Urteil des VG Kassel vom 11.12.2002

VG Kassel: vorläufige dienstenthebung, verdacht, suspendierung, ausführung, ermessensfehler, unverzüglich, gewahrsam, beamter, unternehmen, beruf

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Gericht:
VG Kassel 1.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 E 1648/98
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Tatbestand
Der Kläger, der am 23.06.1980 als Aufseher in den Hessischen Justizvollzugsdienst
eintrat, und der Beklagte streiten über die Rechtmäßigkeit eines Dienstverbots
nach § 74 HBG.
Mit Bescheid des Hessischen Ministeriums der Justiz und für
Europaangelegenheiten vom 12.02.1998 wurde dem Kläger unter Anordnung der
sofortigen Vollziehung die weitere Führung seiner Dienstgeschäfte verboten. Zur
Begründung wurde angegeben, der Kläger und der Obersekretär im JVD S. seien
am 19.07.1994 beauftragt gewesen, den Gefangenen T. G. zum Besuch seines
erkrankten Vaters nach A. in der Nähe von Lorch auszuführen. Bei dieser
Ausführung sei der Gefangene am 19.07.1994 entwichen. Im Verlauf der
Verhandlung gegen den Obersekretär im JVD S. vor dem Landgericht Marburg sei
festgestellt worden, dass der Kläger und der Beamte S. zwei bis drei Stunden
hätten verstreichen lassen, bevor der Kläger die zuständige Polizeistation in ...
über die Flucht des Gefangenen unterrichtet habe. Dem Gefangenen sei dadurch
hinreichend Gelegenheit gegeben worden, sich aus der Umgebung von Lorch zu
entfernen, so dass etwaige Fahndungsmaßnahmen erschwert bzw. unmöglich
gemacht worden seien. Durch die Unterlassung der sofortigen Einleitung von
Fahndungsmaßnahmen bestehe der dringende Verdacht, dass der Kläger sich der
Gefangenenbefreiung und der Strafvereitelung im Amt schuldig gemacht habe. Er
stehe somit im dringenden Verdacht einer strafbaren Handlung und eines
schwerwiegenden Dienstvergehens, welches mit der Fortführung seiner
Dienstgeschäfte unvereinbar sei. Ferner würde durch das weitere Verbleiben des
Klägers im Dienst das Ansehen des Vollzugs in der Öffentlichkeit geschädigt
werden. Es bestehe somit ein zwingender dienstlicher Grund im Sinne des § 74
HBG, dem Kläger bis zu einer Entscheidung über eine Suspendierung nach § 83
HDO die Führung seiner Dienstgeschäfte zu verbieten. Hierzu sei er am
05.02.1998 durch Oberamtsrat Steinbrecher von der Justizvollzugsanstalt
Schwalmstadt gehört worden.
Der am 18.02.1998 gegen den am 16.02.1998 zugestellten Bescheid eingelegte
Widerspruch des Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid vom 17.04.1998, den
Bevollmächtigten des Klägers zugestellt am 18.04.1998, zurückgewiesen.
Mit Einleitungsverfügung vom 05.04.1998, dem Kläger zugestellt am 07.05.1998,
leitete das Hessische Ministerium der Justiz und für Europaangelegenheiten das
förmliche Disziplinarverfahren gegen den Kläger ein; gleichzeitig wurde der Kläger
gemäß § 83 Abs. 1 HDO vorläufig des Dienstes enthoben. Der hiergegen gestellte
Antrag auf gerichtliche Entscheidung wurde von der Disziplinarkammer des
Verwaltungsgerichts Kassel mit Beschluss vom 03.09.1998 - DK 6/98 -
zurückgewiesen.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies der Disziplinarhof des Hessischen
Verwaltungsgerichtshofs mit Beschluss vom 06.06.2000 - 24 DH 3636/98 - zurück.
Mit am 18.05.1998 bei Gericht per Telefax eingegangenem Schriftsatz seiner
Bevollmächtigten hat der Kläger Klage erhoben. Zu deren Begründung wird
vorgetragen, zwingende dienstliche Gründe, die die Weiterführung der
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vorgetragen, zwingende dienstliche Gründe, die die Weiterführung der
Dienstgeschäfte verböten, seien insbesondere gegeben, wenn gegen den
Beamten der Verdacht eines Dienstvergehens, das mit der Fortführung der
Dienstgeschäfte unvereinbar sei, bestehe, wenn also eine Suspendierung des
Beamten wegen des Dienstvergehens in Betracht komme. Dies sei hier angesichts
des relativ geringen Gewichts der Dienstpflichtverstöße zu verneinen. Zu
berücksichtigen sei auch der lange Zeitablauf seit der Suspendierung bzw. erst
recht seit den in Betracht kommenden Dienstvergehen. Allenfalls bis zum
Zeitpunkt der strafrechtlichen Aufklärung des Sachverhalts sei die
Suspendierungsanordnung angemessen gewesen.
Der Kläger beantragt,
festzustellen, dass der Bescheid des Hessischen Ministeriums der Justiz und
für Europaangelegenheiten vom 12.02.1998 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 17.04.1998 rechtswidrig war.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Mit Beschluss der Kammer vom 01.10.2002 ist der Rechtsstreit dem
Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen worden.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
Die Klage ist mit dem zur Entscheidung gestellten Antrag als so genannte unechte
Fortsetzungsfeststellungsklage in entsprechender Anwendung des § 113 Abs. 1
Satz 4 VwGO statthaft; das ausgesprochene Dienstverbot hat sich bereits vor der
am 18.05.1998 erfolgten Klageerhebung erledigt, da es durch die in der
Einleitungsverfügung vom 05.04.1998 angeordnete vorläufige Dienstenthebung
gemäß § 83 Abs. 1 HDO gegenstandslos geworden ist (vgl. Hess. VGH, Beschluss
vom 10.06.1988 - 1 TH 2568/87 -, NVwZ-RR 1989, 518). Das notwendige
Feststellungsinteresse im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO ergibt sich aus
dem von dem Kläger geltend gemachten Rehabilitierungsinteresse, da dem durch
ein Dienstverbot betroffenen Beamten die Möglichkeit eingeräumt werden muss,
der mit diesem Verbot verbundenen Minderung seines Ansehens wirksam
entgegenzutreten (Hess. VGH, Urteil vom 30.01.1974 - I OE 18/73 -, HessVGRspr.
1974, 25, 26 ff.).
Die Klage hat jedoch in der Sache keinen Erfolg, weil das vom Hessischen
Ministerium der Justiz und für Europaangelegenheiten ausgesprochene
Dienstverbot rechtmäßig gewesen ist.
Nach § 74 Abs. 1 Satz 1 HBG kann die oberste Dienstbehörde oder die von ihr
bestimmte Behörde einem Beamten aus zwingenden dienstlichen Gründen die
Führung seiner Dienstgeschäfte verbieten. Die Entscheidung ist gerechtfertigt,
wenn eine weitere Ausübung der Dienstgeschäfte durch den betreffenden
Beamten zumindest im Augenblick nicht vertretbar ist und keine andere
Möglichkeit besteht, dienstliche Nachteile abzuwenden. Der Anlass muss so
dringend sein, dass die Fortführung der Dienstgeschäfte durch den betroffenen
Beamten für den Dienstherrn untragbar ist (Hess. VGH, Beschluss vom
30.10.1973 - I TH 27/73 -, DÖV 1974, 605 m. w. N.). Vor Erlass des Verbots soll der
Beamte gehört werden (§ 74 Abs. 2 HBG); dies ist hier am 05.02.1998 geschehen.
Das Ministerium hat auch das Vorliegen zwingender dienstlicher Gründe zu Recht
angenommen, indem es darauf abgestellt hat, dass der Verdacht bestehe, der
Kläger habe gegen die Beaufsichtigungsvorschriften für Bedienstete gegenüber
Gefangenen und gegen seine elementaren Dienstpflichten aus dem Hessischen
Beamtengesetz verstoßen, und dass durch das weitere Verbleiben des Klägers im
Dienst das Ansehen des Vollzugs in der Öffentlichkeit weiter geschädigt werden
würde. Dabei ist zu vergegenwärtigen, dass der Kernbereich der Dienstpflichten
des Klägers und dessen Pflicht aus § 67 Satz 1 HBG zur vollen Hingabe an seinen
Beruf betroffen ist, denn er muss als Beamter im Justizvollzugsdienst alles in
seiner Macht Stehende unternehmen, um einen entwichenen Gefangenen wieder
in seinen Gewahrsam zu bringen, damit er der ihm obliegenden Pflicht zu dessen
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in seinen Gewahrsam zu bringen, damit er der ihm obliegenden Pflicht zu dessen
ständiger und unmittelbarer Beaufsichtigung bei der Ausführung mit dem Ziel
jederzeitiger Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung wieder nachkommen
kann (Nr. 4.1 zu § 11 der Hessischen Ausführungsbestimmungen zum
Strafvollzugsgesetz vom 29.08.1985 und Nr. 20 Abs. 1 Satz 1 der Dienst- und
Sicherheitsvorschriften für den Strafvollzug - DSVollz - vom 29.10.1986). Darüber
hinaus verlangt § 70 Satz 2 HBG, dass der Beamte die von seinen Vorgesetzten
erlassenen allgemeinen Richtlinien befolgt, so dass der Kläger hier gemäß Nr. 7
des Erlasses des Hessischen Ministeriums der Justiz vom 04.05.1994 (Az.: 4434 -
IV/7 - 586/94) und Nr. 9 Satz 1 DSVollZ nach erfolgloser Nacheile unverzüglich die
Fahndung hätte veranlassen und der Leitung der Vollzugsanstalt hätte Meldung
machen müssen. Das in Frage stehende Verhalten des Klägers, das auch
zumindest in der örtlichen Presse Beachtung fand, konnte mithin seitens des
Beklagten als den Kernbereich der Pflichten des Klägers betreffender Anlass von
solcher Dringlichkeit gesehen werden, dass für den Dienstherrn die Fortführung der
Dienstgeschäfte durch den Kläger untragbar war. Es ist nicht zu vertreten, einen
Beamten des Justizvollzugsdienstes, gegen den ein derartiger Vorwurf im Raume
steht, auch nur einen Tag länger in diesem Dienst einzusetzen. Es standen auch
keine anderen Mittel zur Verfügung, die den seitens des Beklagten erstrebten
Erfolg in gleicher Weise wie das Dienstverbot zu erzielen vermochten, den Kläger
aber weniger belastet hätten.
Die dem Beklagten damit eröffnete Ermessensentscheidung lässt auch im Übrigen
einen Ermessensfehler im Sinne des § 114 VwGO nicht erkennen. Insbesondere ist
das Dienstverbot auch unverzüglich erlassen worden, nachdem dem Ministerium
der maßgebliche Sachverhalt aufgrund des am 02.02.1998 gefertigten Vermerks
des Leiters der JVA Schwalmstadt, der der Gerichtsverhandlung gegen den
Beamten S. vor dem Landgericht Marburg am 27.01.1998 als Zuschauer
beigewohnt hatte, bekannt geworden war. Der bloße zeitliche Abstand zu dem
dem Kläger vorgeworfenen Fehlverhalten vermag einen Ermessensfehler nicht zu
begründen.
Da der Kläger unterliegt, hat er nach § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des
Verfahrens zu tragen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils beruht auf § 167
VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert.