Urteil des VG Hannover vom 24.07.2013

VG Hannover: staatsprüfung, grundrecht, nbg, prüfer, ermächtigung, verordnung, niedersachsen, erwerb, berufsfreiheit, rechtsgrundlage

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Prüfungsanspruch nach Außerkrafttreten der
Prüfungsordnung
Das Außerkrafttreten der Verordnung über die Ersten Staatsprüfungen für
Lehrämter im Land Niedersachsen am 31. Dezember 2012 hat nicht zur
Folge, dass die erst nach dem Ablauf dieses Datums getroffenen
Prüfungsentscheidungen in den (noch) anhängigen Prüfungsverfahren
rechtswidrig wären.
VG Hannover 6. Kammer, Urteil vom 24.07.2013, 6 A 2781/13
Art 12 Abs 1 GG, § 122 BG ND, Lehr1PrV ND
Tatbestand
Der Kläger studiert an der D. Universität E. mit dem Ziel der Ersten
Staatsprüfung im Studiengang Lehramt an Grund-, Haupt- und Realschulen
mit dem Schwerpunkt Haupt- und Realschulen und den Unterrichtsfächern
Deutsch und X. sowie dem Wahlpflichtfach Y..
Am xx.xx.xxxx nahm der Kläger an der Aufsichtsarbeit für die schriftliche
Prüfung in dem von ihm gewählten Teilbereich Literaturwissenschaft im Fach
Deutsch teil. ….
Die Aufsichtsarbeit des Klägers wurde von der Prüferin F. am 20. November
2012 mit der Note „mangelhaft (5)“ bewertet. Dieser Bewertung schloss sich
die Zweitprüferin Dr. G. am 27. November 2012 an.
Am xx.xx.xxxx fand die mündliche Prüfung des Klägers im Fach Deutsch statt.
Deren Ergebnis wurde mit der Note „mangelhaft (4,5)“ ermittelt, nachdem die
Prüferin Prof. Dr. H. die Prüfungsleistung mit der Note „5“ und der Prüfer Dr. I.
mit der Note „4“ bewertet hatten. Daraufhin gab der Beklagte dem Kläger mit
Bescheid vom 22. Januar 2013 das Nichtbestehen der Prüfung im
Prüfungsfach Deutsch am 9. Januar 2013 bekannt.
Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger am 28. Januar 2013 Widerspruch,
den er damit begründete, dass ihm unmittelbar nach der mündlichen Prüfung
am 9. Januar 2013 das Bestehen der Prüfung mit „ausreichend“ mitgeteilt
worden sei. Im Übrigen verwies er auf seinen Widerspruch vom 16. Dezember
2012 gegen die Bewertung der Klausur im Fach Deutsch.
….
Der Beklagte wies den Widerspruch des Klägers unter Bezugnahme auf die
Stellungnahmen der Prüfer mit Widerspruchsbescheid vom 22. März 2013 als
unbegründet zurück.
Der Kläger hat am 12. April 2013 Klage erhoben.
Zur Klagebegründung macht der Kläger weiterhin geltend, die Bewertung
seiner schriftlichen Leistung im Fach Deutsch sei fehlerhaft, weil ….
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 22. Januar 2013 und dessen
Widerspruchsbescheid vom 22. März 2013 aufzuheben und den
Beklagten zu verpflichten, im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das
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Lehramt an Grund-, Haupt- und Realschulen über das Ergebnis der
Prüfung des Klägers im Prüfungsfach Deutsch erneut zu entscheiden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung nimmt der Beklagte auf die im Vorverfahren eingeholten
schriftlichen Stellungnahmen der Prüfer Bezug.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungs- und Prüfungsvorgänge des
Beklagten (Beiakten A bis C) verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist nicht begründet.
Sowohl die Entscheidung des Beklagten vom 22. Januar 2013, wonach der
Kläger die Prüfung im Prüfungsfach Deutsch nicht bestanden hat, als auch
dessen Widerspruchsbescheid vom 22. März 2013 sind rechtmäßig und
können aus diesem Grund gerichtlich nicht aufgehoben werden (§ 113 Abs. 1
Satz 1 VwGO).
Zwar fehlt es für den Erlass der Prüfungsentscheidung an einer gesetzlichen
Rechtsgrundlage. Dies führt aber ausnahmsweise und nur auf den
vorliegenden Prüfungsrechtsstreit des Klägers bezogene nicht zur
Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide.
Die erst nach dem Ablauf des 31. Dezember 2012 getroffene Entscheidung
des Beklagten lässt sich nicht auf die Verordnung über die Ersten
Staatsprüfungen für Lehrämter im Land Niedersachsen - PVO-Lehr I - vom 15.
April 1998 (Nds. GVBl. S. 399; zuletzt geändert durch VO vom 26.01.2006,
Nds. GVBl. S. 33) stützen. Die Verordnungsermächtigung des § 202 des
Niedersächsischen Beamtengesetzes in der Fassung vom 11. Dezember
1985 (Nds. GVBl. S. 493 - NBG a.F. -), die die oberste Landesbehörde zum
Erlass der PVO-Lehr I ermächtigte, ist mit Art. 23 Abs. 2 des Gesetzes zur
Modernisierung des niedersächsischen Beamtenrechts (vom 25.03.2009, Nds.
GVBl. S. 72) mit Ablauf des 31. März 2009 außer Kraft getreten. Die auf diese
Ermächtigung gestützte PVO-Lehr I selbst ist sodann nach Ablauf der in § 122
Satz 1 Niedersächsisches Beamtengesetz - NBG - normierten Übergangsfrist
am 31. Dezember 2012 ersatzlos außer Kraft getreten.
Damit ist in Bezug auf die Erste Staatsprüfung des Klägers ein regelungsloser
Zustand eingetreten, der sich nicht mit dem Grundrecht des Klägers aus Art.
12 Abs. 1 Grundgesetz (GG) vereinbaren lässt. Trifft der Beklagte im Rahmen
der Ersten Staatsprüfung eine Prüfungsentscheidung über das Bestehen oder
Nichtbestehen der Prüfung, so gestaltet er damit zugleich unmittelbar eine
Zugangsvoraussetzung für die Zulassung zum Vorbereitungsdienst einer
Laufbahn der Laufbahngruppe 2 der Fachrichtung Bildung und damit eine
Voraussetzung für den Erwerb der Lehrbefähigung für das Lehramt an Grund-,
Haupt- und Realschulen (§ 14 der Nds. Verordnung über die Laufbahn der
Laufbahngruppe 2 der Fachrichtung Bildung - NLVO-Bildung-). Angesichts
dieser Bedeutung der Entscheidungen im Rahmen der Ersten Staatsprüfung
für die vom Grundrecht der Freiheit der Berufswahl aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1
erfasste Ausübung des Lehrerberufs - auch in anderen Ämtern und Tätigkeiten
als denen einer Lehrkraft im Sinne von § 50 Abs. 1 Niedersächsisches
Schulgesetz (NSchG) - müsste die Ermächtigung für solche
Prüfungsentscheidungen ausdrücklich in einem Gesetz im materiellen Sinne
enthalten sein. Regelungen, die wie die staatliche Prüfungsordnungen den
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Zugang zu einem Beruf von dem Bestehen einer Prüfung und damit von dem
Ausgang des wertenden Urteils von Prüfern abhängig machen, begründen
subjektive Voraussetzungen für die Zulassung zu einem Beruf im Sinne der
vom Bundesverfassungsgericht zur Einschränkung der Berufsfreiheit aus Art.
12 Abs. 1 GG entwickelten Stufentheorie (Urteil vom 11.6.1958 - 1 BvR 596/56
-,BVerfGE 7, 377, 401 ff.). Sie greifen damit unmittelbar in das Grundrecht des
Betroffenen, in seiner Berufswahl frei zu sein, ein. Ein solcher Eingriff ist nach
Art. 12 Abs. 1 GG formell nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes
zulässig, wobei die Einzelheiten staatlicher Prüfungen regelmäßig den als
Rechtsverordnungen erlassenen Prüfungsordnungen überlassen bleiben.
Dass diese von Art. 12 Abs. 1 GG verlangten gesetzlichen Regelungen seit
dem 1. Januar 2013 fehlen, hat aber ausnahmsweise nicht zur Folge, dass
auch die Prüfungsentscheidung des Beklagten vom 22. Januar 2013 wegen
des Fehlens einer Rechtsgrundlage ersatzlos aufzuheben wäre. Ebenso
wenig hat der Kläger mit dem Wegfall des geschriebenen Prüfungsrechts
seinen Anspruch auf Fortsetzung und Abschluss der Ersten Staatsprüfung
verloren. Vielmehr ist das Verwaltungsgericht verpflichtet, die
verfassungsrechtlichen Grundsätze auf den Prüfungsanspruch des Klägers
anzuwenden, die sich aus den Grundrechten aus den Art. 12 Abs. 1 und 3
Abs. 1 GG ableiten und das Recht berufsbezogener Prüfungen entscheidend
prägen. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat hierzu in seinem
Beschluss vom 31.03.2011 - 2 LA 343/10 - (Juris) gerade zur gerichtlichen
Ausfüllung eines Normierungsdefizits bei der Ausbildung und Prüfung für die
Laufbahnen der Lehrämter folgendes ausgeführt:
„Ungeachtet dessen berücksichtigt der Kläger bei seiner Argumentation
nicht hinreichend, dass selbst für den Fall, dass der Gesetzgeber seiner
Obliegenheit nicht nachkommt, die wesentlichen Entscheidungen im
Bereich der Grundrechtsausübung und hier speziell im Bereich des
Sanktionsprogramms bei Täuschungsversuchen in einer
berufsqualifizierenden Prüfung selbst zu treffen, sodass eine
verordnungsrechtliche Bestimmung im Bereich des Prüfungsrechts
wegen Fehlens der erforderlichen parlamentarischen Ermächtigung in
einem formellen Gesetz mit Art. 12 Abs. 1 GG unvereinbar ist, es den
Gerichten obliegt, bis zum Vorliegen der erforderlichen
parlamentarischen Leitentscheidung zur Gewährleistung effektiven
Rechtsschutzes vom vorhandenen Normenmaterial ausgehend
Maßstäbe zu entwickeln, die einerseits dem mutmaßlichen Willen des
Gesetzgebers Rechnung tragen, andererseits an der
Grundentscheidung zugunsten der Berufsfreiheit orientiert eine
verfassungskonforme Anwendung der Sanktionen bei
Täuschungsversuchen im Rahmen einer Prüfung sicherstellen (vgl.
hierzu ausführlich Hessischer VGH, Urt. v. 27.9.1995 - 1 UE 3026/94 -,
juris Langtext Rdnr. 25 m. w. N.; VG Meiningen, Urt. v. 3.5.2010 - 1 K
611/07 Me -, ThürVBl. 2011, 16 = juris Langtext Rdnr. 22). Ausgehend
von diesen Grundsätzen spricht Einiges dafür, unabhängig von der
Gültigkeit einer untergesetzlichen Norm einen schweren Fall eines
Täuschungsversuchs mit dem Nichtbestehen der Teilprüfung und
infolgedessen mit dem Nichtbestehen der gesamten
Wiederholungsprüfung zu sanktionieren (in diesem Sinn etwa Hessischer
VGH, Urt. v. 27.9.1995 - 1 UE 3026/94 -, juris Langtext Rdnr. 26 ff.),
zumal der niedersächsische Verordnungsgeber den Fall eines
Täuschungsversuchs sowohl in § 17 Abs. 1 PVO-Lehr II als auch in § 17
Abs. 1 APVO-Lehr in inhaltlich gleicher Weise sanktioniert.“
In Anwendung dieser Grundsätze, denen das Verwaltungsgericht folgt, besteht
angesichts der bereits eingeleiteten Staatsprüfung des Klägers nur die von
dem Grundrecht der Freiheit der Berufswahl aus Art. 12 Abs. 1 GG geforderte
Möglichkeit, die Erste Staatsprüfung in entsprechender Anwendung der bis
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zum 31. Dezember 2012 geltenden Vorschriften der PVO-Lehr I zu Ende zu
führen, denn nur diese Prüfung kann dem Kläger die Zulassung zum
Vorbereitungsdienst und damit den Erwerb der Laufbahnbefähigung nach §
122 Satz 2 NBG sowie die berufliche Qualifikation als Lehrer für Grund-, Haupt-
und Realschulen eröffnen. Die (ehemaligen) Regelungen der PVO-Lehr I über
das Prüfungsverfahren und die Bestehensgrenzen in den Unterrichtsfächern
stehen weiterhin mit Art. 12 Abs. 1 GG und den Grundsätzen des Rechts der
berufsbezogenen Prüfungen im Einklang. Sie tragen einerseits dem auf Art. 3
Abs. 1 GG beruhende Grundsatz der Chancengleichheit Rechnung (BVerfGE
52, 380 [388]; BVerfG, NJW 1993 S. 917) und ermöglichen es andererseits
den Prüflingen, das Ergebnis einer Prüfung rechtlich effektiv überprüfen zu
lassen und hierzu wirksam Einwände gegen die Prüfungsentscheidung zu
erheben (BVerfGE 84, 34 [47 ff.]).
In entsprechender Anwendung der Regelungen der PVO-Lehr I ist der
Prüfungsbescheid des Beklagten vom 22. Januar 2013 rechtlich nicht zu
beanstanden.