Urteil des VG Köln vom 26.11.2002

VG Köln: jugendhilfe, erstellung, verwaltungsakt, schiedsstelle, ermessensspielraum, minderjähriger, datum, untätigkeitsklage, zukunft, gesetzesänderung

Verwaltungsgericht Köln, 5 K 2800/00
Datum:
26.11.2002
Gericht:
Verwaltungsgericht Köln
Spruchkörper:
5. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
5 K 2800/00
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht
erhoben werden.
Tatbestand Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Kostenbestimmungen
der Beklagten, durch die der Kläger in 515 Einzelfällen zum überörtlichen Träger der
Jugendhilfe gemäß § 89 d SGB VIII a.F. bestimmt wurde, und über die Rechtmäßigkeit
des Verteilungsschlüssels für das Jahr 1997, der Grundlage für die einzelnen
Kostenbestimmungen war.
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Reist ein im Ausland geborener unbegleiteter minderjähriger Flüchtling oder
Asylbewerber in die Bundesrepublik Deutschland ein, so bestimmt die vom
Bundesverwaltungsamt (BVA) der Beklagten wahrgenommene Schiedsstelle gemäß §
89 d Abs. 2 SGB VIII a.F. denjenigen überörtlichen Träger der Jugendhilfe, der dem
örtlichen Jugendhilfeträger dessen aufgewandte Kosten zu erstatten hat. Hierbei hat das
BVA gemäß § 89 d Abs. 2 Satz 2 SGB VIII a.F. die Einwohnerzahl und die Belastungen,
die sich im vorangegangenen Haushaltsjahr in konkret aufgeführten Jugendhilfesachen
für die überörtlichen Jugendhilfeträger ergeben haben, zu berücksichtigen. Zur
Gewährleistung einer gleichmäßigen Kostenbelastung der überörtlichen
Jugendhilfeträger erstellte das BVA jährliche Verteilungsschlüssel, die sich jeweils
neben den Einwohnerzahlen an den tatsächlichen im Vorjahr erbrachten Kosten
orientierten. Nicht berücksichtigt wurden sogenannte „Nichtzahlungsfälle", d.h. Fälle, in
denen der Kläger eine Zahlung ablehnte und diesbezüglich Verfahren vor Gerichten
oder Spruchstellen für Fürsorgestreitigkeiten anhängig waren. In diesen Fällen war es
trotz Kostenzuweisung durch das BVA noch nicht im selben Jahr zu einer Auszahlung
der Mittel gekommen, so dass die nichtleistenden im Vergleich zu den leistenden
überörtlichen Jugendhilfeträgern vom BVA mehr Erstattungsfälle zugewiesen bekamen,
als es der Fall gewesen wäre, wenn sie gezahlt hätten.
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Am 1. Juli 1998 wurde § 89 d SGB VIII dahin geändert, dass die Kostenerstattungspflicht
unmittelbar den Ländern zugewiesen wurde. Dies hatte zur Folge, dass bis dahin fiktiv
gebliebene Kosten, die nach diesem Datum tatsächlich anfielen, nicht mehr unter den
überörtlichen Jugendhilfeträgern durch Anpassung der Zuweisung neuer
Erstattungsfälle ausgeglichen werden konnten.
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Im Jahre 1997 traf das BVA in insgesamt 515 Einzelfällen Kostenbestimmungen im
Sinne von § 89 d SGB VIII a.F., durch die der Kläger zum erstattungspflichtigen
überörtlichen Jugendhilfeträger bestimmt wurde. Die Kostenbestimmungen wurden dem
Kläger mit dem Antrag des bei ihm um Kostenerstattung bittenden örtlichen Trägers der
Jugendhilfe bekannt. 143 der 515 Kostenbestimmungen wurden ihm in der Zeit vom 2.
Januar 1997 bis zum 30. Mai 1997 bekanntgegeben.
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Mit Schreiben vom 29. April 1997 gab das BVA dem Kläger den Verteilungsschlüssel für
das Jahr 1997 mit Erläuterungen bekannt. Die Verteilung orientierte sich an der
Einwohnerzahl und den tatsächlichen Durchschnittskosten der überörtlichen
Jugendhilfeträger des vorangegangenen Haushaltsjahres.
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Gegen das den Verteilungsschlüssel übersendende Schreiben vom 29. April 1997 legte
der Kläger mit Schreiben vom 25. Februar 1998 Widerspruch ein und bat das BVA
darum, auf die vorsorgliche Einlegung des Widerspruchs in sämtlichen Einzelfällen zu
verzichten. Zur Begründung seines Widerspruchs führte er im Wesentlichen aus, dass
die vom Gesetz gewollte gleichmäßige Kostenbelastung der überörtlichen
Jugendhilfeträger nicht mehr gegeben sei. Der Grund dafür liege darin, dass er
zusammen mit anderen überörtlichen Trägern die Kostenerstattung für unbegleitete
minderjährige Asylsuchende ablehne und dadurch deutlich weniger Kosten nachweisen
könne als die erstattungsbereiten überörtlichen Jugendhilfeträger. In der Folge seien
dem Kläger daher jeweils überproportional viele neue Erstattungsfälle zugewiesen
worden (sog. Schneeballeffekt). Hierbei werde nicht berücksichtigt, dass eine fiktive
Kostenbelastung aufgrund anhängiger Verfahren vor Gerichten und Spruchstellen für
Fürsorgestreitigkeiten bestehe. Sollte der Kläger in den anhängigen Verfahren
unterliegen und die bis dahin aufgelaufenen Fälle erstatten müssen, würde er
überproportional stark belastet. Die fiktiven Kosten seien daher bei der Erstellung des
Verteilungsschlüssels zu berücksichtigen.
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Mit Schreiben vom 3. April 1998 wies das BVA den Widerspruch des Klägers als
unzulässig zurück. Bei dem Übersendungsschreiben vom 29. April 1997 und dem von
ihm nur mathematisch erstellten Verteilungsschlüssel handele es sich nicht um einen
Verwaltungsakt, sondern lediglich um einen Realakt bzw. eine sonstige Amtshandlung.
Im übrigen beschränke sich die Aufgabe des BVA als Schiedsstelle nach § 89 d Abs. 2
SGB VIII a.F. darauf, antragsgemäß einen zur Kostenerstattung verpflichteten
überörtlichen Träger nach dem Verteilungsschlüssel zu bestimmen und bei dessen
Erstellung die Einwohnerzahl und die Belastungen des vorangegangenen
Haushaltsjahres zu berücksichtigen, die sich tatsächlich ergeben haben. Es handele
sich um die mathematische Erstellung eines Belastungsvergleichs aufgrund der
eingegangenen statistischen Meldungen. § 89 d Abs. 2 SGB VIII a.F. belasse dem BVA
auch keinen Spielraum, schwebende Fälle zu berücksichtigen.
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Mit Schreiben vom 2. Juni 1998, zugegangen am 8. Juni 1998, legte der Kläger
Widerspruch gegen sämtliche zugewiesenen 515 Einzelfälle des Jahres 1997 ein,
nachdem das BVA auf den Vorschlag, auf einen vorsorglichen Widerspruch in jedem
Einzelfall zu verzichten, nicht reagiert hatte. Zur Begründung verwies er im
Wesentlichen auf sein Schreiben vom 25. Februar 1998.
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Mit Schreiben vom 29. Juni 1999 forderte der Kläger den Beklagten auf, über seinen
Widerspruch vom 25. Februar 1998 zu entscheiden.
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Die Beklagte wies die Widersprüche des Klägers gegen die Zuweisung der Einzelfälle
des Jahres 1997 mit Widerspruchsbescheid vom 9. März 2000 zurück. In 143
Einzelfällen seien die Widersprüche wegen Versäumung der Widerspruchsfrist
unzulässig. Die jeweilige Bestimmungsverfügung gemäß § 89 d SGB VIII a.F. sei dem
Kläger mit dem Antrag des bei ihm um Kostenerstattung bittenden örtlichen Trägers der
Jugendhilfe bekannt geworden. Die am 8. Juni 1998 erhobenen Widersprüche seien in
143 der 515 Einzelfällen wegen Versäumung der einjährigen Widerspruchsfrist
verfristet. In den übrigen 372 Einzelfällen sei der Widerspruch des Klägers unbegründet.
Zur Begründung führte der Beklagte im Wesentlichen den Wortlaut des § 89 d Abs. 2
SGB VIII a.F. an, aus dem sich ergebe, dass nur die tatsächlich erbrachten Kosten bei
der Verteilungspraxis berücksichtigt werden könnten.
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Der Kläger hat am 31. März 2000 Klage erhoben, mit der er sein Begehren weiter
verfolgt. Im Hinblick auf die Anfechtung des Bescheides vom 29. April 1997 über den
Verteilungsschlüssel 1997 sei die Klage als Untätigkeitsklage zulässig. Bei dem
Schreiben vom 3. April 1998 handele es sich nicht um einen Widerspruchsbescheid.
Die Klage sei auch begründet, weil das BVA beim Belastungsvergleich nach § 89 d
Abs. 2 SGB VIII a.F. nicht die fiktiven Fallkosten berücksichtigt habe. Der Wortlaut
schließe die Berücksichtigung fiktiver Kosten nicht aus, da der Gesetzestext nicht von
„nur" oder „ausschließlich" spreche. Das BVA habe durch seine Vorgehensweise
ermessensfehlerhaft und daher rechtswidrig gehandelt, da es als Schiedsstelle nicht
daran gehindert sei, das erhaltene Zahlenmaterial über die Kriterien der Einwohnerzahl
und die Kostenbelastung im vorangegangenen Haushaltsjahr hinaus qualitativ zu
werten. Der Schneeballeffekt wirke sich auch konkret aus, weil nunmehr durch Urteil
des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. Juni 1999 (5 C 24/98) in einem
Musterverfahren geklärt worden sei, dass der Kläger auch hinsichtlich minderjähriger
unbegleitender Asylsuchender erstattungspflichtig sei. Daher sei der
Verteilungsschlüssel 1997, der entsprechend der Rechtsprechung des Bayerischen
Verwaltungsgerichtshof Verwaltungsaktqualität habe, rechtswidrig. Damit entfalle
gleichzeitig die Rechtsgrundlage für die angefochtenen 515 Einzelzuweisungen. Im
übrigen könne das BVA selbst bei bereits bestandskräftigen Kostenbestimmungen
gemäß § 44 SGB X erneut entscheiden.
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Der Kläger beantragt,
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den Verteilungsschlüssel 1997 im Bescheid der Beklagten vom 29. April 1997 und die
Zuweisung aller Einzelfälle für das Jahr 1997 samt Widerspruchsbescheid der
Beklagten vom 9. März 2000 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, unter
Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
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Hilfsweise beantragt er,
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festzustellen, dass der Verteilungsschlüssel 1997 rechtswidrig war, und die Beklagte zu
verpflichten, über die dem Kläger zugewiesenen Einzelfälle erneut zu entscheiden.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Unter Wiederholung und Vertiefung seines Vorbringens aus dem Verwaltungsverfahren
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führt sie aus, dass es sich bei dem Übersendungsschreiben vom 29. April 1997, mit dem
der Verteilungsschlüssel 1997 bekanntgegeben wurde, nicht um einen Verwaltungsakt
handele. Bei der rein mathematischen Erstellung des Verteilungsschlüssels würden die
den einzelnen überörtlichen Trägern im vorangegegangenen Jahr entstandenen
Gesamtkosten zueinander in Verhältnis gesetzt. Hierdurch würden die Über- und
Unterbelastungen ausgewiesen und damit die Grundlage für die im laufenden Jahr zu
treffenden Kostenbestimmungen der überörtlichen Träger bereitgestellt. Ein Ausgleich
der zu leistenden Kosten, die aufgrund der Kostenbestimmungen im laufenden Jahr auf
die überörtlichen Träger zukämen, erfolge über den Verteilungsschlüssel des nächsten
Jahres. Das BVA treffe keine „Regelung" in dem Sinne, dass unmittelbare finanzielle
Folgen oder Rechtswirkungen auf die überörtlichen Jugendhilfeträger zukämen. Es
würden lediglich die entstandenen Kosten rein mathematisch gegenübergestellt. Sollte
der Verteilungsschlüssel doch als Verwaltungsakt zu qualifizieren sein, sei die
Untätigkeitsklage ebenfalls unzulässig, da der Widerspruch vom 25. Februar 1998 durch
das Schreiben des BVA vom 3. April 1998 bereits beschieden worden sei. Falls davon
ausgegangen werden müßte, dass es sich bei dem Schreiben vom 3. April 1998 nicht
um einen förmlichen Widerspruchsbescheid handele, sei die Klage ebenfalls
unzulässig, weil die Beklagte gleichfalls nicht untätig geblieben sei. Der Kläger habe
zweimal Widerspruch eingelegt. Der Widerspruch vom 25. Februar 1998 sei durch sein
Widerspruchsschreiben vom 2. Juni 1998 ersetzt worden. Der zweite Widerspruch sei
mit Widerspruchsbescheid vom 9. März 2000 zurückgewiesen worden. Das Schreiben
des Klägers vom 29. Juni 1999, in dem er das BVA aufgefordert hatte, über den
Widerspruch vom 25. Februar 1998 zu entscheiden, beziehe sich auf einen anderen
Problemkomplex. Im Rahmen der Einigung über diesen Komplex sei eine Bescheidung
des Widerspruchs vom 25. Februar 1998 hinfällig geworden. Selbst wenn der
Verteilungsschlüssel als Verwaltungsakt zu qualifizieren und die Klage als Untätigkeits-
oder Anfechtungsklage statthaft sei, sei die Klage unbegründet, da die Berechnungen
des Verteilungsschlüssels materiell rechtmäßig erfolgt seien. Aus dem Wortlaut ergebe
sich, dass nur die kassenwirksam gewordenen Kosten berücksichtigt werden könnten.
Die Aufnahme fiktiver Werte in den Verteilungsschlüssel beeinträchtige die
Transparenz, da zu einem späteren Zeitpunkt die fiktiven Werte gegen tatsächliche
Werte ausgetauscht werden müßten und dann Neuberechnungen für alle übrigen
überörtlichen Träger erforderlich werden würden. Dies würde das Verfahren ungewollt
verkomplizieren. Im übrigen hätte der Kläger die Zahlungen in den bei Spruchkörpern
anhängigen Fällen auch unter Vorbehalt des Ergebnisses der gerichtlichen Überprüfung
leisten können, so dass die Zahlungen kassenwirksam geworden wären und im
Verteilungsschlüssel hätten berücksichtigt werden können. Es komme hinzu, dass nach
der damaligen Gesetzeslage keine Benachteiligung vorgelegen habe, da ein Ausgleich
im Zeitpunkt der tatsächlichen Auszahlung der Kosten nach Abschluss der
schwebenden Verfahren eingesetzt hätte. Dass ein Kostenausgleich durch die
Änderung des § 89 d SGB VIII zum 1. Juli 1998, durch die die Kostenerstattungspflicht
den Ländern zugewiesen worden war, im Falle des Klägers tatsächlich nicht mehr habe
erfolgen können, könne jedoch nicht dazu führen, dass dies über die
Verteilungsschlüssel aller Träger der Jugendhilfe korrigiert werde. Dass ein
„landesinterner Kostenausgleich" durch die Gesetzesänderung nicht möglich sei, könne
nicht über das Verfahren des § 89 d SGB VIII a.F. gelöst werden. Soweit sich die Klage
gegen den Widerspruchsbescheid vom 9. März 2000 richte, sei sie unbegründet. Es sei
schon zweifelhaft, ob den Einzelbestimmungen Verwaltungs- aktqualität zukomme.
Jedenfalls seien die Bestimmungen aber materiell rechtmäßig. Schließlich sei auch der
Hilfsantrag unbegründet.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt
der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug
genommen.
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Entscheidungsgründe Mit Einverständnis der Beteiligten konnte die Kammer ohne
mündliche Verhandlung entscheiden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
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Die Klage hat insgesamt keinen Erfolg.
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Soweit die Klage darauf gerichtet ist, die Beklagte unter Aufhebung der dem Kläger
gegenüber im Jahre 1997 getroffenen 515 Kostenbestimmungen zu verpflichten, ihn
unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden, ist diese teils
unzulässig, teils unbegründet.
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Bei den einzelnen Kostenbestimmungen handelt es sich um Verwaltungsakte im Sinne
von § 31 SGB X. Durch die Kostenbestimmungen weist die Beklagte auf der Grundlage
des von ihr erstellten jährlichen Verteilungsschlüssels dem jeweiligen überörtlichen
Träger der Jugendhilfe konkrete Kostenerstattungsfälle zu. Hierdurch trifft sie eine
Regelung mit Außenwirkung gegenüber dem als erstattungspflichtig bezeichneten
überörtlichen Jugendhilfeträger,
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vgl. Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 1. Oktober 1992 - 12 CZ
91.3802 -, Fürsorgerechtliche Entscheidungen der Verwaltungs- und Sozialgerichte
(FEVS) Bd. 43, S. 400, 402 zur Kostenbestimmung des überörtlichen Sozialhilfeträgers
gemäß § 108 BSHG.
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Es ergibt sich auch nichts anderes daraus, dass das BVA bei der Bestimmung des
erstattungspflichtigen überörtlichen Trägers der Jugendhilfe die Aufgaben einer
Schiedsstelle wahrnimmt (§ 89 d Abs. 2 Satz 3 SGB VIII). Denn die Kostenbestimmung
wird nicht in einem schiedsrichterlichen Verfahren i.S.v. §§ 1025 ff. ZPO getroffen,
sondern durch das BVA als eine mit hoheitlichen Befugnissen ausgestattete Behörde.
Als solche ist sie berufen, den erstattungspflichtigen Träger mit Rechtswirkung nach
außen zu bestimmen,
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vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 27. August
1998 - 16 A 3477/97 -, NWVBl. 1999, 144.
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Die Klage ist teilweise wegen fehlender Durchführung eines ordnungsgemäßen
Vorverfahrens im Sinne von § 68 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) unzulässig, da
der Kläger bei der Anfechtung von 143 der 515 Kostenbestimmungen des Jahres 1997
die Widerspruchsfrist versäumt hat und Wiedereinsetzungsgründe nicht ersichtlich sind.
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143 der Kostenbestimmungen sind bestandskräftig und damit unanfechtbar geworden.
Der am 8. Juni 1998 eingelegte Widerspruch des Klägers war in 143 Fällen verfristet,
weil ihm diese in der Zeit vom 2. Januar bis 30. Mai 1997 bekanntgegeben wurden. Der
Kläger hat in diesen 143 Fällen innerhalb der gemäß § 70 Abs. 1 und 2 i.V.m. § 58 Abs.
2 VwGO geltenden Jahresfrist aber keinen Widerspruch eingelegt.
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Im Hinblick auf die übrigen 372 Kostenbestimmungen ist die Bescheidungsklage
unbegründet. Die Kostenbestimmungen sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht
in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO). Für eine Verpflichtung der Beklagten zur
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Bescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts ist kein Raum.
Die Beklagte hat bei der Erstellung des Verteilungsschlüssels für das Jahr 1997, der die
Entscheidungsgrundlage für den Erlass der 515 Kostenbestimmungen an den Kläger
darstellte, zu Recht nur die den überörtlichen Jugendhilfeträgern im vorangegangenen
Haushaltsjahr tatsächlich erstatteten Kosten berücksichtigt. Entgegen der Ansicht des
Klägers war die Beklagte nicht verpflichtet, zusätzlich auch die „fiktiven"
Kostenerstattungsfälle des vorangegangenen Haushaltsjahres, d.h. diejenigen
zugewiesenen Kostenerstattungsfälle bei der Erstellung des Verteilungsschlüssels
heranzuziehen, in denen der Kläger eine Zahlung wegen ungeklärter Rechtsfragen
abgelehnt hatte und deren Klärung erst in der Zukunft nach Abschluss anhängiger
Verfahren vor Gerichten- und Spruchstellen erfolgen würde.
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§ 89 d Abs. 2 Satz 2 SGB VIII a. F. schreibt dem BVA vor, dass es bei der Erstellung des
jährlichen Verteilungsschlüssels
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„die Einwohnerzahl und die Belastungen, die sich im vorangegangenen Haushaltsjahr
nach den Absätzen 1 und 2 und nach §§ 6, 88 Abs. 1 ergeben haben, zu
berücksichtigen [hat]."
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Hierbei sind unter den Belastungen, die sich im vorangegangenen Haushaltsjahr
ergeben haben, nur die tatsächlichen, kassenwirksam gewordenen Kosten zu
verstehen.
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Es wäre zwar grundsätzlich denkbar und wohl noch vom Wortlaut der Norm gedeckt,
unter Belastungen neben den tatsächlichen Kostenerstattungen auch
Kostenerstattungsverpflichtungen zu fassen, die einem überörtlichen Jugendhilfeträger
bereits durch die vom BVA getroffenen Kostenbestimmungen entstehen. Dem steht im
vorliegenden Fall aber zum einen bereits entgegen, dass die jeweiligen
Kostenbestimmungen vom Kläger selbst angefochten worden sind und daher - bis zu
einem für ihn negativen Ausgang der anhängigen Verfahren - keine verbindliche
Schuldverpflichtung bewirken können. Zum anderen wäre eine Auslegung des Begriffs
„Belastungen", der über die tatsächlich erstatteten Kosten hinausginge, mit dem
erkennbaren Sinn und Zweck der Regelung unvereinbar. Dieser liegt darin, einen
einfachen, zügigen und gerechten Kostenausgleich zwischen den überörtlichen
Jugendhilfeträgern zu schaffen. Eine Berücksichtigung der „schwebenden" oder
„fiktiven" Kosten würde jedoch zu komplizierten mehrfachen Nachberechnungen für
sämtliche Kostenerstattungsbestimmungen der überörtlichen Träger führen, die das
Berechnungsverfahren intransparent und schwerfällig machen und einen Zustand der
Rechtssicherheit geradezu verhindern würde. Dies würde dem Gesetzeszweck evident
zuwiderlaufen.
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Für eine Berücksichtigung der „fiktiven" Kosten als Belastung im Sinne des § 89 d Abs.
2 SGB VIII a.F. spricht auch nicht die Überlegung des Klägers, er werde im Fall des
Unterliegens in den anhängigen Verfahren überproportional belastet. Denn der Kläger
wäre umgekehrt im Falle des Obsiegens überproportional entlastet. Und während im
Falle des Unterliegens die mit den abschließenden Gerichtsentscheidungen zu
leistenden Kostenerstattungen im (hypothetisch fortgeführten) Konzept des
Ausgleichssystems Berücksichtigung gefunden hätten, könnte die Bevorteilung im Falle
des Obsiegens von dem System nicht ohne besondere Ausgleichsregelungen
kompensiert werden. Das liefe aber auf nichts anderes als auf die Möglichkeit eines
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"Rosinenpickens" durch Klageerhebung hinaus.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Erwägung des Klägers, dass die in § 89 d
Abs. 2 Satz 2 SGB VIII a.F. genannten Kriterien für die Erstellung des
Verteilungsschlüssels nicht abschließend und die 372 Kostenbestimmungen damit
bereits wegen Nichtausübung eines bestehenden Ermessens der Beklagten
rechtswidrig seien.
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Es kann dahinstehen, ob die Regelung der Beklagten einen Ermessensspielraum für
die Berücksichtigung weiterer, nicht genannter Kriterien gibt. Selbst wenn man einen
solchen Ermessensspielraum bejahte und es der Beklagten also gestattet wäre, weitere
Kriterien heranzuziehen, dürfte sie keine „fiktiven" Kosten zugrundezulegen. Die
ausdrückliche zwingende Festlegung des Gesetzgebers, neben der „Einwohnerzahl"
die „Belastungen, die sich im vorangegangenen Haushaltsjahr [...] ergeben haben",
heranzuziehen, beinhaltet gleichzeitig ein Verbot der Berücksichtigung nicht
kassenwirksam gewordener Kosten. Denn „fiktive" Kosten sind kein weiteres Kriterium,
auf das sich ein etwaiger Ermessensspielraum erstrecken könnte, sondern hebeln in
ihrer Eigenschaft als Gegenteil der tatsächlichen Kosten die zwingende gesetzliche
Anordnung gleichsam aus.
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Auch die Beendigung des kostenausgleichenden Verteilungssystems durch die
Änderung des § 89 d SGB VIII zum 1. Juli 1998 kann bei der Auslegung der Norm in
ihrer bisher geltenden Fassung keine Auswirkungen haben. Zwar ist es für den Kläger
in seiner besonderen Situation zugegebenermaßen misslich, dass er aufgrund der
Zahlungsverweigerungen in der Vergangenheit in dem jeweiligen Folgejahr
verhältnismäßig viele neue Kostenerstattungsfälle zugewiesen bekam und sich
nunmehr nach dem negativen Ausgang der Gerichtsverfahren einer erheblichen
Zahlungsverpflichtung gegenübersieht, die sich in den Folgejahren nicht mehr
ausgleichen konnte und kann; dementsprechend war der Kläger in der Rückschau
gegenüber den zahlenden überörtlichen Jugendhilfeträgern überbelastet. Wird eine
gesetzliche Ausgleichsregelung für die Zukunft aufgehoben, kann das indes nicht zu
einer rückwirkenden Änderung der Auslegung der nun nicht mehr geltenden Gesetze
führen. Die negative Kostenfolge hat der Kläger zum einen selbst herbeigeführt; zum
anderen hätte der Kläger in den streitigen Erstattungsfällen auch die Möglichkeit gehabt,
die Kosten zunächst unter Vorbehalt des Ausgangs der Gerichts- und
Spruchstellenverfahren zu zahlen und diese so kassenwirksam werden zu lassen.
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Schließlich ist auch kein Verstoß gegen Art. 3 GG ersichtlich. Nicht nur der Kläger,
sondern auch alle übrigen überörtlichen Träger der Jugendhilfe konnten mit Eintritt der
Gesetzesänderung und der damit verbundenen Verlagerung der
Kostenerstattungspflicht auf die Länder keinen Endausgleich mehr erlangen.
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Soweit der auf die Erhebung einer Verpflichtungsklage gerichtete Antrag auf die
Aufhebung des Verteilungsschlüssels des Jahres 1997 gerichtet ist, ist diese Klage
unzulässig. Bei dem Verteilungsschlüssel handelt es sich nämlich nicht um einen
Verwaltungsakt im Sinne von § 31 SGB X, weil die Beklagte hierdurch keine Regelung
mit Außenwirkung getroffen hat. Vielmehr handelt es sich um ein bloßes
Verwaltungsinternum, auf dessen Grundlage die Beklagte die Kostenbestimmungen für
jeden einreisenden unbegleiteten minderjährigen Ausländer, der die Voraussetzungen
erfüllt, im Einzelfall trifft, wobei dahinstehen kann, ob der Verteilungsschlüssel hier
konkret zur Handhabung eines etwaigen Beurteilungsspielraums oder zur Ausfüllung
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eines etwaigen Ermessensspielraums herangezogen wird. Eine Regelung mit
Außenwirkung gegenüber dem Kläger wurde erst durch die einzelnen
Kostenbestimmungen getroffen.
Unzulässig ist schließlich auch die hilfsweise erhobene allgemeine Leistungsklage.
Dieser Klage fehlt die Klagebefugnis, da der Kläger durch den Verteilungsschlüssel
noch nicht in seinen Rechten verletzt worden ist. Eine Verletzung eigener Rechte ist erst
mit Erlass der Kostenbestimmungen möglich.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.
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