Urteil des VG Karlsruhe vom 10.06.2010

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VG Karlsruhe Urteil vom 10.6.2010, 9 K 503/10
Zurückstellung eines Wehrpflichtigen; Studium
Tenor
1. Der Musterungsbescheid des Kreiswehrersatzamtes Mannheim vom 18.01.2010 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides der Wehrbereichsverwaltung Süd vom 09.02.2010 wird aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
1
Der am … 1988 geborene Kläger begehrt seine Zurückstellung vom Wehrdienst und wendet sich gegen seine
Musterung als wehrdienstfähig.
2
Er besuchte zunächst bis zum Sommer 2006 die Berufsfachschule, absolvierte in der Folgezeit erfolgreich eine
Berufsausbildung zum Werkzeugmechaniker und besucht derzeit bis voraussichtlich zum 05.07.2010 ein
einjähriges Berufskolleg zum Erwerb der Fachhochschulreife.
3
Im Dezember 2009 schloss der Kläger mit der T... Automotive Electronics & Components GmbH einen
Studien- und Ausbildungsvertrag für den Zeitraum 01.10.2010 bis 30.09.2013 im Zusammenhang mit einem
dreijährigen Studium an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW), Studienakademie
Friedrichshafen, im Studiengang Maschinenbau, Studienrichtung Fahrzeug-System-Engineering. Ergänzend
hierzu schloss er mit dem Unternehmen am gleichen Tag eine Zusatzvereinbarung, wonach die Ausbildung mit
einer betrieblichen Orientierungsphase am 01.09.2010 beginnt.
4
Anlässlich seiner Musterung am 18.01.2010 beantragte er seine Zurückstellung vom Wehrdienst bis zum
30.09.2013 im Hinblick auf das beabsichtigte Studium.
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Mit Musterungsbescheid vom 18.01.2010 erklärte das Kreiswehrersatzamt Mannheim ihn für wehrdienstfähig
und zwar verwendungsfähig mit Einschränkung für bestimmte Tätigkeiten und lehnte den
Zurückstellungsantrag ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, zum vorgesehenen Dienstantritt am 01.04.2010
habe der Kläger das dritte Semester eines Hochschulstudiums noch nicht erreicht.
6
Am 22.01.2010 legte der Kläger unter Vorlage einer Schulbesuchsbescheinigung Widerspruch gegen die
Ablehnung seines Zurückstellungsgesuches mit der Begründung ein, er besuche derzeit das Berufskolleg. Im
Falle einer Einberufung sei die beabsichtigte Ausbildung nicht möglich, so dass er nach Beendigung des
Wehrdienstes arbeitslos würde.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 09.02.2010 stellte die Wehrbereichsverwaltung Süd den Kläger bis zum
Abschluss seiner Schulausbildung am 05.07.2010 vom Wehrdienst zurück und wies den Widerspruch im
Übrigen als unbegründet zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, das von ihm beabsichtigte Studium an der
DHBW erfülle nicht die Voraussetzungen des § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3c WPflG, da es zu einem akademischen
Abschluss (Bachelor of Engineering), nicht aber zu einem berufsqualifizierenden Abschluss führe. Es sei daher
wie ein normales Studium an einer allgemeinen Hochschule oder Fachhochschule zu behandeln, so dass eine
besondere Härte nach § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3b WPflG nur dann vorliege, wenn der Kläger zum vorgesehenen
Dienstantritt das dritte Semester erreicht hätte. Zum nächstmöglichen Diensteintrittstermin im Oktober 2010
seien diese Voraussetzungen nicht gegeben. Ein allgemeiner Härtefall liege ebenfalls nicht vor.
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Mit seiner am 26.02.2010 erhobenen Klage macht der Kläger ergänzend zu seinem Vorbringen im
Widerspruchsverfahren geltend, wehrdienstuntauglich zu sein. Seine erhebliche Wirbelsäulenkrümmung
(Skoliose) und eine schwere Hausstauballergie seien bei der Feststellung des Tauglichkeitsgrades nicht
berücksichtigt worden. Er beantragt,
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den Musterungsbescheid des Kreiswehrersatzamtes Mannheim vom 18.01.2010 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides der Wehrbereichsverwaltung Süd vom 09.02.2010 aufzuheben.
10 Die Beklagte beantragt,
11
die Klage abzuweisen.
12 Ergänzend zu den Ausführungen in den streitgegenständlichen Bescheiden macht sie geltend, die
vorgebrachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen seien im Musterungsverfahren vollumfänglich und korrekt
gewürdigt worden und rechtfertigten keinen Verwendungsausschluss.
13 Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze, die dem Gericht vorgelegte
Verwaltungsakte und die Niederschrift über die mündliche Verhandlung verwiesen.
Entscheidungsgründe
14 Die Klage ist zulässig und begründet. Der Musterungsbescheid des Kreiswehrersatzamtes Mannheim vom
18.01.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Wehrbereichsverwaltung Süd vom 09.02.2010 ist
rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat einen
Anspruch auf Zurückstellung vom Wehrdienst zum Studium an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg.
Der insoweit unteilbare Musterungsbescheid (BVerwG, Urt. v. 25.06.1985 - 8 C 72/83 -, NVwZ 1985, 902,
m.w.N.) war daher insgesamt aufzuheben; auf die Frage der Wehrdienstunfähigkeit des Klägers kommt es
nicht an.
15 Gemäß § 12 Abs. 4 Satz 1 WPflG soll ein Wehrpflichtiger auf Antrag zurückgestellt werden, wenn die
Heranziehung für ihn wegen persönlicher, insbesondere häuslicher, wirtschaftlicher oder beruflicher Gründe eine
besondere Härte bedeuten würde. Eine solche liegt nach Satz 2 Nr. 3c der Norm in der Regel vor, wenn die
Einberufung einen zum vorgesehenen Diensteintritt begonnenen dualen Bildungsgang (Studium mit
studienbegleitender betrieblicher Ausbildung), dessen Regelstudienzeit acht Semester nicht überschreitet und
bei dem das Studium spätestens drei Monate nach Beginn der betrieblichen Ausbildung aufgenommen wird,
unterbrechen würde.
16 Diese Voraussetzungen sind gegeben.
1.
17 Bei dem vom Kläger beabsichtigten, auf einen Bachelorabschluss zielenden dreijährigen Studium an der
DHBW (vgl. § 29 Abs. 4 Satz 3 Nr. 2, Satz 2 LHG), bei dem das Studium an der Studienakademie mit einer
praxisorientierten Ausbildung in einer beteiligten Ausbildungsstätte verbunden ist (duales System, vgl. §§ 2
Abs. 1 Satz 3 Nr. 5, 29 Abs. 6 LHG, § 1 Abs. 2 der Grundordnung der DHBW vom 26.05.2009), handelt es sich
um einen dualen Bildungsgang im Sinne des § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3c WPflG, dessen Regelstudienzeit acht
Semester nicht überschreitet und bei dem das Studium spätestens drei Monate nach Beginn der betrieblichen
Ausbildung aufgenommen wird.
18 Dem steht insbesondere nicht entgegen, dass das Studium an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg auf
einen akademischen, nicht aber darüber hinaus auf einen eigenständigen berufsqualifizierenden Abschluss
ausgerichtet ist.
19 Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3c WPflG, der einen dualen Bildungsgang
als Studium mit studienbegleitender betrieblicher Ausbildung definiert und eine Berufsausbildung im Sinne einer
auf den Erwerb einer zusätzlichen Berechtigung zur Berufsausübung ausgerichteten Ausbildung gemäß § 1
Abs. 3 BBiG gerade nicht voraussetzt. Gegen eine einschränkende Auslegung des § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3c
WPflG, wonach es sich bei der erforderlichen studienbegleitenden betrieblichen Ausbildung um eine solche
Berufsausbildung handeln muss, spricht zudem, dass § 12 Abs. 4 Satz 2 WPflG in Nr. 3c einerseits und in Nr.
3e und am Ende andererseits ausdrücklich zwischen den Begriffen studienbegleitende betriebliche Ausbildung
und Berufsausbildung unterscheidet (anders, ohne weitere Begründung, VG Ansbach, Urt. v. 30.06.2009 - AN
15 K 09.00653 und 09.00875 -, JURIS, wonach der duale Bildungsgang ebenfalls eine Berufsausbildung
umfasse, die mit der betrieblichen Ausbildung angesprochen werde; VG Minden, Beschl. v. 19.05.2009 - 10 L
222/09 - unveröff., unter Bezugnahme auf BVerwG, Urt. v. 24.10.2007 - 6 C 9/07 -, NVwZ-RR 2008, 263).
20 Die Entstehungsgeschichte der Norm lässt ebenfalls nicht den Schluss zu, dass § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3c
WPflG entgegen seinem Wortlaut nur solche dualen Studiengänge privilegiert, die auf einen eigenständigen
berufsqualifizierenden Abschluss ausgerichtet sind (ebenso VG Stuttgart, Beschl. v. 01.03.2010 - 13 K 499/10
-, JURIS; zweifelnd VG Regensburg, Beschl. v. 26.04.2010 - RO 7 S 10.621 -, JURIS). Zwar heißt es in der
Begründung des ursprünglichen Gesetzesentwurfes der Bundesregierung zur Änderung wehrrechtlicher und
anderer Vorschriften (Wehrrechtsänderungsgesetz 2007, BT-Drs. 16/7955, S. 6, 21, 25, 27, 44), der den dualen
Bildungsgang bereits als Studium mit studienbegleitender betrieblicher Ausbildung definierte und einem
sonstigen Hochschulstudium gleichstellte, die in das Studium integrierte Berufsausbildung könne für die
Entscheidung über die Zurückstellung keine Bedeutung haben. Auch der Bundesrat, der sich in seiner
Stellungnahme vom 11.05.2007 (BT-Drs. 16/7955, S. 46 ff.) - d.h. vor dem Urteil des
Bundesverwaltungsgerichts vom 24.10.2007 - 6 C 9/07 -, a.a.O. - für eine Beibehaltung der damals geltenden
Fassung mit der Begründung aussprach, Studierende im dualen Studium sollten wie andere Auszubildende
behandelt werden, die ihre Ausbildung nicht unterbrechen müssten, hatte wohl in erster Linie solche dualen
Studiengänge im Blick, bei denen die Studierenden neben dem Studium eine Berufsausbildung absolvieren.
Dass für duale Bildungsgänge mit § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3c WPflG letztendlich ein eigener
Zurückstellungstatbestand geschaffen wurde, beruhte jedoch auf der Erwägung, dass die Unterbrechung eines
Studiums, bei dem betriebliche Anteile mit Ausbildungsabschnitten an Hochschulen verknüpft sind,
organisatorisch schwieriger zu handhaben sei als die eines reinen Studiums und den dual Studierenden stärker
belasten könne als einen Studierenden in einem Studium herkömmlicher Art (vgl. Gegenäußerung der
Bundesregierung vom 30.01.2008, BT-Drs. 16/7955, S. 49). Diese Erwägung betrifft mit einer Berufsausbildung
verknüpfte Studiengänge gleichermaßen wie sonstige duale Studiengänge. Bereits während des
Gesetzgebungsverfahrens waren die allgemein als duale Bildungsgänge bezeichneten Studiengänge entweder
als Studium mit studienbegleitender Berufsausbildung oder aber als Studium mit studienbegleitender sonstiger
betrieblicher Ausbildung ausgestaltet, wie sie nunmehr an der DHBW ausschließlich angeboten werden. Vor
diesem Hintergrund ist festzustellen, dass der Gesetzgeber die Verbindung von Studium und Berufsausbildung
möglicherweise als typische Form des dualen Bildungsganges betrachtete. Dass er die durchaus bekannte
Verzahnung von Studium und praxisorientierter betrieblicher, nicht aber auf einen eigenständigen
Berufsabschluss gerichteter Ausbildung von der Privilegierung ausnehmen wollte, ist demgegenüber den
Gesetzgebungsmaterialien nicht zu entnehmen. Vielmehr wurde auch in der Beratung des Deutschen
Bundestages am 10.04.2008 (Plenarprotokoll, S. 16221 ff.) der duale Bildungsgang mehrfach als Verbindung
zwischen Studium und betrieblicher bzw. praktischer Ausbildung umschrieben, was ebenfalls bestätigt, dass
der Gesetzgeber mit § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3c WPflG den Schwierigkeiten bei einer Unterbrechung von dualen
Bildungsgängen unabhängig davon Rechnung tragen wollte, ob diese mit einer Berufsausbildung oder einer
sonstigen betrieblichen Ausbildung verknüpft sind.
21 Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 24.10.2007 (6 C
9/07, a.a.O.). Dem Bundesverwaltungsgericht oblag die Entscheidung, ob eine Ausbildung in einem eine
Berufsausbildung umfassenden dualen Studiengang unter den Voraussetzungen des § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3b
Alt. 1 (Hochschul- oder Fachhochschulstudium) oder des § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3c (Berufsausbildung) des
Wehrpflichtgesetzes in der bis zum 08.08.2008 geltenden Fassung einen Zurückstellungsgrund darstellt. Es
stellte in diesem Urteil lediglich fest, dass duale Studiengänge der vom dortigen Kläger betriebenen Art durch
den Erwerb eines Berufsabschlusses in einem anerkannten Ausbildungsberuf während des Studiums
gekennzeichnet seien. Dass die (formale) Doppelqualifikation der Absolventen zur Typik eines dualen
Studiums schlechthin gehört, ist der Entscheidung indes nicht zu entnehmen (in diesem Sinne allerdings
BVerwG, Urt. v. 11.06.2008 - 6 C 35/07 -, JURIS; s.a. BVerwG, Presseerklärung vom 24.10.2007). Ungeachtet
dessen ist die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Rechtslage bis zum 08.08.2008 unergiebig
für die Auslegung des erst mit dem Wehrrechtsänderungsgesetz 2008 geschaffenen
Zurückstellungstatbestandes des begonnenen, als Studium mit studienbegleitender betrieblicher Ausbildung
definierten dualen Bildungsganges. Sie ist auch nicht bei der Ermittlung des gesetzgeberischen Willens
heranziehbar, da sie weder den bereits zuvor erstellten Gesetzesentwurf der Bundesregierung noch die
ebenfalls ältere Stellungnahme des Bundesrates veranlasste und auch im weiteren Gesetzgebungsverfahren
ausweislich der Gesetzgebungsmaterialien ein bestimmtes Verständnis des Bundesverwaltungsgericht vom
Wesen eines dualen Bildungsganges nicht zugrundegelegt wurde.
2.
22 Eine Einberufung des Klägers würde den zum vorgesehenen Diensteintritt begonnenen Bildungsgang
unterbrechen. Abzustellen ist dabei auf den zum maßgeblichen Zeitpunkt des Abschlusses des
Verwaltungsverfahrens nächstmöglichen Gestellungstermin (BVerwG, Urt. v. 25.06.1985 - 8 C 72/83 -, a.a.O.,
m.w.N.), mithin aufgrund der mit Widerspruchsbescheid vom 09.02.2010 erfolgten Zurückstellung des Klägers
bis zum 05.07.2010 der vom Kreiswehrersatzamt Mannheim auf telefonische Anfrage der Berichterstatterin
benannte 04.10.2010.
23 Der vom Kläger beabsichtigte duale Bildungsgang beginnt ausweislich des vorgelegten Studien- und
Ausbildungsvertrages und gemäß § 2 Abs. 1 der Zulassungs- und Immatrikulationssatzung der Dualen
Hochschule Baden-Württemberg vom 15.01.2010 am 01.10.2010. Auf den tatsächlichen Ausbildungsbeginn
kommt es nicht an. Die vom Kläger mit dem Ausbildungsunternehmen vereinbarte, am 01.09.2010 beginnende
betriebliche Orientierungsphase ist ebenfalls unbeachtlich, denn hierbei handelt es sich nicht um einen
integralen Bestandteil des dualen Bildungsganges, dessen Beginn allein durch die Studienordnung der
Hochschule bestimmt wird.
24 Dem Klageantrag war nach alledem mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.
25 Die Berufung ist nach § 34 Satz 1 WPflG ausgeschlossen. Die Revision war zuzulassen, weil die
entscheidungserhebliche Rechtsfrage, ob es sich bei Studiengängen, die lediglich auf einen akademischen,
nicht aber darüber hinaus auch auf einen eigenständigen berufsqualifizierenden Abschluss ausgerichtet sind,
um duale Bildungsgänge im Sinne des § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 3c WPflG handelt, in Anbetracht der
Einberufungs- und Zurückstellungspraxis der Beklagten von grundsätzlicher Bedeutung i.S.v. § 135 VwGO
i.V.m. § 132 Abs. 2 VwGO ist.
26
Beschluss
27 Der Streitwert wird gemäß § 52 Abs. 2 GKG auf 5.000 EUR festgesetzt.
28 Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 34 Satz 1 WPflG).