Urteil des VG Köln vom 15.11.2002

VG Köln: privatschule, ambulante behandlung, behinderung, verordnung, jugendhilfe, lese, rechtschreibschwäche, sonderschule, schulpflicht, jugendlicher

Verwaltungsgericht Köln, 18 K 10813/00
Datum:
15.11.2002
Gericht:
Verwaltungsgericht Köln
Spruchkörper:
18. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
18 K 10813/00
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht
erhoben werden.
Tatbestand
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Der Kläger wurde am 09.04.1986 geboren. Bereits in seiner Kleinkindzeit litt er an
Hyperaktivität. Mit 6 Jahren wurde er für das Schuljahr 1992/93 in die I. Porz-Wahn
eingeschult. Nach 6 Wochen musste er mangels Schulfähigkeit zurück- gestellt werden,
da er wegen seiner Hyperaktivität nicht in den Klassenverband integ- riert werden
konnte. Er wechselte daher zunächst auf die I. -Vorschule und nach- folgend auf eine
integrierte Vorschule. Im Jahr 1993 wurde die Ehe der Eltern des Klägers geschieden.
Für das Schuljahr 1993/94 wurde der Kläger zum zweiten Mal in die I. eingeschult, wo
sich erneut erhebliche Integrationsprobleme zeigten. Noch im selben Schuljahr
wechselte der Kläger auf die Grundschule L. in Troisdorf, wo er jedoch aufgrund großer
Lücken sowie seiner Hyperaktivität im zwei- ten Schulhalbjahr erneut zurückgestellt
wurde und die letzten Wochen des Schuljah- res die Vorschule besuchen musste. Im
Schuljahr 1994/95 wurde der Kläger - mitt- lerweile 8-jährig - auf die Grundschule F.
eingeschult. Am 13.12.1994 wurde der Kläger bei Herrn X. , Facharzt für Kinder- und
Jugendpsychiatrie, wegen er- heblicher sozialer Auffälligkeiten erstmalig vorgestellt.
Eine ambulante fachärztliche Therapie erfolgte bis Oktober 1996. Die Hyperaktivität des
Klägers stand auch auf der Grundschule F. einer erfolgreichen Schulentwicklung
entgegen. Im Verlauf der 2. Klasse im Schuljahr 1995/96 sah sich die damalige
Klassenlehrerin des Klä- gers veranlasst, ein Sonderschulverfahren einzuleiten.
Aufgrund der sich verschär- fenden Situation wurde seitens des Schulamtes Siegburg
angeraten, die Schule noch einmal zu wechseln. Zum Schuljahresende wurden neben
Stärken im Sprach- und Sachunterricht erhebliche Lese- und Schreibschwächen
festgestellt, insbesonde- re wurde auf die anhaltend schwierige Integrierbarkeit des
Klägers in das Klassenge- füge hingewiesen. Dem Rat des Schulamtes Siegburg
folgend wurde der Kläger für die dritte Klasse im Schuljahr 1996/97 in die Evangelische
Grundschule in der W. straße in U. angemeldet. Ab dem 01.09.1997 erhielt der Kläger
Nachhil- feunterricht durch das C. Lern- und Sprachenteam in U. . Bereits in der zweiten
Sitzung wurde der Verdacht einer Lese- und Rechtschreibschwäche (LRS) geäußert.
Am 11.09.1997 wurde mit dem Kläger ein diesbezüglicher Test durchge- führt. Das
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nachfolgende Gutachten stellte eine LRS sowie evident gewordene psy- choreaktive
Verhaltensweisen fest. Eine Förderung durch das C. Lern- und Sprachenteam erfolgte
bis Juni 1998 und wurde nachträglich mit Bescheid der Stadt U. vom 13.08.1998 im
Rahmen der Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII gefördert. Der
Schulpsychologische Dienst riet Mitte 1998, den Kläger nicht nur we- gen seiner
Legasthenie zu fördern, sondern gleichzeitig sein Sozialverhalten zu the- rapieren. Ab
August 1998 erhielt der Kläger bei Frau X. in Niederkassel-Rheidt eine Einzeltherapie,
bei der seine LRS und sein Sozialverhalten behandelt wurden. Auch diese Therapie
wurde durch die Stadt U. nach § 35 a SGB VIII gefördert. Die Einzeltherapie wurde
jedoch seitens der Mutter des Klägers Anfang 2000 been- det, weil der Vorgehensweise
von Frau X. nach Auffassung der Mutter des Klä- gers Effektivität und Professionalität
fehle. Im Schuljahr 1998/99 wurde der Kläger in die 5. Klasse der Gesamtschule U.
eingeschult. Bereits zum Halbjahreswechsel wurde seine schwierige
Eingliederungsfähigkeit in die sozialen Bezüge der Klasse festgestellt. Hier zeigte der
Kläger sich durch den Ganztagsunterricht überfordert. Aus diesem Grunde wurde auf der
Lehrerkonferenz zum Schuljahresende Mitte 1999 ein Wechsel auf eine Halbtagsschule
angeraten. Der Kläger verblieb jedoch auf der Gesamtschule und wurde im Schuljahr
1999/2000 in die 6. Klasse versetzt. Da sich das Symptombild des Klägers nicht
besserte, sondern bei gleichbleibenden Umstän- den eine weitere Verschlechterung zu
prognostizieren war, wechselte er zum 18.10.1999 auf die I. -Privatschule in C. . Hier
durchlief der Kläger zunächst eine positive Entwicklung, zeigte nachfolgend aber wieder
soziale Auffälligkeiten. Die I. - Privatschule besuchte der Kläger bis einschließlich
Oktober 2001. Der Besuch wurde dann abgebrochen, weil der Ehemann der Mutter des
Klägers sich nicht mehr in der Lage sah, die Kosten für den Besuch der I. -Privatschule
zu übernehmen.
Mit Schreiben vom 10.12.1999 beantragte der Kläger die Gewährung von
Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII durch Übernahme der Kosten für den Besuch
der I. -Privatschule.
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Mit Bescheid vom 14.03.2000 lehnte der Beklagte den Antrag mit der Begründung ab,
dass eine Regelbeschulung durch öffentliche Schulen ausreichend und gesichert sei.
Die Auswahl der geeigneten öffentlichen Schule sei Sache der Schulbehörde und nicht
der Jugendhilfe. Eine weitergehende Förderung durch die Jugendhilfe sei auch nach
herrschender Rechtsmeinung nur dann zulässig, wenn die schulische Förderung nicht
ausreiche. Da eine ordnungsgemäße Beschulung des Klägers an einer städtischen
Halbtagsschule aber nicht gefährdet sei, könne auch kein Wunsch- und Wahlrecht
ausgeübt werden.
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Hiergegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 04.04.2000 Widerspruch. In einer
seitens des Beklagten im Rahmen des Widerspruchsverfahrens eingeholten
Stellungnahme des Schulamtes des Rhein-Sieg-Kreises vom 21.11.2000 stellte dieses
fest, ausweislich der bis zum Eintritt in die I. -Privatschule nachweisbaren Schullaufbahn
könne festgestellt werden, dass der Kläger ein normal begabtes Kind sei und an einer
Schule im Bereich des Beklagten gefördert werden könne. Ob die durchscheinenden
Verhaltensauffälligkeiten jetzt noch bestünden, müsse nach Durchführung eines
Verfahrens zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs ermittelt werden.
Der Besuch einer Hauptschule empfehle sich schon aus Gründen eines direkt
erreichbaren Schulabschlusses. Ob die I. -Privatschule eine angemessene
Schulbildung in Vergleich zu den Bildungsangeboten der öffentlichen Schulen
sicherstellen könne, entziehe sich der Kenntnis des Schulamtes.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 24.11.2000 wies der Beklagte den Widerspruch zurück.
Unstreitig sei, dass bei dem Kläger in der Vergangenheit Verhaltensauffälligkeiten
festgestellt worden seien und die persönlichen Voraussetzungen des § 35 a Abs. 1 S. 1
SGB VIII insoweit erfüllt sein könnten. Fraglich sei allerdings, ob die Art der Maßnahme -
hier: die Übernahme der Kosten für den Besuch der I. -Privatschule -, die Aufgabe und
das Ziel der begehrten Hilfe den gemäß § 35 a Abs. 2 SGB VIII analog anzuwendenden
Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) entsprächen. Die Aufgabe der Hilfe
könnte darin zu sehen sein, den Kläger zum bestmöglichen Schulabschluss zu führen
und über diese positive Erfahrung seine gesellschaftliche Integration zu verbessern.
Andererseits sei eine Eingliederung in die Gesellschaft aber noch nicht gefährdet, wenn
ein Kind ein höheres Ausbildungsziel als den Hauptschulabschluss nicht erlange. Dies
spiegele sich auch in der gesetzlichen Formulierung des § 40 Abs. 1 Ziff. 3 BSHG wider:
„...vor allem im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht." Eine darüber hinaus gehende
Förderung im Wege der Eingliederungshilfe sei nur unter Erfüllung der strengen
Kriterien des § 12 Ziff. 3 der Eingliederungshilfeverordnung (VO zu § 47 BSHG)
denkbar. Hiernach werde die Hilfe nur gewährt, wenn nach den Fähigkeiten und
Leistungen des Behinderten zu erwarten sei, dass er das Bildungsziel erreichen werde.
Nach Aussage des konsultierten Schulamtes des Rhein-Sieg-Kreises in seiner
Stellungnahme vom 21.11.2000 sei der Kläger ausweislich der bisherigen
Schullaufbahn ein normal begabtes Kind. „Der Schulbesuch einer Hauptschule
empfehle sich schon aus Gründen des direkt erreichbaren Abschlusses." Da
Eingliederungshilfe gem. § 39 Abs.4 BSHG nur erfolgsorientiert gewährt werde,
bestünden berechtigte Zweifel hinsichtlich der Be- fähigung des Klägers, auf dem selbst
gewählten Weg einen weiterführenden Schulabschluss zu erreichen. Es bestehe
deshalb kein Anspruch auf Finanzierung der selbst gewählten Schulmaßnahme aus
Mitteln der Eingliederungshilfe gem. § 35 a SGB VIII.
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Der Kläger hat am 28.12.2000 Klage erhoben.
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Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor: § 35 a Abs. 1 S. 1 SGB VIII sehe für
Kinder und Jugendliche, die seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung
bedroht seien, einen Anspruch auf Eingliederungshilfe vor. Der Kläger weise eine
seelische Entwicklungsstörung auf, die sich über Jahre hin manifestiert habe. Seit
seiner Kleinkindzeit sei er hyperaktiv, d. h. er leide an einem hyperkinetischen Syndrom,
welches bereits einem erfolgreichen Start seiner Schullaufbahn im Wege gestanden
habe. Daneben sei bereits zu Grundschulzeiten eine Legasthenie, eine angeborene
Schwäche im Erlernen des Lesens und des Rechtschreibens bei hinreichender
Intelligenz, festgestellt worden. Da die Regelbeschulung nicht die Möglichkeit geboten
habe, auf die Symptomatik des Klägers angemessen einzugehen, sei auch eine
begleitende fachärztliche ambulante Behandlung durch Dr. X. , die der Kläger bereits
mit 8 Jahren wahrgenommen habe, sowie eine Unterstützung seiner LRS und eine
nachmittägliche Einzeltherapierung ab dem Alter von 12 Jahren nicht mehr geeignet
gewesen, den massiv verfestigten Entwicklungsstörungen zu begegnen. Im Alter von 14
Jahren seien als seelische Störung zuletzt eine depressiv-neurotische
Entwicklungsstörung, ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom sowie ein
Entwicklungsrückstand diagnostiziert worden. Die seelischen Störungen des Klägers
beeinträchtigten auch in erheblichem Umfang seine Fähigkeit zur Eingliederung in die
Gesellschaft. Der Kläger habe nach § 40 Abs. 1 Nr. 3 BSHG, § 12 Nr. 3
Eingliederungshilfe-VO Anspruch auf Eingliede- rungshilfe in Form der Übernahme der
Schulkosten. Denn die Hilfe zu einer angemessenen Schuldbildung umfasse auch Hilfe
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zum Besuch einer Ausbildungsstätte, deren Ausbildungsabschluss einer Realschule
oder eines Gymnasiums gleichgestellt sei einschließlich der Vorbereitung hierzu, wenn
nach den Fähigkeiten und den Leistungen des Behinderten zu erwarten sei, dass er das
Bildungsziel erreichen werde. Die I. -Privatschule biete die Voraussetzung, eine
angemessene Schuldbildung des Klägers sicherzustellen. Damit lägen die
Voraussetzungen der §§ 35 a Abs. 1, Abs. 2 SGB VIII, 40 BSHG i. V. m. § 12
Eingliederungshilfe-VO vor, wonach der Kläger einen Anspruch auf Eingliederungshilfe
in Form einer Kostenübernahme für den Besuch der I. - Privatschule habe.
Nach Angabe der Mutter des Klägers in der mündlichen Verhandlung verbesserten sich
die Noten des Klägers zunächst etwas während des Besuches der I. -Privatschule. Sein
Sozialverhalten habe sich aber auch bis heute in keiner Weise verändert. Dieses sei zur
Zeit so schlecht, dass sie erneut um Jugendhilfe ersucht habe, um ihm eine
Unterbringung in einem Heim oder in einer Wohngruppe zu ermöglichen. Aus heutiger
Sicht sei sie der Auffassung, dass die Schule für Erziehungshilfe die richtige Schulform
für den Kläger gewesen wäre.
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Der Kläger beantragt,
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den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 14.03.2000 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 24.11.2000 zu verpflichten, dem Kläger
Eingliederungshilfe gem. § 35 a SGB VIII durch Übernahme der Kosten für den Besuch
der I. -Privatschule in der Zeit vom 18.10.1999 bis 24.11.2000 zu gewähren, im Übrigen
die Hinzuziehung eines Prozessbevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu
erklären.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wiederholt und vertieft der Beklagte die Ausführungen der
angegriffenen Bescheide.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird verwiesen auf den
Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge.
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Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist unbegründet.
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Der Bescheid des Beklagten vom 14.03.2000 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 24.11.2000 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht
in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat keinen Anspruch auf
Eingliederungshilfe durch Übernahme der Kosten für den Besuch der I. -Privatschule in
C. .
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Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist allein § 35 a Abs. 1 Satz 1,
Satz 2 Nr. 1 SGB VIII in der hier noch anzuwendenden Fassung der Bekanntmachung
vom 08.12.1998 (BGBl. I S. 3546). Danach haben Kinder und Jugendliche, die seelisch
behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, Anspruch auf
Eingliederungshilfe. Gemäß § 35 a Abs. 2 Nr. 1 u. Nr. 3 SGB VIII bestimmen sich
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Aufgabe und Ziel der Hilfe, die Bestimmung des Personenkreises sowie die Art der
Maßnahmen nach §§ 39 Abs. 3 und 40 BSHG und nach der Verordnung zu § 47 BSHG
(Eingliederungshilfe-Verordnung). Nach § 40 Abs. 1 Nr. 3 BSHG gehört zu den
Maßnahmen der Eingliederungshilfe auch die Hilfe zu einer angemessenen
Schulbildung. Dazu zählen nach § 12 Nr. 2 Eingliederungshilfe- Verordnung auch
Maßnahmen der Schulbildung zugunsten behinderter Kinder und Jugendlicher, wenn
die Maßnahmen erforderlich und geeignet sind, dem Behinderten eine im Rahmen der
allgemeinen Schulpflicht üblicherweise erreichbare Bildung zu ermöglichen.
Dass der Kläger im streitigen Zeitraum dem Personenkreis des § 35 a Abs. 1 SGB VIII
zuzuordnen war, dass er also aufgrund seiner Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS) und
Hyperaktivität sowie seiner Lese- und Rechtschreibschwäche (LRS) an einer
seelischen Störung litt und infolge dieser seelischen Störung die Fähigkeit zur
Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt war oder eine solche Behinderung
jedenfalls drohte (§ 35 a Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII i.V.m. §§ 3, 5 Eingliederungshilfe-
Verordnung), wird auch von dem Beklagten nicht ernsthaft bezweifelt. Diese Frage
bedarf indes keiner abschließenden Beurteilung.
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Der Besuch der I. -Schule war im Falle des Klägers jedenfalls keine geeignete und
erforderliche Maßnahme der Eingliederungshilfe.
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Zur Bestimmung der geeigneten und erforderlichen Maßnahmen der Eingliederungshilfe
bedarf es grundsätzlich eines der Hilfeentscheidung vorgeschalteten Verfahrens nach §
36 SGB VIII. Nach dieser Vorschrift soll vor der Entscheidung über die im Einzelfall
angezeigte Hilfeart und deren Ausgestaltung zunächst eine Beratung des
Personensorgeberechtigten und des Kindes oder des Jugendlichen erfolgen (§ 36 Abs.
1 Satz 1 SGB VIII). Die Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart soll,
wenn Hilfe voraussichtlich für eine längere Zeit zu leisten ist, im Zusammenwirken
mehrerer Fachkräfte getroffen werden (§ 36 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Anschließend
sollen die hinzugezogenen Fachkräfte zusammen mit dem Personensorgeberechtigten
und dem Kind oder dem Jugendlichen als Grundlage für die Ausgestaltung der Hilfe
einen Hilfeplan aufstellen, der Feststellungen über den Bedarf, die zu gewährende Hilfe
sowie die notwendigen Leistungen enthält; sie sollen regelmäßig prüfen, ob die
gewählte Hilfeart weiterhin geeignet und notwendig ist (§ 36 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII).
Werden bei der Durchführung der Hilfe andere Personen, Dienste oder Einrichtungen
tätig, so sind sie oder deren Mitarbeiter an der Aufstellung des Hilfeplans und seiner
Überprüfung zu beteiligen (§ 36 Abs. 2 Satz 3 SGB VIII).
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Dieses Bedarfsfeststellungsverfahren ist im Falle des Klägers nicht durchgeführt
worden. Seine Mutter schulte ihn aus eigenem Entschluss in der I. -Schule ein, ohne
dass zuvor ein Hilfeplan nach § 36 SGB VIII aufgestellt worden ist. Ob dies darauf
zurückzuführen ist, dass die Mutter dies nicht mit dem erforderlichen Nachdruck verlangt
hat, etwa weil sie von Beginn an nur eine bloße Kostenerstattung für die selbst
beschaffte Maßnahme (und keine echte Jugendhilfe) begehrt hat, oder darauf, dass der
Jugendhilfeträger - aus welchen Gründen auch immer - einem entsprechenden
Begehren der Mutter nicht nachgekommen ist, kann ebenfalls offen bleiben.
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Denn der Besuch der I. -Schule ist im Verhältnis zu den öffentlichen Schulen nicht die
erforderliche und geeignete Maßnahme, um dem Kläger eine im Rahmen der
allgemeinen Schulpflicht üblicherweise erreichbare Bildung zu ermöglichen.
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Das öffentliche Schulsystem hält nach Auffassung der Kammer geeignete Schulen für
eine angemessene Beschulung auch des Klägers vor. Die Bandbreite der möglichen
Beschulungsformen ergibt sich aus den maßgeblichen schulrechtlichen Vorschriften in
Nordrhein-Westfalen. Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 SchpflG wird die Vollzeitschulpflicht
grundsätzlich durch den Besuch der öffentlichen Grundschule und einer öffentlichen
weiterführenden allgemeinbildenden Schule erfüllt. Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SchpflG
werden Schulpflichtige, die u. a. wegen seelischer Behinderung im Unterricht einer
Grundschule oder einer weiterführenden allgemeinen Schule nicht hinreichend
gefördert werden können, ihrem individuellen Förderbedarf entsprechend
sonderpädagogisch gefördert. Sie erfüllen die Schulpflicht grundsätzlich durch den
Besuch einer Sonderschule (§ 7 Abs. 1 Satz 2 SchpflG). Die sonderpädagogische
Förderung kann in den Sekundarstufen I und II mit Zustimmung des Schulträgers auch
in einer weiterführenden allgemeinen Schulen erfolgen, wenn die
Schulaufsichtsbehörde feststellt, dass das Bildungsziel der jeweiligen weiterführenden
Schule erreicht werden kann und die erforderlichen personellen und sächlichen
Voraussetzungen vorliegen (§ 7 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 Satz 1 SchpflG).
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Auf dieser Grundlage konnten dem Kläger im streitbefangenen Zeitraum geeignete
öffentliche Schulen angeboten werden. Auch bei (drohender) seelischer Behinderung
und bei bestehendem sonderpädagogischen Förderbedarf kann unter Umständen eine
öffentliche Regelschule als geeigneter Förderort in Betracht kommen. Je nach Art und
Ausmaß der Störung einerseits sowie personeller und sächlicher Ausstattung der
Regelschule andererseits können die erforderlichen schulischen Hilfemaßnahmen in
Bezug auf eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung und ihrer Folgeerscheinungen,
insbesondere die Übung und Überwachung von Verhaltensregeln (z.B. klare
Ansprache, Lob) auch von öffentlichen Allgemeinschulen ergriffen werden. Im Rahmen
des Hilfeplans gemäß § 36 SGB VIII müssen die betreffenden Lehrer der Regelschule
mit den Problemen des Kindes oder des Jugendlichen vertraut gemacht werden und in
die Hilfeplanung einbezogen werden. Diese Lehrer sind dann nicht nur berechtigt,
sondern auch verpflichtet, die Feststellungen des Hilfeplans im schulischen Bereich
umzusetzen, diese Feststellungen unter Kontrolle zu halten und gegebenenfalls eine
Modifizierung des Hilfeplans anzuregen.
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Reichen im Einzelfall die schulischen Mittel der Regelschule zu einer angemessenen
Förderung eines hyperaktiven und sozialverhaltensgestörten Schülers, der zudem unter
einer Lese- Rechtschreibschwäche leidet, nicht aus, so müsste ergänzend im
Zusammenwirken mit dem Jugendhilfeträger, den Schulaufsichtsbehörden und weiteren
fachkundigen Stellen wie etwa dem Gesundheitsamt, dem schulpsychologischen Dienst
und den Erziehungsberatungsstellen der (drohenden) seelischen Behinderung durch
außerschulische Förder- und Therapiemaßnahmen einschließlich Familientherapie
sowie Erziehungshilfen von staatlicher, kirchlicher oder sonstiger Seite entgegen ge-
wirkt werden.
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Sollte sich vor oder - gegebenenfalls nach einer Versuchsphase - während des Besuchs
einer (weiterführenden) Regelschule herausstellen, dass diese eine angemessene
Beschulung auch unter Einbeziehung der bereits angesprochenen außerschulischen
Fördermaßnahmen nicht sicherstellen kann, etwa weil es zur Eingliederung des Klägers
(auch) entscheidend auf die Beschulung in kleinen Klassenverbänden ankommt und
diese Kleingruppenbeschulung in öffentlichen Regelschulen nicht möglich ist, so wäre
eine Sonderbeschulung in einer Sonderschule für Erziehungshilfe unumgänglich (vgl. §
4 SchulVG, § 7 Abs. 5 SchpflG i. V. m. §§ 5 Abs. 3, 9 Abs. 3 der Verordnung über die
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Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs und die Entscheidung über den
schulischen Förderort). In einer solchen - im Schulbezirk unstreitig vorhandenen - Er-
ziehungsschule wäre der Kläger durch Sonderpädagogen in kleinen Klassenverbänden
(durchschnittlich acht bis zwölf Schüler, im Einzelfall sogar Einzelunterricht)
angemessen gefördert worden. Diese Schule hält - wie die mündliche Verhandlung
gezeigt hat - inzwischen auch die Mutter der Klägers für die für den Kläger richtige
Schulform.
Um diese Form der Beschulung zu erreichen, hätte die Mutter des Klägers gemäß § 7
Abs. 4 SchpflG einen Antrag auf Entscheidung über den sonderpädagogischen
Förderbedarf und den Förderort stellen und die Sonderbeschulung erforderlichenfalls
auch gerichtlich durchsetzen müssen. Hierzu wäre es notwendig gewesen, dass bereits
im Verlauf der 2. Klasse im Schuljahr 1995/96 eingeleitete Sonderschulverfahren mit
Nachdruck zu verfolgen, statt nochmals die Grundschule zu wechseln. Angesichts der
sich später auf der Gesamtschule festzustellenden Verschlechterung des
Symptombildes des Klägers hätte es spätestens nahegelegen, einen Antrag auf
Entscheidung über den sonderpädagogischen Förderbedarf und den Förderort stellen.
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Der Einbeziehung einer (Sonder-)Erziehungsschule in die Feststellung der geeigneten
öffentlichen Schulen steht auch nicht der Umstand entgegen, dass die zuständige
Schulbehörde bislang nicht entschieden hat, dass der Kläger zum Besuch einer seiner
Behinderung entsprechenden Sonderschule verpflichtet ist. Zwar kann der
Jugendhilfeträger in diesen Fällen einen hilfesuchenden Schulpflichtigen grundsätzlich
nicht darauf verweisen, eine Sonderschule zu besuchen, um die Gewährung von
Eingliederungshilfe überflüssig zu machen.
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Vgl. für die Eingliederungshilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz etwa BVerwG, Urteil
vom 16.01.1986 - 5 C 36.84 -; OVG NRW, Beschluss vom 28.06.1996 - 8 B 122/96 -,
FEVS 47, 153 ff. m.w.N.
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Dieser Grundsatz findet nach Auffassung der Kammer jedoch dann keine Anwendung,
wenn sich aus Sicht der Mutter die Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung des
sonderpädagogischen Förderbedarfs und des Förderorts geradezu aufdrängen musste
und die Mutter gleichwohl den zur Einleitung des Verfahrens erforderlichen Antrag (§ 7
Abs. 4 Satz 1 SchpflG) nicht in zumutbarer Zeit gestellt hat.
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Im Verhältnis zu einer Beschulung im öffentlichen Schulsystem, das nach den
vorstehenden Ausführungen als in sich geschlossenes System in seiner Gesamtheit - d.
h. in all seinen Erscheinungsformen - in den Blick zu nehmen ist, war der Besuch der I. -
Schule nicht die geeignete und erforderliche Maßnahme zur angemessenen
Schulbildung des Klägers. Sowohl im Gegensatz zu einer öffentlichen Regelschule, die
über die erforderlichen personellen und sächlichen Voraussetzungen für die
angemessene Beschulung hyperaktiver und sozialverhaltensgestörter Kinder- und
Jugendlicher verfügt (vgl. § 7 Abs. 3 Satz 1 SchpflG), als auch im Gegensatz zu einer
Erziehungsschule verfügt die I. -Schule nach Angaben ihres Leiters - Herrn C. - selbst
nicht über die erforderlichen sonderpädagogisch ausgebildeten Lehrkräfte. Das
Lehrpersonal der I. -Schule mag sich auf Fortbildungsveranstaltungen auf dem Gebiet
des hyperkinetischen Syndroms und den sich daraus für den Schulbetrieb ergebenden
erforderlichen Maßnahmen weiterbilden. Diese Weiterbildung ersetzt aber abgesehen
davon, dass auch Lehrer öffentlicher Regel- und Sonderschulen an solchen
Veranstaltungen teilnehmen, keinesfalls eine sonderpädagogische Ausbildung
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insbesondere der Sonderschullehrer. Auch aus dem Umstand, dass auf der I. -Schule
nach Auskunft ihres Schulleiters möglichst nur Schulklassen mit bis zu 15 Schülern
gebildet werden, kann der Kläger für ihn Günstiges nicht herleiten. Zum einen kann
diese Klassengröße auf der I. -Schule nach Auskunft von Herrn C. nicht garantiert
werden und es sind demnach auch größere Klassenverbände möglich und - wie die
mündliche Verhandlung gezeigt hat - auch tatsächlich vorhanden. Zum anderen
unterliegt die I. -Schule insoweit keiner staatlichen Kontrolle. Sie ist als (private)
Ergänzungsschule registriert, die - anders als eine (private) Ersatzschule - nach der
Anzeige der Lehrbetriebsaufnahme ohne Ge- nehmigung betrieben werden kann (§ 44
Abs. 1 SchulOG) und nur einer eingeschränkten staatlichen Schulaufsicht unterliegt (§
45 Abs. 2 und 3 SchulOG). Hinsichtlich der Frage, ob ein Schulpflichtiger die
Vollzeitschulpflicht auf einer Ergänzungsschule erfüllen kann, stellt die obere
Schulaufsichtsbehörde nur fest, dass an ihr das Bildungsziel der Hauptschule erreicht
werden kann (§ 22 Abs. 1 SchpflG). Zudem besteht auf der I. -Schule, in der - wovon die
Kammer ausgeht - tatsächlich zahlreiche Kinder mit einer
Aufmerksamkeitsdefizitstörung unterrichtet werden, die Gefahr, dass in einer Klasse ein
wesentlich höherer Anteil seelisch behinderter Kinder und Jugendlicher schulisch
betreut werden muss als auf einer öffentlichen Regelschule und damit trotz
möglicherweise kleineren Klassenverbandes die Betreuung der Schüler nicht immer
gewährleistet ist. Einen allgemeinen Vorrang der Privatschulen (Ersatz- und
Ergänzungsschulen) vor den öffentlichen Schulen kennen die schulrechtlichen
Vorschriften in Nordrhein-Westfalen im Übrigen nicht (vgl. § 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5
SchpflG und § 22 SchpflG).
Selbst wenn die I. -Schule aber die Anforderungen an die Beschulung (drohend)
seelisch behinderter Kinder und Jugendlicher auf Sonderschulen oder (qualifizierten)
Regelschulen erfüllen würde und demnach geeignet wäre, so würde der geltend ge-
machte Anspruch auf Eingliederungshilfe an der Erforderlichkeit der Maßnahme - soweit
der Kläger die Erforderlichkeit des Besuchs der I. -Schule mit der bei ihm vorliegenden
Lese- Rechtschreibschwäche (LRS) begründet, wird ergänzend verwiesen auf das
Urteil der Kammer vom heutigen Tag in der Sache 18 K 7353/00 - und letztlich am
Mehrkostenvorbehalt des § 5 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII scheitern. Die Beschulung des
Klägers in der I. -Schule wäre im Verhältnis zu einer Beschulung an einer öffentlichen
Regelschule (gegebenenfalls in Verbindung mit außerschulischen Fördermaßnahmen)
oder einer öffentlichen (Sonder- )Erziehungsschule mit unverhältnismäßigen
Mehrkosten verbunden. Insoweit kommt es bei dem Kostenvergleich zur Feststellung,
ob eine Hilfegewährung entsprechend dem Wunsch des Hilfeempfängers „unvertretbare
Mehrkosten" erfordert, darauf an, welche Kosten (in welcher Höhe) der Träger der
Jugendhilfe übernehmen muss, nicht auch darauf, welche Kosten der öffentlichen Hand
in einem anderen Leistungsbereich entstehen, für die der Benutzer wegen der
Kostenfreiheit dort aber nicht aufkommen müsste.
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So in Bezug auf § 3 Abs. 2 BSHG: BVerwG, Urteil vom 22.01.1987 - 5 C 10/85 -, NVwZ
1987, 594 ff., FEVS 36, 353 ff.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.
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