Urteil des VG Kassel vom 04.10.2010

VG Kassel: stadt, durchgangsverkehr, satzung, fraktion, form, deckung, anfechtungsklage, anteil, vollstreckung, magistrat

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Gericht:
VG Kassel 3.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 K 750/09.KS
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 11 KAG HE, § 93 HGO, § 63
HGO
Beanstandung der Änderung einer Straßenbeitragssatzung
Leitsatz
Erfolglose Klage gegen die Beanstandung eines Beschlusses der Gemeindevertretung
zur Änderung der Straßenbeitragssatzung in Gestalt einer erheblichen Erhöhung des
Gemeindeanteils.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die
Vollstreckung durch Sicherheitsleistung nach Maßgabe der Kostenfestsetzung
abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in
entsprechender Höhe leistet.
Tatbestand
Die Stadt A-Stadt erhebt zur Deckung des Aufwands für den Um- oder Ausbau von
öffentlichen Straßen, Wegen und Plätzen (im Folgenden: Verkehrsanlagen)
Beiträge nach dem Gesetz über kommunale Abgaben (KAG) in Verbindung mit
den Bestimmungen ihrer Straßenbeitragssatzung. Nach dem im Jahr 2001
geänderten § 3 Abs. 1 der Satzung trägt die Stadt 55 v.H. des beitragsfähigen
Aufwands, wenn die Verkehrsanlage überwiegend dem Anliegerverkehr, 70 v.H.,
wenn sie überwiegend dem innerörtlichen und 85 v.H., wenn sie überwiegend dem
überörtlichen Durchgangsverkehr dient.
Unter dem 12.11.2008 stellte die CDU-Fraktion im Stadtparlament folgenden
Antrag:
"Die Stadtverordnetenversammlung möge beschließen:
Die Straßenbeitragssatzung in der bisherigen Form wird sofort aufgehoben. Die
bisher erhobenen Straßenbeiträge (u.a. Ölbergstraße) werden an die Anlieger
zurückerstattet. Nach Abschluss der Kanalbauarbeiten mit den Erneuerungen der
Straßenoberflächen soll eine neue Straßenbeitragssatzung beschlossen werden.
Gleichzeitig soll die hessische Landesregierung aufgefordert werden, bis dahin die
gesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen, die Straßenbeiträge, wie in den
Nachbarbundesländern auch, über eine Globalsatzung erheben zu können. Die
entsprechenden Haushaltsmittel sind zu korrigieren.
Begründung:
Angesichts der sehr hohen Gewerbesteuereinnahmen sind wir als Stadt
momentan nicht unbedingt darauf angewiesen, unsere Bürger durch eine sozial
völlig ungerechte Satzung weiter zu bestrafen. Es ist wohl kaum jemanden zu
erklären, dass in einer Sackgasse die untere Hälfte Beiträge entrichten soll und die
obere Hälfte jeden Tag über die neue Straße fahren [kann], ohne Beiträge dafür zu
entrichten. Da unsere Straßen von allen Bewohnern der Stadt genutzt werden, mal
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entrichten. Da unsere Straßen von allen Bewohnern der Stadt genutzt werden, mal
mehr, mal weniger, sollten auch alle Bürger wie bei der Kanalerneuerung über eine
Globalsatzung an den Straßenerneuerungsbeiträgen beteiligt werden. Dazu soll
die hessische Landesregierung aufgefordert werden, wie von vielen Verbänden
schon lange gefordert, endlich die gesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen. Der
Magistrat wird aufgefordert, den Beschluss umgehend umzusetzen."
Der Antrag wurde in der Sitzung der Stadtverordnetenversammlung vom
28.11.2008 mit
13 Ja-Stimmen bei 8 Nein-Stimmen und 3 Enthaltungen beschlossen. Nach
Widerspruch, nochmaligem Beschluss und Beanstandung durch den
Bürgermeister erhob die Klägerin am 13.01.2009 vor dem Verwaltungsgericht
Kassel Klage gegen die Beanstandung, soweit es um die sofortige Aufhebung der
Straßenbeitragssatzung ging. Die Klägerin vertrat die Auffassung, es bestehe
keine Verpflichtung, eine Straßenbeitragssatzung aufzustellen bzw. weiterhin zu
haben und Straßenbeiträge zu erheben. Am 23.09.2009 nahm die Klägerin ihre
Klage zurück, das Verwaltungsstreitverfahren - 3 K 43/09.KS - wurde eingestellt.
Unter dem 18.03.2009 hatte die CDU-Fraktion folgenden Antrag gestellt, der eine
Begründung nicht enthielt:
"Die Stadtverordnetenversammlung möge beschließen:
1. Die Klage vom 12.01.2009 gegen die Beanstandung des Bürgermeisters der
Stadt A-Stadt vom 18.12.2008 wird zurückgenommen.
2. Die Änderung der Straßenbeitragssatzung der Stadt A-Stadt vom 03.03.2005,
auf Grund der §§ 1 bis 5a, 11 des Hessischen Gesetzes über kommunale Abgaben
(KAG) vom 17.03.1970 (GVBl. I S. 225), zuletzt geändert durch Gesetz vom
31.10.2005 (GVBl. I S. 54) in Verbindung mit § 5 der Hessischen
Gemeindeordnung (HGO) in der Fassung vom 01.04.2005 (GVBl. I S. 142)
§ 3 Abs. 1 der Straßenbeitragssatzung lautet neu wie folgt:
Die Stadt trägt 85 Prozent des beitragsfähigen Aufwandes, wenn die
Verkehrsanlage überwiegend dem Anliegerverkehr, 90 Prozent, wenn sie
überwiegend dem innerörtlichen und 95 Prozent, wenn sie überwiegend dem
überörtlichen Durchgangsverkehr dient.
3. Die Satzung tritt rückwirkend zum 28.11.2008 in Kraft."
Der Antrag wurde in der Sitzung der Stadtverordnetenversammlung vom
09.04.2009 mit 17 Ja-Stimmen bei 9 Nein-Stimmen beschlossen.
Mit Schreiben vom 17.04.2009 widersprach der Beklagte gegenüber dem
Stadtverordnetenvorsteher dem Beschluss.
Ausweislich eines Aktenvermerks des Beklagten vom 27.04.2009 wurde seitens
der Kommunalaufsicht mitgeteilt, der Beschluss vom 09.04.2009 sei wegen
Widerstreits der Interessen nicht gültig und in der anstehenden Sitzung am
14.05.2009 nochmals zu behandeln. Da der dem Stadtverordnetenvorsteher F. G.
am 09.04.2009 zugestellte Straßenbeitragsbescheid noch nicht rechtswirksam
gewesen sei, bestehe ein Widerstreit der Interessen und habe Herr G. an der
Beratung und Beschlussfassung nicht teilnehmen dürfen.
In ihrer Sitzung vom 14.05.2009 beschloss die Klägerin den oben
wiedergegebenen Antrag der CDU-Fraktion vom 18.03.2009 mit 16 Ja-Stimmen bei
10 Nein-Stimmen. Der Stadtverordnetenvorsteher verließ wegen Widerstreits der
Interessen in der Zeit von 19:15 Uhr bis 20:13 Uhr den Sitzungsraum und nahm
an der Beratung und Beschlussfassung zu diesem Tagesordnungspunkt nicht teil.
Mit Schreiben vom 18.05.2009 widersprach der Beklagte gegenüber dem
Stadtverordnetenvorsteher und dessen Stellvertreter dem Beschluss vom
14.05.2009, da dieser mit geltendem Recht kollidiere und das Wohl der Stadt
gefährde. Der Widerspruch sei weiterhin notwendig, da der Landrat des
Landkreises Hersfeld-Rotenburg dem Beklagten im Falle des Wirksamwerdens des
CDU-Antrags bislang keinen langfristigen Nachteilsausschluss insbesondere für die
Bürger, deren Beitragsbescheide nicht in ein Zeitfenster mit guten
Steuereinnahmen fielen, garantiert habe. Würde der Beschluss zum Maßstab für
alle Kommunen, könnten also alle Lasten begünstigter Anlieger dem allgemeinen
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alle Kommunen, könnten also alle Lasten begünstigter Anlieger dem allgemeinen
Steuerbürger auferlegt werden, wäre der totale Zusammenbruch des
kommunalen Finanzierungssystems unausweichlich, es sei denn, es gäbe die
wenig schlüssige Möglichkeit, zum Ausgleich die Grundsteuern in gleichem Maße
zu erhöhen und zur Finanzierung heranzuziehen, was jedoch wenig wahrscheinlich
sei.
In ihrer Sitzung vom 28.05.2009 beschloss die Klägerin unter Tagesordnungspunkt
B 1, ihren Beschluss vom 14.05.2009 aufrechtzuerhalten und dem Widerspruch
des Beklagten nicht stattzugeben. Der Stadtverordnetenvorsteher verließ in der
Zeit von 20:06 Uhr bis 20:52 Uhr wiederum den Sitzungsraum und nahm an der
Abstimmung nicht teil.
Mit Schreiben vom 29.05.2009 beanstandete der Beklagte den Beschluss vom
28.05.2009 gegenüber dem Stadtverordnetenvorsteher und dessen Stellvertreter,
da der Beschluss das bestehende Recht verletze. Zur Begründung verwies der
Beklagte auf seinen Widerspruch vom 18.05.2009 nebst Anlagen.
Mit Schreiben vom 09.06.2009 lehnte der Magistrat der Stadt A-Stadt einen von
dem Stadtverordnetenvorsteher F. G. gestellten Antrag auf Stundung bzw.
Aussetzung der Vollziehung bezüglich der ihn betreffenden Bescheide über die
Erhebung eines Straßenbeitrags in Höhe von 4.232,61 EUR, fällig am 11.05.2009,
ab.
In ihrer Sitzung vom 18.06.2009 beschloss die Klägerin, gegen die Beanstandung
Klage zu erheben.
Mit am 25.06.2009 bei Gericht per Telefax eingegangenem Schriftsatz ihrer
Bevollmächtigten hat die Klägerin Klage erhoben. Zu deren Begründung wird
vorgetragen, die Klage sei als Anfechtungsklage zulässig und die Klägerin sei auch
klagebefugt.
Der Beklagte nehme in seiner Beanstandung Bezug auf sein
Widerspruchsschreiben vom 18.05.2009. In diesem Schreiben werde gerügt, dass
der Beschluss der A. das Wohl der Stadt gefährde und auch eine Verletzung
geltenden Rechts zu erkennen sei. Inwiefern durch den Beschluss geltendes Recht
verletzt werde, führe der Beklagte nicht weiter aus. Anders als der Widerspruch
nach § 63 Abs. 1 HGO sei jedoch die Beanstandung des erneuernden Beschlusses
nach § 63 Abs. 2 HGO nur dann möglich, wenn durch den Beschluss das Recht
verletzt werde. Eine Gefährdung des Wohls der Gemeinde berechtige zwar zur
Einlegung des Widerspruchs nach § 63 Abs. 1 HGO, nicht aber zur Beanstandung
nach § 63 Abs. 2 HGO. Bereits aus diesem Grund sei die Beanstandung vom
29.05.2009 rechtswidrig und aufzuheben.
Eine Verletzung geltenden Rechts durch den Beschluss der
Stadtverordnetenversammlung bestehe im Übrigen gerade nicht. Die
beschlossenen Regelungen stünden in Einklang mit den gesetzlichen Regelungen,
insbesondere mit der Vorschrift des § 11 KAG. Danach betrage der
Gemeindeanteil bei einem Um- und Ausbau von Straßen mindestens 25 v.H. bei
Anliegerstraßen, mindestens 50 v.H. bei innerörtlichen Durchgangsstraßen und
mindestens 75 v.H. bei überörtlichen Durchgangsstraßen. Gegen diese
Mindestsätze verstoße die Satzung gerade nicht. Mit der Satzung werde auch
nicht der generelle Verzicht auf die Erhebung von Beiträgen festgelegt. Das
erforderliche Ermessen sei ausgeübt worden, dies insbesondere vor dem
Hintergrund, dass der ursprüngliche Plan, die Beitragserhebung ganz
abzuschaffen, durch Klagerücknahme in dem Verfahren … aufgegeben worden sei.
Es habe eine Auseinandersetzung über die Beitragserhebung und deren Höhe
stattgefunden, die zu den im beanstandeten Beschluss festgelegten
Beitragsanteilen geführt habe.
Der Vorschrift des § 11 Abs. 3 KAG sei auch nicht zu entnehmen, dass der
Gesetzgeber eine Begrenzung nach oben hin vorsehe. Die Norm gebe lediglich
eine Mindestbeteiligung der Gemeinde vor, hinsichtlich der tatsächlichen
Beteiligung werde der Gemeindevertretung ein Ermessen eingeräumt. Da der
Gesetzgeber gerade die Mindestbeteiligung exakt geregelt und somit bewusst den
Gemeinden hinsichtlich der Begrenzung nach oben ohne weitere Nennung einer
exakten Prozentzahl Ermessen eingeräumt habe, könne auch nicht davon
ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber eine Regelung über die Begrenzung
versehentlich nicht gesehen habe oder der Ermessensspielraum der
Gemeindevertretung in das System der vorgegebenen Prozentzahlen gleichsam
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Gemeindevertretung in das System der vorgegebenen Prozentzahlen gleichsam
bis zum Beginn der nächsten Stufe einzupassen sei. Dies könne im Übrigen auch
deshalb nicht sachgerecht sein, weil hier Beteiligungen für völlig unterschiedliche
Straßen, nämlich Anliegerstraßen, innerörtliche Durchgangsstraßen sowie
überörtliche Durchgangsstraßen miteinander vermischt würden.
Die Klägerin habe somit in Übereinstimmung mit geltendem Recht die Satzung
beschlossen, sachfremde Erwägungen lägen nicht vor und würden im Übrigen
auch von dem Beklagten nicht angeführt. Zu dieser Einschätzung komme auch die
Kommunalaufsichtsbehörde in ihrem Schreiben vom 04.05.2009, in dem
beschrieben werde, dass der Beschluss zur Höhe der Straßenbeiträge die
Vorschrift des § 11 Abs. 3 KAG konkretisiere, der insofern eine Mindestvorschrift für
den Gemeindeanteil enthalte und Abweichungen von den festgelegten Sätzen
zulasse.
Die Klägerin beantragt,
die von dem Beklagten unter dem 29.05.2009 ausgesprochene Beanstandung
des Beschlusses der Klägerin vom 28.05.2009 zum Tagesordnungspunkt B 1
(rückwirkende Änderung der Straßenbeitragssatzung) aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er trägt vor, der beanstandete Beschluss verstoße insbesondere gegen die
Beitragserhebungspflicht aus §§ 93 Abs. 2 HGO, 11 Abs. 1 KAG. In § 93 Abs. 2 HGO
habe das Gesetz eine die Kommunalparlamente bindende Reihenfolge bei der
Einnahmebeschaffung aufgestellt. Die Beitragserhebung bei den Straßenanliegern
gehe der Finanzierung durch allgemeine Steuermittel vor. Dies habe auch die
Klägerin grundsätzlich akzeptiert, indem sie ihre Klage in dem Verfahren 3 K
43/09.KS zurückgenommen und damit den Plan aufgegeben habe, die
Beitragserhebung ganz abzuschaffen.
Der Anteil der Allgemeinheit an den durch Um- oder Ausbau von Straßen
entstehenden Kosten sei grundsätzlich in § 11 Abs. 3 KAG vorgegeben. Dort werde
die Mindestbeteiligung aus Steuermitteln vorgegeben und der
Gemeindevertretung damit ein Ermessen eingeräumt, den Steueranteil höher und
den Beitragsanteil der Anlieger geringer festzusetzen. Der vorliegende Rechtsstreit
werfe die Frage der Grenzen dieses Ermessens der Gemeindevertretung auf. Je
höher diese den Gemeindeanteil ansetze, umso mehr komme sie in die Nähe des
unzulässigen Beitragsverzichts. Wie die Vorgeschichte zeige, sei dies ja auch
letztlich das Ziel der Klägerin. Die Klägerin versuche, mit der beanstandeten
Satzungsgestaltung der Beitragserhebungspflicht formal Genüge zu tun, die
Anlieger aber inhaltlich von der Beitragspflicht freizustellen. Dies könne zumindest
in dem von der Klägerin angestrebten Umfang nicht richtig sein. Vielmehr liege es
nahe, den Ermessensspielraum der Gemeindevertretung in der Weise in das
dreistufige System des § 11 Abs. 3 KAG einzupassen, dass ihr Ermessen bis zum
Beginn der "nächsten Stufe", die der Gesetzgeber als Grenze gezogen habe,
reiche. Dies bedeute, dass die Gemeindevertretung bei Anliegerstraßen einen
Gemeindeanteil zwischen 25 v.H. und 50 v.H., bei örtlichen Durchgangsstraßen
zwischen 50 v.H. und 75 v.H. sowie bei überörtlichen Durchgangsstraßen zwischen
75 v.H. und 100 v.H. wählen könnte. Dass es dabei bei überörtlichen
Durchgangsstraßen auch zu keiner Beitragserhebung kommen könne, wäre als
Folge der gesetzlich vorgegebenen Abstufung einerseits und dem der
Gemeindevertretung eingeräumten Ermessen andererseits hinzunehmen. Bei den
überörtlichen Durchgangsstraßen seien der Vorteil für die Allgemeinheit und die
Belastung für die Anlieger hoch, der Vorteil für die Anlieger hingegen gering. Dabei
sei anzumerken, dass es für die Gemeinde in der Regel nicht bei ihrem Anteil als
wirtschaftlicher Belastung verbleibe, weil Zuschüsse, etwa nach dem GVFG, der
Gemeinde zugute kämen, während sie den beitragsfähigen Aufwand der Anlieger
nicht minderten. Indem die Klägerin vorliegend den Gemeindeanteil für
Anliegerstraßen auf 85 v.H. und den für innerörtliche Durchgangsstraßen auf 90
v.H. festlegen wolle, habe sie das ihr gesetzlich eingeräumte Ermessen
überschritten und damit das Recht in Form der Beitragserhebungspflicht verletzt.
Schließlich könne die Klägerin die aufgrund der beanstandeten Satzung
ausfallenden Beiträge nur durch Kreditaufnahme ersetzen. So habe die Klägerin in
ihrer Sitzung vom 15.05.2010 beschlossen, auf der Haushaltsstelle …
(Gemeindestraßen) die Einnahmen auf 560.000,00 EUR zu kürzen und die
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(Gemeindestraßen) die Einnahmen auf 560.000,00 EUR zu kürzen und die
fehlenden Einnahmen über höhere Kreditaufnahmen im Vermögenshaushalt
auszugleichen. Auch das Hessische Innenministerium sehe hierin einen Verstoß
gegen § 93 HGO.
Mit Beschluss der Kammer vom 19.08.2010 ist der Rechtsstreit dem
Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen worden.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakten des vorliegenden Verfahrens und des Verfahrens … und der von
dem Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge (1 Heft, unpaginiert) verwiesen,
die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
Die Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 VwGO statthaft und auch im
Übrigen zulässig. Die Beanstandung eines Beschlusses der Gemeindevertretung
durch den Bürgermeister gemäß § 63 Abs. 2 HGO ist ein Verwaltungsakt im Sinne
von § 35 HVwVfG, der ohne Vorverfahren (§ 63 Abs. 2 Satz 4 HGO) zur Erhebung
der verwaltungsgerichtlichen Anfechtungsklage berechtigt.
Die Klage hat indes in der Sache keinen Erfolg, weil die mit Schreiben vom
29.05.2009 ausgesprochene Beanstandung des Beschlusses vom 28.05.2009
rechtmäßig und die Klägerin dadurch nicht in ihren Rechten verletzt ist (§ 113 Abs.
1 Satz 1 VwGO).
In formell-rechtlicher Hinsicht bestehen keine durchgreifenden Bedenken gegen
die Rechtmäßigkeit der Beanstandung, insbesondere ist auch die Form des § 63
Abs. 2 Satz 2 HGO beachtet worden. Nach dieser Vorschrift ist die Beanstandung
schriftlich zu begründen. Dem ist hier Genüge getan, indem der Beklagte in
seinem Schreiben vom 29.05.2009 auf seinen vorangegangenen Widerspruch
nebst Anlagen Bezug nahm. Daraus ergibt sich mit hinreichender Deutlichkeit,
dass der Beklagte eine Verletzung des Rechts daraus herleitet, dass die geänderte
Satzungsregelung gegen das kommunale Finanzierungssystem verstoße und in
eklatanter Weise den Grundsätzen der kommunalen Einnahmenbeschaf-fung
widerspreche. Damit sind direkt die Vorschriften des KAG und der HGO über die Er-
hebung von Beiträgen und die Einnahmenbeschaffung angesprochen und ist dem
Begründungserfordernis des § 63 Abs. 2 Satz 2 HGO genügt, denn das mit der
Gesetzesregelung verfolgte Ziel, der Gemeindevertretung für ihre Entscheidung
darüber, ob der Rechtsweg beschritten werden soll oder nicht, die erforderlichen
Kenntnisse zu vermitteln (vgl. Bennemann, in: Kommunalverfassungsrecht
Hessen, Band I, § 63 HGO Rdnr. 50) wurde damit erreicht. Dementsprechend
konnte die Klägerin in ihrer Sitzung vom 18.06.2009 über die Einleitung des
Klageverfahrens beraten und die am 25.06.2009 erhobene Klage sodann in der
Sache begründen.
Die angefochtene Beanstandung ist auch materiell rechtmäßig, denn der
Beschluss der Klägerin vom 28.05.2009 über die rückwirkende Änderung der
Straßenbeitragssatzung verletzt das Recht.
Nach § 11 Abs. 1 KAG können die Gemeinden und Landkreise zur Deckung des
Aufwands für die Schaffung, Erweiterung und Erneuerung öffentlicher Einrichtungen
Beiträge von den Grundstückseigentümern erheben, denen die Möglichkeit der
Inanspruchnahme dieser öffentlichen Einrichtungen nicht nur vorübergehende
Vorteile bietet. Nachdem die Stadt A-Stadt mit ihrer Straßenbeitragssatzung die
Voraussetzungen für die Erhebung von Beiträgen zur Deckung des Aufwands für
den Um- oder Ausbau von öffentlichen Straßen, Wegen und Plätzen geschaffen
hat, ist sie hinsichtlich des "Wie(-viel)" den rechtlichen Vorgaben des KAG
unterworfen (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 06.06.2001 - 9 LA 907/01 -,
NVwZ-RR 2002, 294 = KStZ 2001, 209, zum Niedersächsischen KAG). Dazu
bestimmt § 11 Abs. 3 KAG in Konkretisierung des in § 11 Abs. 1 KAG begründeten
Vorteilsprinzips, dass bei einem Um- und Ausbau von Straßen, Wegen und
Plätzen, der über die Straßenunterhaltung und die Straßeninstandsetzung
hinausgeht, bei der Bemessung des Beitrages außer Ansatz bleiben mindestens
25 v.H. des Aufwands, wenn diese Einrichtungen überwiegend dem Anliegerverkehr
dienen, mindestens 50 v.H., wenn sie überwiegend dem innerörtlichen
Durchgangsverkehr dienen, und mindestens 75 v.H., wenn sie überwiegend dem
überörtlichen Durchgangsverkehr dienen. Ferner bestimmt § 11 Abs. 5 Satz 1
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überörtlichen Durchgangsverkehr dienen. Ferner bestimmt § 11 Abs. 5 Satz 1
KAG, dass die Beiträge nach den Vorteilen zu bemessen sind.
Der Straßenbeitrag ist demnach eine Gegenleistung für durch die Leistung der
Gemeinde vermittelte wirtschaftliche Vorteile und dient mithin dem
Vorteilsausgleich. Grundstückseigentümer, denen durch die Möglichkeit der
Inanspruchnahme einer ausgebauten Straße im Verhältnis zur Allgemeinheit
besondere wirtschaftliche Vorteile erwachsen, sollen diese zusätzlichen Vorteile
durch eine Geldleistung ausgleichen. Denn bei einer Finanzierung der von der
Gemeinde erbrachten Leistung durch Steuern würden die Vorteilsempfänger die
von dieser Leistung ausgelösten zusätzlichen Vorteile auf Kosten der
Allgemeinheit, mithin gleichsam entgeltlos erhalten (vgl. Driehaus, Erschließungs-
und Ausbaubeiträge, 8. Aufl., § 28 Rdnr. 8). Der Vermeidung derartiger
entgeltloser Bereicherungen entspricht es, wenn § 93 Abs. 2 HGO bestimmt, dass
die Gemeinde die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Einnahmen soweit
vertretbar und geboten aus Entgelten für ihre Leistungen und nur im Übrigen aus
Steuern zu beschaffen hat, soweit die sonstigen Einnahmen nicht ausreichen.
Kredite darf die Gemeinde nur aufnehmen, wenn eine andere Finanzierung nicht
möglich ist oder wirtschaftlich unzweckmäßig wäre (§ 93 Abs. 3 HGO).
Diesen Vorgaben wird die von der Klägerin beschlossene Änderung des § 3 Abs. 1
der Straßenbeitragssatzung nicht gerecht.
Das in § 11 KAG formulierte Vorteilsprinzip erschöpft sich nicht darin, die
Beitragspflichtigen vor zu hohen, nicht vorteilsgerechten Beiträgen zu schützen.
Die Gemeindevertretung übt das ihr als Satzungsgeberin zukommende Ermessen
bei der Festsetzung des Anliegeranteils und damit korrespondierend des
Gemeindeanteils nur dann sachgerecht aus, wenn der durch den Erlass der
Straßenbeitragssatzung erklärten Verpflichtung zur Beitragserhebung durch eine
angemessene Vorteilsbemessung Rechnung getragen wird (vgl. OVG Lüneburg,
a.a.O.). Hierbei ist es nicht damit getan, rein zahlenmäßig die Mindestsätze des §
11 Abs. 3 KAG zu beachten. Das Vorteilsprinzip verlangt vielmehr, dass das Maß
der schätzungsweise zu erwartenden Inanspruchnahme der ausgebauten Straße
durch die Anlieger einerseits und durch die Allgemeinheit andererseits
gegenübergestellt wird und auf dieser Grundlage die jeweiligen Anteilssätze
festgelegt werden. Je mehr die ausgebaute Straße erfahrungsgemäß von der
Allgemeinheit benutzt (werden) wird, desto höher ist der Wert des durch die
Inanspruchnahmemöglichkeit der Allgemeinheit vermittelten Vorteils zu bemessen
und desto höher muss dementsprechend der Gemeindeanteil sein. Umgekehrt
muss der Anliegeranteil desto höher sein, je mehr die ausgebaute Straße
erfahrungsgemäß von den anliegenden Grundstücken aus benutzt (werden) wird.
Erforderlich ist also eine überschlägige Quantifizierung der jeweiligen anteiligen
Nutzung durch die Anlieger und durch die Allgemeinheit. Das in § 11 KAG
niedergelegte Vorteilsprinzip gibt für die Bestimmung von Gemeinde- und
Anliegeranteil einen verbindlichen Rahmen vor; innerhalb, aber auch nur innerhalb
dieses Rahmens kommt der Gemeinde ein gewisser Einschätzungsspielraum bzw.
ein Bewertungsermessen zu, da eine sichere exakte Prognose über das Verhältnis
der wahrscheinlichen Inanspruchnahme der Straße und damit der Werte der der
Allgemeinheit einerseits und den Grundstückseigentümern andererseits
gebotenen Vorteile schlechterdings nicht möglich ist (vgl. Driehaus, a.a.O., § 34
Rdnr. 8 m.w.N.).
Diesen Spielraum bzw. dieses Ermessen hat die Klägerin mit der von ihr
beschlossenen Änderung des § 3 Abs. 1 der Straßenbeitragssatzung, wonach der
Gemeindeanteil bei einer überwiegend dem Anliegerverkehr dienenden
Verkehrsanlage 85 v.H., bei einer überwiegend dem innerörtlichen
Durchgangsverkehr dienenden Verkehrsanlage 90 v.H. und bei einer überwiegend
dem überörtlichen Durchgangsverkehr dienenden Verkehrsanlage 95 v.H. beträgt,
überschritten bzw. fehlerhaft ausgeübt.
Als Anliegerverkehr ist der Verkehr anzusehen, der zu den angrenzenden
Grundstücken hinführt und von ihnen ausgeht; dieser sog. Ziel- und Quellverkehr
ist das kennzeichnende Moment für den Anliegerverkehr (vgl. Driehaus, a.a.O., §
34 Rdnr. 32 m.w.N.). Dient eine Straße oder eine andere Verkehrsanlage indes
überwiegend, also mehr als 50 v.H. dem Anliegerverkehr, muss sich ausgehend
vom Vorteilsprinzip auch die Vorteilsbemessung hieran ausrichten. Dies ist aber
offensichtlich nicht der Fall, wenn - wie von der Klägerin beschlossen - bei einer
überwiegend dem Anliegerverkehr dienenden Verkehrsanlage der Gemeindeanteil
auf 85 v.H. und der Anteil der Anlieger, denen die Anlage überwiegend zugute
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auf 85 v.H. und der Anteil der Anlieger, denen die Anlage überwiegend zugute
kommt, auf lediglich 15 v.H. festgesetzt wird. Die beanstandete Satzungsregelung
ist daher rechtswidrig.
Dies gilt gleichfalls für die Regelung, bei einer überwiegend dem innerörtlichen
Durchgangsverkehr dienenden Verkehrsanlage den Gemeindeanteil auf 90 v.H.
festzusetzen und damit den Anliegeranteil auf 10 v.H. zu beschränken. Eine
überwiegend dem innerörtlichen Durchgangsverkehr dienende Straße dient (zwar)
neben der Erschließung von Grundstücken der Aufnahme von Verkehr innerhalb
von Baugebieten oder innerhalb von im Zusammenhang bebauten Ortsteilen (vgl.
Driehaus, a.a.O., § 34 Rdnr. 33). Eine Regelung, die bei einer solchen Straße eine
Heranziehung der beitragspflichtigen Anlieger über einen Anteilssatz von 10 v.H.
hinaus in jedem Fall ausschließt, bemisst jedoch die Vorteile nicht gerecht, die den
Anliegern durch die Möglichkeit der Inanspruchnahme der um- oder ausgebauten
Straße geboten werden, indem diese Straße in erheblichem Umfang (auch) dem
Anliegerverkehr dient. Die geringe Differenzierung von lediglich fünf
Prozentpunkten, die die beanstandete Satzungsregelung bei den
Verkehrsanlagen, die überwiegend dem Anliegerverkehr (85 v.H.), überwiegend
dem innerörtlichen Durchgangsverkehr (90 v.H.) und überwiegend dem
überörtlichen Durchgangsverkehr (95 v.H.) dienen, vorsieht, unterstreicht die
Rechtswidrigkeit der von der Klägerin beschlossenen Regelung. Aus dem
Vorteilsprinzip resultiert auch das Erfordernis einer plausiblen Abstufung der
Anteilssätze, also einer hinreichenden Stimmigkeit der Anteilssätze untereinander
(vgl. OVG Lüneburg, a.a.O., VG Dessau, Urteil vom 07.09.2000 - 2 A 756/99 DE -,
NVwZ-RR 2001, 326, 329). Von einer solchen Stimmigkeit kann bei den von der
Klägerin gewählten Anteilssätzen keine Rede sein. Es ist auch keine
nachvollziehbare Begründung für die Festlegung gerade der von der Klägerin
beschlossenen Anteilssätze erkennbar. Der Umstand, dass die den
Änderungsantrag einbringende Fraktion die bislang geltende
Straßenbeitragssatzung für sozial völlig ungerecht hält, entbindet die Klägerin
nicht von der Beachtung der gesetzlichen Vorgaben. Dies gilt umso mehr, als die
Verschuldung der Stadt A-Stadt , die den Angaben im vorangegangenen
Verfahren … zufolge sich im Jahr 2005 auf 11,478 Mio. EUR belief, in den
Folgejahren weiter anstieg und im Jahr 2009 schließlich 27,399 Mio. EUR betrug,
keinen Anlass bietet, die bereits im Jahr 2001 erheblich reduzierten Anteilssätze
der Anlieger weiter zu reduzieren und damit der Gemeinde Einnahmen
vorzuenthalten, deren Beschaffung nach den Grundsätzen des § 93 HGO
vorgeschrieben ist. Die Bestimmungen dieser Vorschrift stellen nicht lediglich
Ratschläge dar, die eine Gemeinde aufgrund von Zweckmäßigkeitsüberlegungen
befolgen oder auch nicht befolgen kann, sondern sie enthalten gesetzliche
Verpflichtungen, deren Nichtbeachtung das Recht verletzt (vgl. Hess. VGH,
Beschluss vom 15.03.1991 - 5 TH 642/89 -, NVwZ 1992, 807). Die
Gemeindevertretung handelt mithin nicht allenfalls dann rechtswidrig, wenn sie
sich weigert, das zur Erhebung der der Gemeinde zustehenden Entgelte für ihre
Leistungen notwendige Satzungsrecht überhaupt zu erlassen, sondern eine
Verletzung des Rechts kann bereits dann festgestellt werden, wenn die
Gemeindevertretung - wie hier - das Satzungsrecht der Gemeinde so gestaltet,
dass zwar nicht gänzlich, aber doch in erheblichem Umfang auf die der Gemeinde
zustehenden Entgelte für Sondervorteile verzichtet wird, indem der
Gemeindeanteil in der Straßenbeitragssatzung unverhältnismäßig hoch, weil die
Vorteile der Allgemeinheit evident nicht widerspiegelnd, festgesetzt wird.
Mithin ist die angefochtene Beanstandung des Beklagten nach allem ihrerseits
rechtlich nicht zu beanstanden und die Klage somit abzuweisen.
Da die Klägerin unterliegt, hat sie nach § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des
Verfahrens zu tragen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils beruht auf § 167
VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.
Beschluss
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 10.000,00 EUR festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG und bringt in Anknüpfung an
Nummer 22.7 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NVwZ
2004, 1327) den dort für einen Kommunalverfassungsstreit vorgeschlagenen
2004, 1327) den dort für einen Kommunalverfassungsstreit vorgeschlagenen
Betrag in Ansatz.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert.