Urteil des VG Hannover vom 26.06.2014

VG Hannover: wirtschaftliche leistungsfähigkeit, sri lanka, familie, libanon, begriff, sozialhilfe, besitz, anwendungsbereich, nettoeinkommen, freibetrag

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Einbürgerung; Ermittlung wirtschaftlicher
Leistungsfähigkeit; keine Absetzung des (fiktiven)
Freibetrags für Erwerbstätige
Bei der Ermittlung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des
Einbürgerungsbewerbers nach § 9 Abs. 1 StAG i.V.m. § 8 Abs. 1 Nr. 4 StAG
sind die (fiktiven) Absetzbeträge für Erwerbstätigkeit nach § 11 b Abs. 1 Nr. 6
i.V.m. Abs. 3 SGB II nicht einkommensmindernd zu berücksichtigen.
VG Hannover 10. Kammer, Urteil vom 26.06.2014, 10 A 5640/12
§ 11b Abs 3 SGB 2, § 11b Abs 1 Nr 6 SGB 2, § 9 Abs 1 RuStAG, § 8 Abs 1 Nr 4
RuStAG
Tenor
Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger einzubürgern, soweit die
Voraussetzungen nach § 9 Abs. 1 i.V.m. § 8 Abs. 1 Nr. 2 StAG erfüllt sind und
kein Ausschlussgrund nach § 11 StAG gegeben ist.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig
vollstreckbar.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt seine Einbürgerung in den deutschen Staatsverband.
Der im Jahr 1969 in Tyr/Libanon geborene Kläger hat die palästinensische
Volkszugehörigkeit und ist im Jahr 1993 nach Deutschland eingereist. Sein
Asylantrag wurde bestandskräftig abgelehnt. Er ist im Besitz eines
Reiseausweises für Ausländer. Nachdem ihm erstmalig am 09.07.2007 eine
befristete Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 AufenthG erteilt worden war,
ist er seit dem 12.11.2010 im Besitz einer Niederlassungserlaubnis. Seit dem
20.04.2007 ist er mit der deutschen Staatsangehörigen A. verheiratet. Er ist
Vater einer im Februar 2011 geborenen deutschen Tochter.
Am 26.01.2011 beantragte er bei der Beklagten seine Einbürgerung. Neben
weiteren Unterlagen legte er unter anderen eine Bestätigung der
Generaldelegation Palästinas in der Bundesrepublik vom 21.06.2006 vor,
derzufolge er Palästinenser ist, die Abschrift seiner Geburtsurkunde sowie
einen - als Dokument zur Eheschließung gültigen - Zivilregisterauszug vom
04.10.2005, demzufolge er zu den palästinensischen Flüchtlingen im Libanon
gehört.
Mit Schreiben vom 29.11.2011 hörte die Beklagte den Kläger zur
beabsichtigten Ablehnung seines Antrags auf Einbürgerung an. Eine
Bedarfsberechnung unter Berücksichtigung des von der Ehefrau des Klägers
bezogenen Elterngeldes habe ergeben, dass die Familie einen ergänzenden
Arbeitslosengeldanspruch in Höhe von 303,09 Euro habe. Insofern könne er
den Lebensunterhalt für sich und seine Familie nicht auf Dauer ohne Anspruch
auf Sozial- oder Arbeitslosenhilfe bestreiten. Daraufhin legte der Kläger einen
unbefristeten Arbeitsvertrag als Montagehelfer ab dem 01.12.2011 mit einer
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Gesamtvergütung von monatlich 400,00 Euro vor. Darüber hinaus legte er
Gehaltsbescheinigungen seiner Ehefrau vor, denen zufolge sie einen
monatlichen Nettoverdienst von rund 1.160,00 Euro erzielt. Mit einem
Gesamteinkommen von 1.743,86 Euro (einschl. Kindergeld) werde der
Gesamtbedarf von 1.432,00 Euro deutlich überschritten.
Mit Bescheid vom 31.08.2012, zugestellt am 04.09.2012, lehnte die Beklagte
den Antrag des Klägers auf Einbürgerung ab. Da der Kläger erst seit dem
09.07.2007 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis sei und sich damit nicht schon
seit acht Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte, komme eine
Einbürgerung nach § 10 StAG nicht in Betracht. Eine Einbürgerung nach §
9 i.V.m. § 8 StAG scheide aus, weil der Kläger nicht in der Lage sei, den
eigenen Lebensunterhalt und den Lebensunterhalt seiner Familie ohne
Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen zu sichern. Auch wenn der Kläger
bislang keine Leistungen nach dem SGB II in Anspruch genommen habe,
bestehe für ihn und seine Familie - unter Berücksichtigung der Absetzbeträge
für Erwerbstätigkeit - ein ergänzender Leistungsanspruch in Höhe von derzeit
75,21 Euro. Es lägen auch keine Gründe im Sinne von § 8 Abs. 2 StAG vor,
von der Voraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts abzusehen.
Am 04.10.2012 hat der Kläger Klage erhoben. Ein theoretischer Anspruch auf
Leistungen nach dem SGB II bestehe allein in Hinblick darauf, dass bei der
Einkommensermittlung für ihn und seine erwerbstätige Ehefrau jeweils die
Freibeträge für Erwerbstätigkeit in Höhe von 170,00 Euro und 322,00 Euro
einkommensmindernd berücksichtigt würden. Es sei jedoch
unverhältnismäßig, seine Einbürgerung aus diesem Grunde abzulehnen;
tatsächlich nähmen er und seine Familie keine ergänzenden Leistungen nach
dem SGB II in Anspruch.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 31.08.2012 aufzuheben und die
Beklagte zu verpflichten, ihn in den deutschen Staatsverband
einzubürgern.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Einbürgerung des Klägers scheitere daran, dass dieser den
Lebensunterhalt von sich und seiner Familie nicht sicherstellen könne. Auch
wenn er keine ergänzenden Leistungen nach dem SGB II beziehe, habe er -
unter Berücksichtigung der Freibeträge für Erwerbstätigkeit - einen
rechnerischen Leistungsanspruch nach den Vorschriften des SGB II.
Umstände, die es rechtfertigen könnten, von den Voraussetzungen des § 8
Abs. 1 Nr. 4 StAG aus Gründen des öffentlichen Interesses oder zur
Vermeidung einer besonderen Härte nach § 8 Abs. 2 StAG abzusehen, seien
nicht ersichtlich.
Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und
der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen; sämtliche Akten
waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen
Anspruch auf Einbürgerung; der diesem Anspruch entgegenstehende
Bescheid der Beklagten vom 19.05.2011 ist rechtswidrig und verletzt den
Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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I. Allerdings kommt ein Anspruch des Klägers auf Einbürgerung nach § 10
StAG nicht in Betracht. Nach dieser Vorschrift ist ein Ausländer, der seit acht
Jahren rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, bei
Vorliegen weiterer Voraussetzungen auf Antrag einzubürgern. Da dem Kläger
erstmalig am 09.07.2007 ein (befristeter) Aufenthaltstitel erteilt worden ist, erfüllt
er derzeit noch nicht die Mindestaufenthaltsdauer von acht Jahren.
II. Der Kläger hat jedoch einen Anspruch auf Einbürgerung nach § 9 Abs. 1
StAG. Danach sollen Ehegatten Deutscher unter den Voraussetzungen des §
8 StAG eingebürgert werden, wenn sie ihre bisherige Staatsangehörigkeit
verlieren oder aufgeben oder ein Grund für die Hinnahme von Mehrstaatigkeit
nach Maßgabe von § 12 vorliegt (Nr. 1), und wenn gewährleistet ist, dass sie
sich in die deutschen Lebensverhältnisse einordnen (Nr. 2). Nach § 8 Abs. 1
StAG kann ein Ausländer, der rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im
Inland hat, auf seinen Antrag eingebürgert werden, wenn er handlungsfähig
nach Maßgabe von § 80 Abs. 1 AufenthG ist (Nr. 1), nicht wegen einer
rechtswidrigen Tat zu einer Strafe verurteilt ist (Nr. 2), eine eigene Wohnung
gefunden hat (Nr. 3) und sich und seine Angehörigen zu ernähren imstande ist
(Nr. 4).
Die zwischen den Beteiligten allein streitige Frage, ob der Kläger sich und
seine Angehörigen im Sinne von § 8 Abs. 1 Nr. 4 StAG zu ernähren imstande
ist, ist nach Auffassung der Kammer im Ergebnis zu bejahen.
Ausgangspunkt für die Berechnung des zur Sicherung des Lebensunterhalts
eines Einbürgerungsbewerbers notwendigen Bedarfs sind die Bestimmungen
des Sozialgesetzbuches (SGB) Zweites Buch (II), die grundsätzlich auch im
Rahmen der Ermessenseinbürgerung nach § 8 Abs. 1 StAG den Maßstab
dafür bieten, ob der Ausländer sich und seine Angehörigen zu ernähren
imstande ist (BVerwG, Beschl. v. 06.02.2013 - 5 PKH 13/12 - juris). Für den
Kläger, seine Ehefrau und das gemeinsame Kind ergibt sich aus § 20 Abs. 5
SGB II i.V.m. der Bekanntmachung über die Höhe der Regelbedarfe nach § 20
Absatz 5 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch für die Zeit ab 1. Januar 2014
(BGBl I 2013, Nr. 63, S. 3857-3857) eine monatliche Regelleistung für die
Bedarfsgemeinschaft in Höhe von 935,00 Euro (353,00 Euro + 353,00 Euro +
229,00 Euro). Hinzu kommen nach § 22 Abs. 1 SGB II die monatlichen
Aufwendungen für Miete und Unterkunft in Höhe von 507,00 Euro, so dass
sich daraus ein monatlicher Gesamtbedarf von insgesamt 1.442,00 Euro
errechnet.
Diesen Bedarf können der Kläger und seine Ehefrau mit dem von ihnen
erzielten Erwerbseinkommen zuzüglich des Kindergeldes decken, ohne auf
die Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen angewiesen zu sein.
Der Kläger erzielt ein monatliches Nettoeinkommen in Höhe von 450,00 Euro.
Seine Ehefrau verfügt - ausweislich der dem Gericht vorgelegten
Gehaltsbescheinigungen für die Monate Dezember 2013, Januar, März und
April 2014 - über ein durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen von rund
1.133,00 Euro. Zuzüglich der monatlichen Kindergeldzahlungen von 184,00
Euro ergibt sich daraus ein durchschnittliches Nettoeinkommen von rund
1.767,00 Euro, und damit ein den Gesamtbedarf übersteigendes Einkommen
in Höhe von 325,00 Euro. Selbst wenn man von diesem Betrag die in § 11b
Abs. 2 Satz 1 SGB II pauschaliert erfassten Werbungskosten für
erwerbsfähige und erwerbstätige Leistungsberechtigte in Höhe von jeweils
100,00 Euro für den Kläger und seine Ehefrau absetzt, verbleibt dem Kläger
und seinen Angehörigen ein anrechenbares Familieneinkommen in Höhe von
1.567,00 Euro, das den familiären Lebensbedarf abdeckt.
Entgegen der Auffassung der Beklagten scheidet eine weitere
Einkommensreduzierung um die nach § 11 b Abs. 1 Nr. 6 i.V.m. Abs. 3 SGB II
vom Einkommen abzusetzenden Freibeträge für Erwerbstätigkeit (in Höhe von
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170,00 Euro für den Kläger und in Höhe von 322,00 Euro für seine Ehefrau) im
Zusammenhang mit der Ermittlung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des
Klägers im Sinne von § 8 Abs. 1 Nr. 4 StAG aus.
Zwar gehört die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des
Einbürgerungsbewerbers im Sinne von § 8 Abs. 1 Nr. 4 StAG nach ständiger
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu den gesetzlichen
Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit das den
Einbürgerungsbehörden nach § 8 Abs. 1 StAG eingeräumte Ermessen eröffnet
ist (vgl. nur BVerwG, Beschl. v. 06.02.2013, a.a.O.). Dabei ist es - anders als
bei der Anspruchseinbürgerung nach § 10 StAG - im Rahmen von § 8 Abs. 1
Nr. 4 StAG ohne Belang, ob zwischen einem vom Ausländer zu
verantwortenden Verhalten und dessen Unfähigkeit, sich und seine
Angehörigen zu ernähren, ein objektiver Zurechnungszusammenhang besteht
(BVerwG, Beschl. v. 06.02.2013, a.a.O.).
Allerdings ist aus Sicht der Kammer eine schematische Übertragung aller
Regelungen des SGB II auf die Prüfung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
eines Ausländers im Staatsangehörigkeitsrecht nicht geboten. Die Vorschriften
zu den Absetzbeträgen für Erwerbstätigkeit nach § 11 b Abs. 1 Nr. 6 i.V.m.
Abs. 3 SGB II finden im Hinblick auf die Frage, ob ein Einbürgerungsbewerber
dazu imstande ist, sich und seine Angehörigen zu ernähren, keine
Anwendung, da die fiktive Minderung der tatsächlich verfügbaren Eigenmittel
um die nach § 11 b Abs. 3 SGB II zugebilligten Freibeträge im
Staatsangehörigkeitsrecht nicht gerechtfertigt ist.
Maßgeblich für diese Auslegung ist die Zielrichtung, die der Gesetzgeber mit
der Berücksichtigung der Freibeträge nach § 11 b Abs.1 Nr. 6 i.V.m. Abs. 3
SGB II verfolgt. Die Neuregelung der Erwerbstätigenfreibeträge im Kontext des
SGB II sollte die Anreize zur Aufnahme einer voll
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung für Bedarfsgemeinschaften mit
Arbeitslosengeld II-Bezug erhöhen (BT-Drs. 17/3404, S. 95), wobei die
Freibeträge höher liegen als es der regelmäßigen Praxis bei der Anrechnung
noch unter Geltung des früheren Bundessozialhilfegesetzes entsprach
(Löns/Herold-Tews, SGB II-Kommentar, 2005, § 11, Rn. 13). An anderer Stelle
heißt es dazu in der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/3404, S. 44) wie folgt:
„Arbeit und Leistung müssen sich lohnen. Wenn man arbeitet, muss man
mehr haben als wenn man nicht arbeitet.“
Diese Privilegierung des Arbeitseinkommens nach dem SGB II würde statt der
intendierten Besserstellung für den Einbürgerungsbewerber faktisch
nachteilige Wirkungen entfalten, obwohl es sich lediglich um fiktive
Absetzbeträge handelt, die das Einkommen des Einbürgerungsbewerbers
tatsächlich nicht vermindern (so auch zur Berücksichtigung der Absetzbeträge
nach § 11 b Abs. 3 SGB II bei der Entscheidung über einen Aufenthaltstitel:
Hess VGH, Beschl. v. 14.03.2006 - 9 TG 512/06 -, juris; VG Berlin, Urt. v.
23.09.2005 - 25 A 329.02 - juris).
Soweit eine Anrechnung der nach § 11 b Abs. 1 Nr. 6 i.V.m. Abs. 3 SGB II
ermittelten Freibeträge pauschal unter Hinweis auf die Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts zur Berechnung des zur Sicherung des
Lebensunterhalts im Sinne von § 2 Abs. 3 AufenthG (Urt. v. 26.08.2008 - 1 C
32/07 - juris) vorgenommen wird (so z.B. Marx in: GK-StAR, Stand: Dez. 2013,
§ 8, Rn. 141), rechtfertigt dies keine andere Bewertung.
Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht in der vorzitierten Entscheidung vom
26.08.2008 im Kontext eines aufenthaltsrechtlichen Verfahrens zunächst die
Auffassung vertreten, dass bei der Bestimmung des zur Verfügung stehenden
Einkommens zur Sicherung des Lebensunterhalts im Aufenthaltsrecht
sämtliche in § 11 Abs. 2 SGB II a.F. (jetzt § 11 b SGB II) genannten Beträge
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abzusetzen sind, weil der Lebensunterhalt dann nicht gesichert ist, wenn ein
Anspruch auf aufstockende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts
nach dem SGB II besteht:
„Dies lässt sich zwar nicht schon aus dem Wortlaut der Vorschrift
herleiten. Denn die Formulierung, der Ausländer müsse seinen
Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten
"können", lässt auch eine Interpretation im Sinne der Auffassung der
Revision zu. Es ergibt sich aber aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift
in Verbindung mit den Gesetzesmaterialien und der systematischen
Stellung im Rahmen des Aufenthaltsgesetzes. Der Sinn und Zweck der
Regelung besteht, wie das Berufungsgericht zutreffend ausführt, darin,
neue Belastungen für die öffentlichen Haushalte zu vermeiden. Die
Lebensunterhaltssicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1, § 2 Abs. 3 AufenthG
wird in der Begründung des Gesetzentwurfs als eine der
Erteilungsvoraussetzungen von grundlegendem staatlichen Interesse
und als wichtigste Voraussetzung, um die Inanspruchnahme öffentlicher
Mittel zu verhindern, bezeichnet (BTDrucks 15/420 S. 70). Dies spricht
dafür, dass im Falle eines voraussichtlichen Anspruchs auf öffentliche
Mittel - sofern sie nicht ausdrücklich nach § 2 Abs. 3 Satz 2 AufenthG
außer Betracht zu bleiben haben - der Lebensunterhalt nicht als
gesichert angesehen werden kann, da dann auch eine
Inanspruchnahme dieser Mittel zu erwarten oder jedenfalls nicht
auszuschließen ist. Ob die Leistungen tatsächlich in Anspruch
genommen werden, ist nach dem gesetzgeberischen Regelungsmodell
unerheblich. Dies wird u.a. auch durch die Begründung des
Gesetzentwurfs zu § 27 Abs. 3 AufenthG bestätigt, in der zu dem
vergleichbaren Erfordernis des Angewiesenseins auf Leistungen nach
dem Zweiten und Zwölften Buch des Sozialgesetzbuchs ausgeführt wird,
es komme wie im bisherigen Recht "nur auf das Bestehen eines
Anspruchs auf Sozialhilfe, d.h. das Vorliegen der Voraussetzungen, nicht
auf die tatsächliche Inanspruchnahme an" (BTDrucks 15/420 S. 81).“
Allerdings hat das Bundesverwaltungsgericht diese Rechtsprechung in seinem
Urteil vom 16.11.2010 (1 C 20/09, juris) im Zusammenhang mit dem
Ehegattennachzug unter Hinweis auf höherrangiges Recht (Richtlinie
2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 - AB L 2003/251 vom 3.
Oktober 2003, sog. Familienzusammenführungsrichtlinie) korrigiert:
„Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in seinem Urteil vom 4.
März 2010 in der Rechtssache Chakroun (C-578/08) für den
Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie
entschieden, dass der Begriff der "Sozialhilfeleistungen des ...
Mitgliedstaats" ein autonomer Begriff des Unionsrechts ist, der nicht
anhand von Begriffen des nationalen Rechts ausgelegt werden kann
(Rn. 45). Nach dem Unionsrecht bezieht sich der Begriff "Sozialhilfe" in
Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie auf Unterstützungsleistungen, die
einen Mangel an ausreichenden festen und regelmäßigen Einkünften
ausgleichen (Rn. 49). Unter diesen unionsrechtlichen Begriff der
Sozialhilfe fällt aber nicht der Freibetrag für Erwerbstätigkeit nach § 11
Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 i.V.m. § 30 SGB II, der in erster Linie aus
arbeitsmarkt- bzw. beschäftigungspolitischen Gründen gewährt wird und
eine Anreizfunktion zur Aufnahme bzw. Beibehaltung einer
Erwerbstätigkeit haben soll (vgl. Urteil vom 26. August 2008 a.a.O. Rn.
22), nicht aber einen Mangel an ausreichenden festen und regelmäßigen
Einkünften im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs ausgleicht.
Dieser Freibetrag darf daher bei der Bemessung des Unterhaltsbedarfs
im Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie nicht zu
Lasten des nachzugswilligen Ausländers angerechnet werden.
Die in § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II pauschaliert erfassten Werbungskosten
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stellen hingegen im Grundsatz Aufwendungen dar, die die tatsächlich
verfügbaren Einkünfte eines Erwerbstätigen reduzieren, sodass ihrer
Berücksichtigung bei der Bemessung des Unterhaltsbedarfs die
Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht
entgegensteht. Allerdings ist dem Gebot der individualisierten Prüfung
jedes einzelnen Antrags auf Familienzusammenführung gemäß Art. 17
der Richtlinie dadurch Rechnung zu tragen, dass der Ausländer einen
geringeren Bedarf als die gesetzlich veranschlagten 100 € nachweisen
kann.“
Gleichzeitig hat das Bundesverwaltungsgericht in einer weiteren Entscheidung
vom selben Tag (1 C 21/09, juris) klargestellt, dass außerhalb des
Anwendungsbereiches der Familienzusammenführungsrichtlinie oder
sonstiger unionsrechtlicher Vorgaben aufenthaltsrechtlich bei der Berechnung
des Hilfebedarfs auch weiterhin die Bestimmungen des SGB II hinsichtlich des
Freibetrags für Erwerbstätigkeit nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 i.V.m. § 30 SGB
II (a.F.) und der Werbungskostenpauschale nach § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II
(a.F.) maßgeblich sind. In diesem vom Bundesverwaltungsgericht
entschiedenen Verfahren ging es um die Erteilung einer
Niederlassungserlaubnis aus humanitären Gründen an einen
Staatsangehörigen aus Sri Lanka, bei der keine unionsrechtlichen Vorgaben
zu beachten waren, so dass nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts
- wie in der Entscheidung vom 26.08.2008 bereits ausgeführt - die Vermeidung
(neuer) Belastungen für die öffentlichen Haushalte bei dauerhaftem Verbleib
des Ausländers im Bundesgebiet ein grundlegendes staatliches Interesse
darstellte und keine weitergehende Korrektur wie bei Fällen im
Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie erforderte.
Gleichwohl folgt für die Kammer aus dieser Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts zur Einkommensermittlung im Aufenthaltsrecht
nicht, dass diese Grundsätze auch im Staatsangehörigkeitsrecht Geltung
beanspruchen. Vielmehr ist es aus Sicht des Gerichts geboten, entsprechend
der Unterschiede zwischen dem Aufenthaltsrecht und dem
Staatsangehörigkeitsrecht zu differenzieren.
So ist bereits der Hessische Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluss vom
08.05.2006 (12 TP 357/06; Makarov/v.Mangoldt, Dt.
Staatsangehörigkeitsrecht, 19. Lfg., XXXVIII) davon ausgegangen, dass bei
der Einbürgerung der eigenen Lebensunterhaltssicherung ein weniger
entscheidendes Gewicht zukommt als bei der Erlangung des Aufenthaltstitels.
Wie auch das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 19.02.2009 (5 C
22/08, juris) zum Bezug von Sozialhilfe im Alter eines Einbürgerungsbewerbers
ausgeführt hat, entspricht es zunächst der Zielsetzung des
Staatsangehörigkeitsgesetzes, einer Zuwanderung in die Sozialsysteme
entgegenzuwirken, so dass dementsprechend für den Anspruch auf
Einbürgerung auch eine gewisse wirtschaftliche Integration zu verlangen und
davon grundsätzlich nur dann abzusehen ist, wenn der Bezug der
bezeichneten steuerfinanzierten Sozialleistungen nicht zu vertreten ist. Weiter
führt das Bundesverwaltungsgericht in dieser Entscheidung vom 19.02.2009
jedoch Folgendes aus:
„Diese Zielsetzung wird regelmäßig indes bereits dadurch gefördert, dass
bei zurechenbar unzureichender wirtschaftlicher Integration die
erforderliche Voraufenthaltszeit eines achtjährigen rechtmäßigen
Aufenthalts oder der für den Einbürgerungsanspruch erforderliche
Aufenthaltsstatuts (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StAG) nicht erreicht werden
kann, weil regelmäßig bereits das Aufenthaltsrecht (§ 5 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG) einen gesicherten Lebensunterhalt verlangt. Kann oder soll
indes aufenthaltsrechtlich diesem Umstand nicht (mehr) Rechnung
getragen werden, verliert auch für das Staatsangehörigkeitsrecht der
Gesichtspunkt an Gewicht, dass einer "Zuwanderung in die
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Sozialsysteme" vorgebeugt werden soll. Bei einem für den
Einbürgerungsanspruch hinreichenden, verfestigten Aufenthaltsstatus ist
der Bezug der Sozial(hilfe)leistung unabhängig von der
Staatsangehörigkeit. Der Gesetzgeber hat zudem den (auch)
fiskalischen Interessen, die mit dem Erfordernis der eigenständigen
Sicherung des Lebensunterhalts verfolgt werden, in § 10 Abs. 1 Satz 1
Nr. 3 StAG insoweit geringeres Gewicht beigemessen als im
Aufenthaltsrecht (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 3 AufenthG; dazu jüngst
Urteil vom 26. August 2008 - BVerwG 1 C 32.07 - InfAuslR 2009, 8), als
er nicht jeglichem Bezug von Sozial(hilfe)leistungen die Wirkung
beigemessen hat, den Einbürgerungsanspruch auszuschließen, und
selbst bei den Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB II und
SGB XII den nicht zu vertretenden Bezug ausgenommen hat.“
Berücksichtigt man diese vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten
Grundsätze, verbietet sich eine rein schematische Anwendung der
Absetzbeträge für Erwerbstätigkeit auf die Situation eines
Einbürgerungsbewerbers. Während dem Ausländer bei der Erteilung einer
Niederlassungserlaubnis erst ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht verliehen wird
und sich damit - wie vom Bundesverwaltungsgericht im Verfahren 1 C 21/09
ausgeführt - auch die Frage der Vermeidung dauerhafter neuer Belastungen
für die öffentlichen Haushalte stellt, verfügt ein Einbürgerungsbewerber bereits
über einen langjährigen rechtmäßigen Aufenthalt mit unbefristetem
Aufenthaltstitel, so dass bereits unabhängig von der Entscheidung über seinen
Einbürgerungsantrag von seinem dauerhaften Verbleib im Bundesgebiet
auszugehen ist. Damit entfällt jedoch auch das Argument der Vermeidung
neuer Belastungen für die öffentlichen Haushalte.
Darüber hinaus ist nicht ersichtlich, warum erwerbstätige
Einbürgerungsbewerber schlechter gestellt werden sollten als nicht
erwerbstätige Einbürgerungsbewerber, die über ein ausreichendes
Einkommen in Höhe des Regelsatzes und der Kosten der Unterkunft aus
Zinseinkünften oder sonstigem Vermögenseinkünften verfügen und die -
anders als erwerbstätige Einbürgerungsbewerber - bereits bei einem dem
Gesamtbedarf deckenden Einkommen einzubürgern wären.
Stellen die Freibeträge für Erwerbstätigkeit nach § 11 b Abs. 3 SGB II nur
fiktive Absetzbeträge dar, die das - über dem Gesamtbedarf (Regelsatz zzgl.
Kosten der Unterkunft) liegende - Gesamteinkommen der Familie des Klägers
tatsächlich nicht vermindern, ist damit auch die Annahme gerechtfertigt, dass
der Kläger und seine Familie - wie bereits in der Vergangenheit - dazu in der
Lage sind, selbständig ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und damit die
Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 Nr. 4 StAG erfüllen.
Auch die weiteren Voraussetzungen nach § 8 StAG sind erfüllt.
Der Kläger ist ganz offensichtlich handlungsfähig im Sinne von § 8 Abs. 1 Nr. 1
StAG, er verfügt über eine eigene Wohnung (§ 8 Abs. 1 Nr. 3 StAG) und es ist
auch nicht ersichtlich, dass er zu einer rechtswidrigen Tat verurteilt worden ist
(§ 8 Abs. 1 Nr. 2) StAG. Soweit es an einer entsprechenden aktuellen Abfrage
nach möglichen strafrechtlichen Verurteilungen fehlt, ist dem durch die im
Tenor formulierte Maßgabeklausel Rechnung zu tragen, dass eine
Verpflichtung zur Einbürgerung des Klägers nur mit der Maßgabe erfolgt, dass
§ 8 Abs. 1 Nr. 2 StAG erfüllt ist (und auch kein Ausschlussgrund nach § 11
StAG gegeben ist).
Darüber hinaus erfüllt der Kläger auch die Voraussetzungen nach § 9 Abs. 1
StAG. Nach § 9 Abs. 1 StAG sollen Ehegatten Deutscher unter den
Voraussetzungen des § 8 StAG eingebürgert werden, wenn sie ihre bisherige
Staatsangehörigkeit verlieren oder aufgeben oder ein Grund für die Hinnahme
von Mehrstaatigkeit nach Maßgabe von § 12 StAG vorliegt und gewährleistet
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ist, dass sie sich in die deutschen Lebensverhältnisse einordnen (d.h. nach
den Vorläufigen Anwendungshinweisen des Bundesministerium des Inneren
zum Staatsangehörigkeitsgesetz, Stand: 17. April 2009, Ziffer 9.1.2.1 eine
Aufenthaltsdauer von mindestens 3 Jahren im Inland aufweisen), es sei denn,
dass sie nicht über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen
(§ 10 Abs. 1 Nr. 6 und Abs. 4 StAG) und keinen Ausnahmegrund nach § 10
Abs. 6 StAG erfüllen. Der Kläger ist seit dem Jahr 2007 Ehegatte einer
Deutschen und verfügt seitdem auch über einen Aufenthaltstitel, so dass die
Dauer des rechtmäßigen Inlandsaufenthalts mit fast sieben Jahren auch
ausreichend ist, um eine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse
anzunehmen. Darüber hinaus hat der Kläger durch die Vorlage des Zertifikates
B1 ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache nachgewiesen.
Soweit nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 StAG Voraussetzung für die Einbürgerung die
Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit ist, ist der Kläger als im Libanon
geborener palästinensischer Volkszugehöriger nicht nur de facto, sondern
auch de jure als staatenlos im Sinne des Art. 2 Satz 1 StaatenlMindÜbkAG
anzusehen (so auch VG Freiburg, Urt. v. 26.02.2003 - 2 K 975/01 - juris; VG
Berlin, Urt. v. 13.06.2012 - 35 K 438.10 - juris, jeweils m.w.N.). Selbst wenn
man davon ausgehen würde, dass der Kläger die libanesische
Staatsangehörigkeit besitzt, würde diese einer Einbürgerung nicht
entgegenstehen, da es sich bei dem Libanon um einen Staat handelt, der
faktisch keine Entlassung aus der Staatsangehörigkeit vornimmt, so dass
Mehrstaatigkeit nach § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 StAG hinzunehmen wäre
(Vorläufige Anwendungshinweise des Bundesministerium des Inneren zum
Staatsangehörigkeitsgesetz, Stand: 17. April 2009, Ziffer 12.1.2.2).
Anhaltspunkte für eine anderweitige Staatsangehörigkeit bestehen nicht. Damit
steht auch § 9 Abs. 1 Nr. 1 StAG einer Einbürgerung des Klägers nicht
entgegen.
Sind die gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen des § 9 StAG erfüllt, soll
der Einbürgerungsbewerber eingebürgert werden, d.h., dass die Einbürgerung
regelmäßig vorgenommen werden muss und nur in atypischen Fällen,
insbesondere bei Missbrauchsfällen, verweigert werden darf (Marx, in: GK-
StAR, Stand: Dezember 2013, § 9, Rn. 158, m.w.N). Da kein atypischer
Sachverhalt in diesem Sinne ersichtlich ist, hat der Kläger einen
Einbürgerungsanspruch nach § 9 Abs. 1 StAG.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung
über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit
§ 708 Nr. 11 ZPO.
IV. Die Berufung war nach § 124 a Abs. 1 Satz 1 VwGO zuzulassen, weil dem
Verfahren eine grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3
VwGO zukommt. Höchstrichterliche Rechtsprechung zur Frage der
Anrechnung der Freibeträge für Erwerbstätigkeit nach § 11 b Abs. 1 Nr. 6
i.V.m. Abs. 3 SGB II gibt es - wie oben dargestellt - bislang nur für das
Aufenthaltsrecht und nicht für das Staatsangehörigkeitsrecht. Soweit das
Niedersächsische Oberverwaltungsgericht zuletzt mit der Frage der Ermittlung
der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit im Staatsangehörigkeitsrecht befasst
war, hat es in seinem Beschluss vom 17.09.2013 (13 LA 213/11, n.v.)
ausdrücklich offen gelassen, ob bei der Frage der Bedürftigkeit im Kontext
einer Einbürgerung die hier streitigen Abzugsbeträge nach § 11 Abs. 2 und 3
SGB II (jetzt: § 11 b Abs. 2 und 3 SGB II) zu berücksichtigen sind, da sich eine
Bedürftigkeit des Einbürgerungsbewerbers bereits durch den Anspruch auf
Kinderzuschlag vermeiden ließ. Ob im Rahmen von § 8 Abs. 1 Nr. 4 StAG
auch die Absetzbeträge nach § 11 b Abs. 1 Nr. 6 i.V.m. Abs. 3 SGB II zu
berücksichtigen sind, ist damit obergerichtlich noch nicht entschieden.