücksspielrecht gefordert, dass die
Mitgliedstaaten das von ihnen angestrebte Schutzniveau "genau" zu bestimmen haben,
68
so: Urteil vom 06. März 2007, Placanica u.a., C-338/04, C-359/04 und C-360/04, Slg.
2007, I-1891, und juris Rn. 48; Urteil vom 08. September 2009, Liga Portuguesa u.a., C-
42/07, http://eur-lex.europa.eu, Rn. 59; Urteil vom 03. Juni 2010, Ladbrokes, C-258/08,
http://eur-lex.europa.eu, Rn. 20.
69
Die Maßgaben im o.g. Urteil des BVerfG (a.a.O. S. 319)
70
- Es ist "unverzüglich ein Mindestmaß an Konsistenz zwischen dem Ziel der
Begrenzung der Wettleidenschaft und der Bekämpfung der Wettsucht einerseits und der
tatsächlichen Ausübung des Monopols andererseits herzustellen".
71
- Es muss in der Übergangszeit "bereits damit begonnen werden, das bestehende
Wettmonopol konsequent an einer Bekämpfung der Wettsucht und einer Begrenzung
der Wettleidenschaft auszurichten. Der Staat darf die Übergangszeit nicht zu einer
expansiven Vermarktung von Wetten nutzen. Daher sind bis zu einer Neuregelung die
Erweiterung des Angebots staatlicher Wettveranstaltungen sowie eine Werbung, die
über sachliche Informationen zur Art und Weise der Wettmöglichkeit hinausgehend
gezielt zum Wetten auffordert, untersagt. Ferner hat die Staatliche Lotterieverwaltung
umgehend aktiv über die Gefahren des Wettens aufzuklären".
72
entsprechen nicht diesen europarechtlichen Anforderungen.
73
Diesen Maßgaben kommt nicht derselbe rechtliche Rang wie der gesetzlichen Vorschrift
des § 1 Abs. 2 SportwettenG NRW zu. Zwar haben gemäß § 31 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG
Entscheidungen über Verfassungsbeschwerden Gesetzeskraft, wenn das BVerfG ein
Gesetz als mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar oder unvereinbar oder für nichtig
erklärt. Auf diese Vorschrift lassen sich aber die in Rede stehenden Maßgaben nicht
stützen.
74
In Ziffer 1 des Urteilstenors erklärt das BVerfG das Bay. Staatslotteriegesetz "nach
Maßgabe der Gründe mit Artikel 12 Absatz 1 Grundgesetz für unvereinbar". Selbst wenn
man im Hinblick auf den Beschluss des BVerfG vom 02. August 2006 - 1 BvR 2677/04 -
75
a.a.O., Rn. 17
76
dasselbe - trotz anders gefasster Tenorierung - für die Rechtslage in NRW annimmt,
betreffen die Maßgaben nicht die Unvereinbarkeitserklärung unter Ziffer 1. Vielmehr
konkretisieren sie Ziffer 3 des Tenors, wonach bis zur Neuregelung das Bay.
Staatslotteriegesetz nach Maßgabe der Gründe weiter angewandt werden darf. Dabei
handelt sich um eine Geltungsanordnung trotz Unvereinbarkeit des untersuchten
Gesetzes mit Art. 12 Abs. 1 GG, die ihre Grundlage nur in § 35 BVerfGG haben kann,
77
vgl. BVerfG, Urteile vom 11. Oktober 1994, BVerfGE 91, 186 (207), vom 01. Juli 1998,
BVerfGE 98, 169 (215); Beschluss vom 24. November 1998, BVerfGE 99, 300 (331);
Bethge, DVBl 2007, 917 (920); Hömig, in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge,
Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 95 Rn. 51; Löwer, in Handbuch des Staatsrechts,
Band II , § 56 Rn. 108, 166;
78
Obwohl derartige Anordnungen Bindungswirkung haben und als Rechtsgrundlage für
die Verwaltungstätigkeit ausreichen, kommt ihnen keine Gesetzeskraft zu,
79
vgl.: Bethge, in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge,
Bundesverfassungsgerichtsgesetz, § 31 Rn. 194, 247, 248 und § 35 Rn. 45; Hömig,
a.a.O.
80
Daran ändert auch nichts, dass Ziffer 3 des Tenors des BVerfG-Urteils entsprechend §
31 Abs. 2 BVerfGG im Bundesgesetzblatt (2006, I 1161) mit dem Hinweis veröffentlicht
wurde, dass sie Gesetzeskraft habe. Denn derartige Veröffentlichungen haben nur
deklaratorische Bedeutung.
81
Unter diesen Umständen kann auf sich beruhen, welche Bedeutung dem Umstand
zukommt, dass nach einer späteren Entscheidung des BVerfG
82
Beschluss vom 22. November 2007 -1 BvR 2218/06-, NVwZ 2008, 301 (303) und juris
Rn. 38
83
die vor dem Übergangszeitraum geltende Rechtslage nicht zur Rechtfertigung einer
Untersagungsverfügung herangezogen werden durfte, was sich eigentlich mit der
Funktion einer Fortgeltungsanordnung und der Formulierung "darf weiter angewandt
werden" nicht vereinbaren lässt.
84
Zudem wird mit den vorerwähnten Maßgaben keine "genaue" Bestimmung i.S.d. EuGH-
Rechtsprechung getroffen. Die Formulierungen "Mindestmaß an Konsistenz",
"konsequent auszurichten", "expansive Vermarktung", "aktiv aufzuklären" sind zu
unbestimmt. Ob die Übergangspraxis dem genügt, hängt überdies nicht nur von
Anweisungen des zuständigen Landesministeriums und/oder des Monopolisten
(Westdeutsche Lotteriegesellschaft), sondern auch von der lückenlosen tatsächlichen
Umsetzung vor Ort ab.
85
2.2 Aber auch in materieller Hinsicht genügt das für den Übergangszeitraum nach den
Maßgaben des BVerfG-Urteils geltende staatliche Sportwettenmonopol nicht den
Anforderungen des Art. 46 Abs. 1 EG. Zwar gehören zu den zulässigen
Beschränkungsgründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zwingende Gründe
des Allgemeininteresses, wie der Verbraucherschutz, die Betrugsvorbeugung, die
Vermeidung von Anreizen für die Bürger zu überhöhten Ausgaben für das Spielen und
die Verhütung von Störungen der sozialen Ordnung im Allgemeinen,
86
so: EuGH, Urteil Placanica u.a., juris Rn. 46; Urteil Liga Portuguesa u.a., a.a.O., Rn 56.
87
Auch steht es den Mitgliedstaaten grundsätzlich frei, die Ziele ihrer Politik auf dem
Gebiet der Glücksspiele festzulegen und das Schutzniveau zu bestimmen. Gleichwohl
muss die von ihnen vorgeschriebene Beschränkung dem
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen. Das bedeutet, dass sie geeignet sein
muss, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels in dem Sinne zu gewährleisten,
dass sie kohärent und systematisch zur Begrenzung der Wetttätigkeit beiträgt. Eine so
restriktive Maßnahme wie die Schaffung eines Monopols lässt sich daher nur mit der
Gewährleistung eines besonders hohen Verbraucherschutzniveaus rechtfertigen.
Außerdem darf die Beschränkung nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des
verfolgten Ziels erforderlich ist, und sie darf nicht diskriminierend angewandt werden,
88
so: EuGH, Urteil vom 08. September 2010, C-316/07, C-358/07 bis C-360/07, C-409/07
und C-410/07, Stoß u.a., http://eur-lex.europa.eu, Rn. 77, 83.
89
Dabei ist nicht nur auf die Verhältnisse im jeweiligen Bundesland - hier in NRW -,
sondern auf die Sach- und Rechtslage in der gesamten Bundesrepublik Deutschland
abzustellen, und zwar unabhängig davon, ob für die außer den Sportwetten in die
Beurteilung einzubeziehenden anderen Glücksspiele die Länder oder der Bund
zuständig sind. Denn ein Mitgliedstaat kann sich nicht auf Bestimmungen, Übungen
oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen, um die Nichteinhaltung seiner
aus dem Unionsrecht folgenden Verpflichtungen zu rechtfertigen,
90
so: EuGH, Urteil Stoß u.a., a.a.O., Rn. 69, 70, und Urteil vom 08. September 2010, C-
46/08, Carmen Media Group, http://eur-lex.europa.eu, Rn. 69-70.
91
Unter diesen Umständen ist von Bedeutung, dass trotz der mit dem Sportwettenmonopol
verfolgten Ziele (Begrenzung der Wettleidenschaft und Bekämpfung der Wettsucht)
andere Arten von Glücksspielen, wie Pferdewetten und Automatenspiele, keinem
staatlichen Monopol unterliegen, sondern von privaten Veranstaltern nach Erteilung
einer Erlaubnis betrieben werden dürfen. Ferner ist zu berücksichtigen, dass die
deutschen Behörden in Bezug auf Kasino- und Automatenspiele eine
Angebotsausweitung ermöglicht haben, obwohl solche Spiele ein höheres
Suchtpotenzial aufweisen als Sportwetten. So hat das Bundesverfassungsgericht
92
vgl.: Urteil vom 28. März 2006, a.a.O., S. 304, 305
93
festgestellt, dass bei weitem die meisten Spieler mit problematischem oder
pathologischem Spielverhalten nach derzeitigem Erkenntnisstand
94
vgl. Hayer/Meyer, Die Prävention problematischen Spielverhaltens, Journal of Public
Health, 2004, Seite 293, (296)
95
an Automaten spielen; an zweiter Stelle in der Statistik folgen die Casino-Glücksspiele.
Alle anderen Glücksspielformen tragen danach deutlich weniger zu problematischem
und pathologischem Spielverhalten bei.
96
Gleichwohl hat sich zwischen den Jahren 2000 und 2007 die Zahl der erlaubten
Spielbanken in Deutschland (gemessen nach Spielbankstandorten einschließlich
Dependancen) von 69 auf 85 erhöht - und anschließend bis 2009 auch nur auf 84
verringert -,
97
so Meyer, Stellungnahme vom 22. Juni 2009 (Übersicht 2) gegenüber dem Ausschuss
für Gesundheit des Deutschen Bundestages.
98
Von besonderer Bedeutung ist zudem, dass die Bedingungen für den Betrieb von
Automatenspielen in anderen Einrichtungen als Spielbanken, etwa in den unter § 33 i
GewO fallenden Spielhallen oder in den von § 3 Abs. 1 der Spielverordnung (SpielV)
erfassten Schankwirtschaften, Speisewirtschaften, Beherbergungsbetrieben und
Wettannahmestellen konzessionierter Buchmacher mit der am 01. Januar 2006 in Kraft
getretenen Fünften Verordnung zur Änderung der SpielV vom 17. Dezember 2005,
BGBl I 3495, wie folgt wesentlich gelockert wurden:
99
- Die zulässige Zahl von Gewinnspielgeräten an den in § 3 Abs. 1 SpielV genannten
Aufstellorten wurde von 2 auf 3 angehoben.
100
- In Spielhallen wurde die Mindestgrundfläche pro Gewinnspielgerät von 15 qm auf 12
qm gesenkt und die höchstzulässige Zahl von Gewinnspielgeräten von 10 auf 12
angehoben (§ 3 Abs. 2 SpielV).
101
- Bei einer unveränderten Einsatzhöhe von 0,20 EUR/Spiel und einem Höchstgewinn
von 2 EUR/Spiel wurde die Spielzeit von 12 auf 5 Sekunden gesenkt (§ 13 Abs. 1 Nr. 1
SpielV), so dass statt 300 Spielen/Stunde nunmehr 720 möglich sind.
102
Zwar wurden andererseits Punktespielgeräte - sogenannte Fun Games - (§ 6a SpielV)
und Jackpotsysteme (§ 9 Abs. 2 SpielV) verboten. Nunmehr ist auch die - allerdings
vorher bereits aufgrund einer Selbstverpflichtung der Automatenwirtschaft umgesetzte -
103
vgl.: Marcks, in Landmann/Rohmer, GewO, Kommentar, Band II, Nr. 220, § 6 SpielV Rn.
6.
104
Verpflichtung der Betreiber, Warnhinweise anzubringen und Spieler auf
Beratungsmöglichkeiten hinzuweisen, normiert (§ 6 Abs. 4 SpielV). Ferner wird nach
einer Stunde Laufzeit ein fünfminütiger Stillstand des Spielgeräts gefordert, solange
nicht die Gewinne die Einsätze deutlich übersteigen (§ 13 Abs. 1 Nr. 5 SpielV).
Schließlich hat der Verordnungsgeber den Höchstgewinn/Stunde auf 500 EUR
beschränkt (§ 13 Abs. 1 Nr. 4 SpielV), während früher je Stunde maximal (einschließlich
Sonderspiele) 600 EUR erzielt werden konnten,
105
vgl.: Marcks, a.a.O., § 13 SpielV Rn. 7.
106
Doch überwiegen die Lockerungen bei weitem die Einschränkungen, insbesondere im
Hinblick auf das mit der erheblichen Erhöhung des Spieltempos verbundene zusätzliche
Gefahrenpotenzial. Erst recht tragen die Änderungen der SpielV nicht zu einer
Verringerung der Gelegenheit zum Automaten-Geldspiel im Sinne eines - wie oben als
Erfordernis dargelegt - besonders hohen Schutzniveaus bei. Ferner ist die Möglichkeit
eines Maximalgewinns von 500 EUR/Stunde viel zu attraktiv, um bei gebotener
kritischer Betrachtung bereits als Maßnahme zur Bekämpfung der Wettsucht beurteilt
werden zu können. Ein gefährdeter oder gar pathologischer Spieler lässt sich nicht
dadurch vom übermäßigen Spielen abbringen, dass er an jedem Geldspielgerät statt
600,-EUR "nur noch" 500,- EUR gewinnen kann.
107
Unter diesen Umständen hat der EuGH sogar für den den gewerblichen
Glücksspielmarkt ab Anfang 2008 stärker einschränkenden GlüStV entschieden:
108
Art. 49 EG ist dahingehend auszulegen, "dass, wenn ein regionales staatliches Monopol
auf Sportwetten und Lotterien errichtet wurde, mit dem das Ziel verfolgt wird, Anreize zu
übermäßigen Ausgaben für das Spielen zu vermeiden und die Spielsucht zu
bekämpfen, und ein nationales Gericht sowohl feststellt,
109
- dass andere Arten von Glücksspielen von privaten Veranstaltern, die über eine
Erlaubnis verfügen, betrieben werden dürfen, als auch
110
- dass in Bezug auf andere Arten von Glücksspielen, die nicht unter das Monopol fallen
und zudem ein höheres Suchtpotenzial als die dem Monopol unterliegenden Spiele
aufweisen, die zuständigen Behörden eine zur Entwicklung und Stimulation der
111
Spieltätigkeit geeignete Politik der Angebotserweiterung betreiben, um insbesondere
die aus diesen Tätigkeiten fließenden Einnahmen zu maximieren,
das nationale Gericht berechtigten Anlass zu der Schlussfolgerung haben kann, dass
ein solches Monopol nicht geeignet ist, die Erreichung des mit seiner Errichtung
verfolgten Ziels dadurch zu gewährleisten, dass es dazu beiträgt, die Gelegenheit zum
Spiel zu verringern und die Tätigkeiten in diesem Bereich in kohärenter und
systematischer Weise zu begrenzen". Denn das angegebene Ziel kann dann mit dem
Monopol "nicht mehr wirksam verfolgt werden ..., so dass es im Hinblick auf Art. 49 EG
auch nicht mehr gerechtfertigt werden kann".
112
so: EuGH, Urteil Carmen Media Group, a.a.O., Rn. 71 und 68.
113
Es kommt somit nicht darauf an, ob sich die Inkohärenz und die fehlende Systematik
zusätzlich aus intensiven Werbekampagnen des Monopolinhabers ergeben. Diesen
Umstand hat der EuGH zwar im Parallelverfahren
114
vgl. Urteil Stoß u.a., a.a.O., Rn. 107
115
neben den oben in Parenthese wiedergegebenen Aspekten genannt, doch beruht dies
allein darauf, dass die jenem Urteil zugrunde liegenden Vorlagefragen der
Verwaltungsgerichte Gießen und Stuttgart den Aspekt der Werbung mit umfassten.
116
Die vom EuGH ferner geforderte Absicht der Einnahmenmaximierung folgt ohne
weiteres daraus, dass mit der Zulassung weiterer Spielbanken und der Ermöglichung
erweiterten Automatenspiels nach der SpielV notwendigerweise höhere Einnahmen aus
Spielbankenabgaben und örtlichen Aufwandsteuern
117
-z.B. ist nach § 3 der Satzung zur Besteuerung des Spielvergnügens an
Geldspielgeräten im Gebiet der Stadt Köln vom 16. Dezember 2005 der Spieleinsatz
Bemessungsgrundlage-
118
verbunden sind.
119
Angesichts der dem dargestellten Inhalt des EuGH-Entscheidungen widersprechenden
Ausführungen im Erlass des Ministeriums für Inneres und Kommunales NRW vom 14.
September 2010
120
Az. 14-38.07.01-3.1, Seite 4/5: "Die nationalen Gerichte sind nunmehr gehalten, jeweils
für sich zu prüfen, ob die Eignung des staatlichen Glücksspielmonopols zur effektiven
(kohärenten) Spielsuchtbekämpfung insbesondere durch das gewerbliche
Automatenspiel derzeit tatsächlich vereitelt wird."
121
besteht Anlass darauf hinzuweisen, dass alle innerstaatlichen Gerichte an die
Auslegung des Art. 49 EG durch den EuGH gebunden sind,
122
vgl.: BVerfG, Beschluss vom 09. Juni 1971 -2 BvR 225/69-, BVerfGE 31, 145 (174);
Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Band III, Rn. 96 zu Art. 234 EGV; v.d.
Groeben/Schwarze, Kommentar zum Vertrag über die EU und zur Gründung der EG, 6.
Aufl., Rn. 92, 93 zu Art. 234 EGV; Lenz/Borchardt, EU- und EG-Vertrag, Kommentar, 4.
Aufl., Rn. 61 zu Art. 234 EGV; Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl., Rn. 66 zu Art. 234
123
EGV; Streinz/Ehricke, EUV/EGV, Kommentar, Rn. 67 zu Art. 234 EGV.
Es kommt nach dieser Auslegung nicht darauf an, ob durch die SpielV die
Spielsuchtbekämpfung tatsächlich vereitelt wird. Vielmehr ist die Grenze zur Inkohärenz
bereits dann überschritten, wenn durch die in Rede stehenden Regelungen eine zur
Entwicklung und Stimulation der Spieltätigkeiten geeignete Politik der
Angebotserweiterung betrieben oder geduldet wird,
124
so: EuGH, Urteil Carmen Media Group, a.a.O., Rn. 71; Urteil Stoß u.a., a.a.O., Rn. 107.
125
Ebenso wird vom bindenden Inhalt der EuGH-Rechtsprechung abgewichen, wenn das
OVG NRW in seiner jüngsten Entscheidung auf eine "expansive Tendenz", "bewusste
und zielgerichtete Expansionsstrategie", "von vornherein bestehende Absicht" zur
Ausweitung der Spielgelegenheit abstellt und den Spielraum des nationalen Gesetz-
und Verordnungsgebers erst dann verletzt sieht, wenn "trotz belegter Ungeeignetheit"
normative Korrekturen ausbleiben bzw. keine "angemessen zeitnahe" Reaktion erfolgt,
126
so: OVG NRW, Beschluss vom 15. November 2010 -4 B 733/10-, amtl. Abdruck S. 17,
20, 21, 23, 24.
127
Wenn demgegenüber somit anzunehmen ist, dass die seit dem 01. Januar 2008
geltenden Bestimmungen des GlüStV über das staatliche Sportwettenmonopol gegen
Art. 49 EG verstoßen, dann muss dies erst recht für die im vorliegenden Fall
maßgeblichen Regelungen im Übergangszeitraum gelten. Denn nach den vom BVerfG
vorgegebenen verfassungsrechtlichen Maßgaben erfüllen diese allenfalls ein
"Mindestmaß" an Konsistenz,
128
vgl.: BVerfG, Beschluss vom 07. Dezember 2006 -2 BvR 2428/06-, NJW 2007, 1521
(1523), und juris Rn. 27.
129
Das ist zwar wegen des Urteils des BVerfG vom 28. März 2006 verfassungsrechtlich
unbedenklich. Aber aus vorrangiger europarechtlicher Sicht fehlt jeglicher Anhalt dafür,
dass eine defizitäre Rechtslage für einen Zeitraum von etwa 21 Monaten nur deshalb
hingenommen werden könnte, weil die Anwendungspraxis besser ist als vorher, aber
immer noch nicht den Anforderungen des Art. 49 EG voll genügt. Allerdings hat das
OVG NRW in ständiger Rechtsprechung, so auch im vorangegangenen
Aussetzungsverfahren
130
vgl. Beschluss vom 16. Januar 2007 -4 B 1625/06-, amtl. Abdruck S. 9 - 11,
131
die Auffassung vertreten, der Anwendungsvorrang des Europarechts könne vorerst nicht
greifen, wenn durch die Nichtanwendung einer nationalen Rechtsvorschrift eine
inakzeptable Gesetzeslücke entstehe. An das Vorliegen einer derartigen inakzeptablen
Gesetzeslücke, die zu einer temporären Durchbrechung des Anwendungsvorrangs
führe, seien zwar hohe Anforderungen zu stellen. Doch seien diese erfüllt, wenn aus der
Nichtanwendung des nationalen Rechts absehbar eine Gefährdung wichtiger
Allgemeininteressen resultiere, diese Gefährdung ersichtlich schwerer wiege als die
Beeinträchtigung der durch die jeweils verletzte europarechtliche Vorschrift geschützten
Rechtsgüter, und schließlich die Gefährdung der wichtigen Allgemeininteressen nicht
anders abgewendet werden könne als durch eine zeitlich begrenzte weitere
Anwendung der betroffenen nationalen Rechtsvorschriften. Seien diese
132
Voraussetzungen wie in Fällen der vorliegenden Art erfüllt, werde man den
Anwendungsvorrang so lange als suspendiert betrachten müssen, bis der nationale
Gesetzgeber hinreichend Gelegenheit gehabt habe, den fraglichen Lebensbereich
gemeinschaftsrechtskonform zu regeln. Im Rahmen des Vollzugs des danach weiter
anwendbaren nationalen Rechts müssten die Organe des Mitgliedstaats jedoch
regelmäßig sicherstellen, dass den Anforderungen der verletzten Norm des
Gemeinschaftsrechts so weit wie möglich Rechnung getragen werde.
Diese Rechtsauffassung, welche das BVerfG als vertretbar angesehen hat
133
so: BVerfG, Beschluss vom 07. Dezember 2006, -2 BvR 2428/06-, a.a.O. S. 1523 und
juris Rn. 29,
134
ist mit dem Europarecht nicht vereinbar. Der EuGH hat nämlich inzwischen in einem
vergleichbaren Verfahren auf Ersuchen der Kammer aufgrund von Art. 234 EG
entschieden und damit verbindlich geklärt, dass aufgrund des Vorrangs des unmittelbar
geltenden Unionsrechts eine nationale Regelung über ein staatliches
Sportwettenmonopol, die nach den Feststellungen eines nationalen Gerichts
Beschränkungen mit sich bringe, die mit dem freien Dienstleistungsverkehr unvereinbar
seien, nicht für eine Übergangszeit weiter angewandt werden darf. Daran ändere auch
nichts, wenn das BVerfG entschieden habe, die Wirkung der innerstaatlichen
Vorschriften trotz ihrer Grundrechtswidrigkeit vorübergehend aufrechtzuerhalten. Es
könne nämlich nicht zugelassen werden, dass Vorschriften des nationalen Rechts die
einheitliche Geltung und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigen,
135
so: EuGH, Urteil Winner Wetten, a.a.O., Rn. 60, 61, 69.
136
Da nach alledem die im maßgeblichen Zeitpunkt geltenden materiellen Regelungen
über das staatliche Sportwettenmonopol unanwendbar sind, wirkt sich dies
gleichermaßen auf das formelle Erfordernis der Erlaubnispflicht nach § 1 Abs. 1 Satz 1
und § 2 SportwettenG NRW aus. Dieser Erlaubnisvorbehalt macht nur Sinn für
Wettveranstalter, die aus Sicht des SportwettenG NRW überhaupt für eine solche
Erlaubnis in Betracht kommen können, nicht also für rein private Veranstalter,
137
vgl. auch: EuGH, Urteil Placanica u.a., juris Rn. 67.
138
Ebenso wenig kann es darauf ankommen, ob sich die angegriffene Verfügung etwa
darauf stützen lässt, dass die gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 SportwettenG NRW erforderliche
Erlaubnis auch an anderen, vom staatlichen Sportwettenmonopol unabhängigen
Voraussetzungen scheitern würde,
139
so für das neue Glücksspielrecht: OVG NRW, Beschluss vom 15. November 2010 - 4 B
733/10-, amtl. Abdruck S. 28 - 30.
140
Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SportwettenG NRW käme als Ablehnungsgrund allenfalls in
Betracht, dass das Wettunternehmen keine Gewähr für eine einwandfreie
Geschäftsführung bietet. Dass dies bei der H. (V. ) M. im maßgeblichen Zeitpunkt der
Fall war, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Abgesehen davon wäre ein
gerichtliches Auswechseln der Verfügungsbegründung unzulässig, da es sich bei einer
Maßnahme nach § 14 Abs. 1 OBG um eine Ermessensentscheidung handelt. Für eine
Ermessensreduzierung auf Null
141
so : OVG NRW, Beschluss vom 08. November 2004 -4 B 1270/04-, juris Rn.60
142
fehlte es an hinreichend gewichtigen Gründen. Dies zumal deshalb, weil - wie dargelegt
- der für die getroffene Maßnahme maßgebliche Vorwurf der strafrechtlichen Relevanz
des Verhaltens des Wettanbieters und des Klägers nicht zutrifft.
143
Soweit das OVG NRW schließlich in ständiger Rechtsprechung
144
vgl. Beschluss vom 16. Januar 2007 -4 B 1625/06-, amtl. Abdruck S. 13; Beschluss vom
15. November 2010 -4 B 733/10-, amtl. Abdruck S. 31
145
die Auffassung vertritt, das Vermitteln von Sportwetten stelle - unabhängig von § 1
SportwettenG und § 284 StGB - unter dem Gesichtspunkt der Spielsucht und ihrer
Folgen eine konkrete Gefahr dar, und damit - unausgesprochen - eine Gefahr für die
öffentliche Sicherheit i.S.d. § 14 Abs. 1 OBG annehmen sollte, könnte die Kammer auch
dem nicht folgen. Denn dafür, dass in jedem Einzelfall der Sportwettenvermittlung durch
den Kläger beim jeweiligen Wettteilnehmer mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
Spielsucht ausgelöst oder verschlimmert würde, fehlt es an gerichtsverwertbaren
Anhaltspunkten.
146
Da dem Klageantrag zu 1 in vollem Umfang stattgegeben wird, ist über den Hilfsantrag
nicht zu entscheiden.
147
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1 und 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO.
148