Urteil des VG Hannover vom 10.12.2013

VG Hannover: amnesty international, syrien, aufenthalt im ausland, flüchtlingseigenschaft, überzeugung, gefahr, illegale ausreise, botschaft, politische verfolgung, flughafen

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Anerkennung als Flüchtling - Asyl - Syrien
1. Der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft leitet sich mit
der Fassung des AsylVfG vom 1. Dezember 2013 direkt aus § 3 Abs. 1
AsylVfG und nicht mehr aus § 60 Abs. 1 AufenthG ab.
2. Syrer, die illegal ausreisen, sich im Ausland aufhalten und dort einen
Asylantrag stellen, erfüllen grundsätzlich die Voraussetzungen des § 3 Abs.
1 AsylVfG.
3 .Eine Abweichung von diesem Grundsatz kann sich aus dem Einzelfall
ergeben.
VG Hannover 2. Kammer, Urteil vom 10.12.2013, 2 A 6900/12
§ 3 AsylVfG, § 60 Abs 2 AufenthG, § 60 Abs 1 AufenthG
Tenor
Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheids D.
verpflichtet, in der Person der Klägerin die Voraussetzungen für die
Feststellung der Flüchtlingseigenschaft festzustellen.
Die Beklagte trägt die Verfahrenskosten; insoweit ist das Urteil vorläufig
vollstreckbar.
Tatbestand
Die E. geborene, derzeit schwangere Klägerin ist syrische Staatsangehörige
kurdischer Volks- und yezidischer Glaubenszugehörigkeit. Sie ist seit dem F.
2010 mit dem ehemals syrischen Staatsangehörigen Herrn G. verheiratet.
Dieser lebt in der Bundesrepublik und wurde 2001 eingebürgert. Die Klägerin
reiste am H. in das Bundesgebiet ein. Sie beantragte am I. ihre Anerkennung
als Asylberechtigte.
Bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
(Bundesamt) am J. gab sie an, aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage in
Syrien nach Deutschland gekommen zu sein. Die wirtschaftliche Lage der
Familie sei schlechter geworden. Zudem seien viele Mädchen entführt worden.
Sie habe mit ihrem Ehemann zusammen leben wollen, so dass dies auch ein
wesentlicher Grund ihrer Ausreise aus Syrien gewesen sei.
Die Klägerin verließ Syrien am K. und reiste über die Türkei nach Griechenland
ein, bevor sie von dort aus über den Luftweg in die Bundesrepublik
Deutschland gelangte. Zuvor hatte sie vergeblich versucht, ein Visum für ihre
Einreise zu erhalten.
Mit Bescheid D. - zugestellt am L. - lehnte das Bundesamt den Antrag auf
Anerkennung als Asylberechtigte ab. Zugleich wurde festgestellt, dass die
Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht
gegeben sind und hinsichtlich Syriens ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs.
2 Aufenthaltsgesetz vorliegt. Zur Begründung wird ausgeführt, die Klägerin
habe aufgrund der sogenannten sicheren Drittstaatenregelung keinen
Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16 a Abs. 1 GG, da
sie über Griechenland in die Bundesrepublik eingereist sei. Es bestehe auch
kein Anspruch auf Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1
AufenthG. Die Klägerin habe nicht glaubhaft dargetan, dass sie bei ihrer
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AufenthG. Die Klägerin habe nicht glaubhaft dargetan, dass sie bei ihrer
Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung
wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, ihrer Zugehörigkeit zu einer
bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung drohe.
Sie berufe sich lediglich auf die allgemeine Sicherheitslage. Es habe weder
Probleme mit den syrischen Behörden noch Übergriffe auf ihre Person
gegeben. Allerdings sei angesichts der derzeitigen Rückkehrprognose für
syrische Staatsangehörige vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs.
2 AufenthG auszugehen.
Die Klägerin hat am M. Klage erhoben und trägt zur Begründung vor:
Der Bescheid sei teilweise rechtswidrig. In ihrer Person lägen die
Voraussetzungen für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60
Abs. 1 AufenthG vor. Denn es bestehe bei ihr nach derzeitigem Stand mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, nach einer Rückkehr nach Syrien
von Angehörigen der syrischen Ordnungsmacht gefoltert oder anderer
asylrelevanter Maßnahmen unterzogen zu werden. Nach ständiger
Auskunftslage würden zurückgeführte Personen bei ihrer Einreise nach Syrien
zunächst durch die Geheimdienste über ihren Auslandsaufenthalt und den
Grund ihrer Abschiebung befragt und danach ggf. inhaftiert und gefoltert. Das
Regime in Syrien sehe auch diejenigen als seine Feinde an, die ihre
Ablehnung des Systems durch ihre vorherige Flucht in das Ausland öffentlich
geäußert haben. In der Bundesrepublik sei sie exilpolitisch aktiv gewesen.
Ihrem Ehemann sei vor seiner Einbürgerung im N. wahrscheinlich gemäß § 51
AuslG die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden. Belege dafür könne sie
allerdings nicht beibringen.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides D. zu
verpflichten, festzustellen, dass bei ihr die Voraussetzungen für die
Feststellung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG
hinsichtlich Syriens vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte verteidigt ihre Verfügung.
Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und
der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen. Diese sind
Gegenstand der mündlichen Verhandlung geworden.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet.
Die Klägerin hat zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgeblichen
Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf die Feststellung,
dass in ihrer Person die Voraussetzungen auf Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsyllVfG vorliegen (§ 113 Abs. 5
Satz 1 VwGO).
Allerdings kann sie diesen Status nicht aus § 26 Abs. 1 in Verbindung mit Abs.
5 AsylVfG in der hier anzuwendenden (§ 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG) Fassung
vom 28. August 2013 von ihrem Ehemann ableiten. Nach dieser Norm kann
der Ehegatte einer Person, der die Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1
AufenthG zuerkannt wurde, denselben Status von diesem sog.
Stammberechtigten ableiten, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind.
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Zwar spricht einiges dafür, dass der Ehemann der Klägerin vor seiner
Einbürgerung im Jahr 2001 aus § 51 AuslG die Flüchtlingseigenschaft
zuerkannt bekommen hat. Auch gilt § 26 Abs. 5 AsylVfG für sog. Altfälle, in
denen wie hier das Asylverfahren des Stammberichtigten noch vor der
Schaffung des Flüchtlingsschutzes für Familienangehörige in § 26 AsylVfG im
Jahr 2005 abgeschlossen worden ist (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 13.
Dezember 2007 - 13 LA 71/07 -, juris). Dennoch muss für den Anspruch aus §
26 AsylVfG der Stammberechtigte seinen Status noch innehaben. Durch die
Einbürgerung des Ehemanns der Klägerin ist die Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft aber nach § 72 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG erloschen (vgl.
OVG Lüneburg, Urteil vom 7. September 2010 - 111 LA 392/09 -, juris; GK-
AsylVfG, § 73 Rn. 42 m.w.N.).
Die Klägerin erfüllt aber in ihrer Person die Voraussetzungen für die
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Nach § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein
Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die
Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus
begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität,
politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen
Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen
Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch
nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann sind gemäß § 3c Nr. 1, 2 und
3 AsylVfG der Staat (Nr.1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder
einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder
nichtstaatliche Akteure, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten
Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht
in der Lage oder nicht willens sind, im Schutz vor Verfolgung zu bieten, und
dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht
vorhanden ist oder nicht. Gemäß § 3a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und 2 AsylVfG gelten
Handlungen als Verfolgung, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so
gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden
Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel
15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der
Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine
Abweichung zulässig ist, oder in einer Kumulierung unterschiedlicher
Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen,
die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist.
Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist nach § 3b Abs. 1 S. 1 Nr. 5
AsylVfG zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die
potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine
Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob
er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden
ist. Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor
Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der
Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale
aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem
Verfolger zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylVfG).
Die Klägerin wurde unstreitig nicht vorverfolgt. Unabhängig hiervon ist
aufgrund der aktuellen Situation in Syrien von Verfolgung der Klägerin im
vorgenannten Sinne auszugehen. Dies folgt aus ihrer illegalen Ausreise aus
Syrien, der Asylantragstellung und ihrem Aufenthalt im Ausland. Diese
Handlungen werden vom syrischen Staat derzeit als Ausdruck
regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst und ein Asylantragsteller hat bei einer
Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an
seine tatsächliche oder jedenfalls vermutete politische Überzeugung mit
Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen. Das Gericht folgt insoweit der
Rechtsprechung der 1. Kammer des Verwaltungsgerichts Hannover (Urteil
vom 8. Mai 2013 - 1 A 5409/12 -, juris) und der des OVG Sachsen-Anhalt
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(Urteil vom 18. Juli 2012 - 3 L 147/12 -, juris). Das OVG Sachsen-Anhalt führt
aus:
„…Der Kläger ist wegen seiner illegalen Ausreise aus Syrien, der
Asylantragstellung und seinem Aufenthalt im Ausland von einer Verfolgung
bedroht, wobei hinsichtlich der Personen, die die genannten Merkmale erfüllen,
von einer drohenden „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“
auszugehen ist. Der Senat geht davon aus, dass diese Handlungen
ungeachtet einer oppositionellen Haltung des Einzelnen bei Vorliegen der
zuvor genannten Kriterien vom syrischen Staat generell und unterschiedslos
als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst werden und der Kläger
bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in
Anknüpfung an seine tatsächliche oder jedenfalls vermutete politische
Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen hat.
Die Vielfalt möglicher Verfolgungsgefährdungen verbietet es, die Zugehörigkeit
zu einer gefährdeten Gruppe unberücksichtigt zu lassen, weil die Gefährdung
unterhalb der Schwelle der Gruppenverfolgung liegt. Denn die Gefahr
politischer Verfolgung, die sich für jemanden daraus ergibt, dass Dritte wegen
eines Merkmals verfolgt werden, das auch er aufweist, kann von
verschiedener Art sein: Der Verfolger kann von individuellen Merkmalen
gänzlich absehen, seine Verfolgung vielmehr ausschließlich gegen die durch
das gemeinsame Merkmal gekennzeichnete Gruppe als solche und damit
grundsätzlich gegen alle Gruppenmitglieder betreiben. Dann handelt es sich
um eine in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urt. v.
21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237 m. w. N.) als Gruppenverfolgung
bezeichnetes Verfolgungsgeschehen. Das Merkmal, das seinen Träger als
Angehörigen einer missliebigen Gruppe ausweist, kann für den Verfolger aber
auch nur ein Element in seinem Feindbild darstellen, das die Verfolgung erst
bei Hinzutreten weiterer Umstände auslöst. Das vom Verfolgungsstaat zum
Anlass für eine Verfolgung genommene Merkmal ist dann ein mehr oder
minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit des
Opfers mitprägender Umstand, der für sich allein noch nicht die Annahme
politischer Verfolgung jedes einzelnen Merkmalsträgers rechtfertigt, wohl aber
bestimmter unter ihnen, etwa solcher, die durch weitere Besonderheiten in den
Augen des Verfolgerstaates zusätzlich belastet sind. Löst die Zugehörigkeit
zum Kreis der Vertreter einer bestimmten politischen Richtung, wie hier, nicht
bei jedem Gruppenangehörigen unterschiedslos und ungeachtet sonstiger
individueller Besonderheiten, sondern nur nach Maßgabe weiterer individueller
Eigentümlichkeiten die Verfolgung des Einzelnen aus, so kann hiernach eine
„Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ vorliegen (vgl. BVerwG,
Beschl. v. 22.02.1996 - 9 B 14.96 -, DVBl 1996, 623 m. w. N.).
Die Verfolgungsgefahr ist auch nicht unbeachtlich, weil sie (auch) auf dem
eigenen Nachfluchtverhalten des Klägers beruht. Nach § 28 Abs. 1a AsylVfG
kann eine Bedrohung nach § 60 Abs. 1 AufenthG auf Ereignissen beruhen, die
eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat,
insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und
Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder
Ausrichtung ist. Art. 5 Abs. 2 QRL, der mit § 28 Abs. 1a AsylVfG in deutsches
Recht umgesetzt wird, besagt, dass die begründete Furcht vor Verfolgung oder
die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, auf Aktivitäten
des Antragstellers seit Verlassen des Herkunftslandes beruhen kann,
insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich
Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden
Überzeugung oder Ausrichtung sind. Für subjektive Nachfluchttatbestände, die
bereits während eines Erstverfahrens verwirklicht worden sind, greift damit
keine Einschränkung. Für die Flüchtlingsanerkennung müssen diese - anders
als bei der Asylanerkennung gemäß § 28 Abs. 1 AsylVfG - nicht einmal auf
einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung
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beruhen. Erst in dem (erfolglosen) Abschluss eines Erstverfahrens liegt eine
entscheidende zeitliche Zäsur; für nach diesem Zeitpunkt selbst geschaffene
Nachfluchtgründe wird ein Missbrauch der Inanspruchnahme des
Flüchtlingsschutzes in der Regel vermutet (BVerwG, Urt. v. 18.12.2008 - 10 C
27.07 -, NVwZ 2009, 730).
Die dem Senat vorliegenden und ausgewerteten Erkenntnisse rechtfertigen
den Schluss, dass für den Kläger aufgrund des Nachfluchtgeschehens mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungsgefahr bei einer Rückkehr
nach Syrien besteht. Dieser Schluss rechtfertigt sich aus mehreren Gründen,
nämlich der Behandlung von Personen, die bis zum Erlass des generellen
Abschiebungstopps im April 2011 aus der Bundesrepublik Deutschland und
anderen europäischen Staaten nach Syrien abgeschoben wurden, die
umfassende Beobachtung von syrischen Staatsangehörigen im Ausland durch
die verschiedenen syrischen Geheimdienste, die Eskalation der
innenpolitischen Situation in Syrien seit März 2011 sowie dem Umgang der
syrischen Behörden in Syrien insbesondere seit Beginn des Jahres 2012 mit
Personen, die aus Sicht der syrischen Behörden verdächtig sind, die
Opposition zu unterstützen.
Amnesty international (vgl. zum Nachfolgenden: Bericht „Menschenrechtskrise
in Syrien erfordert Abschiebungsstopp und Aussetzung des Deutsch-
Syrischen Rückübernahmeabkommens“ vom 14. März 2012) und der
kurdische Informationsdienst KURDWATCH haben eine Reihe von Fällen
dokumentiert, in denen seit 2009 abgelehnte syrische Asylbewerber nach ihrer
Abschiebung (aus Deutschland und anderen europäischen Staaten)
festgenommen und ohne Kontakt zur Außenwelt unter erheblicher Foltergefahr
von den Geheimdiensten inhaftiert wurden.
Der syrische Kurde Berzani Karro wurde im Juni 2009 von den zypriotischen
Behörden nach Syrien abgeschoben. Er hatte im Jahr 2006 in Zypern einen
Asylantrag gestellt, der abgelehnt wurde. Berzani Karro wurde bei seiner
Ankunft auf dem Flughafen in Damaskus festgenommen und vier Monate
ohne Kontakt zur Außenwelt von den Geheimdiensten inhaftiert und offenbar
misshandelt und gefoltert. Nach den Erkenntnissen von amnesty international
war Karro bereits Anfang 2005 als Jugendlicher für zweieinhalb Monate u.a. in
der Haftanstalt der „Palästinensischen Abteilung“ beim Militärischen
Geheimdienst in Haft. Im März 2010 wurde Berzani Karro von einem
Militärgericht zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Er wurde der
„versuchten Abspaltung von syrischem Territorium und dessen Angliederung
an einen anderen Staat“ für schuldig befunden.
Ein weiterer Fall ist der am 1. September 2009 von deutschen Behörden nach
Syrien abgeschobene abgelehnte kurdische Asylbewerber Khalid Kandschu.
Zwei Wochen nach seiner Rückkehr wurde er bei der Vorsprache beim
Geheimdienst festgenommen und drei Wochen lang ohne Kontakt zur
Außenwelt inhaftiert, verhört und eigenen Angaben zufolge gefoltert und
misshandelt. Im Rahmen seiner Verhöre wurden ihm auch Angaben aus
seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vorgehalten
(KURDWATCH, Meldung vom 29.08.2010). Gegen Kandschu wurde Anklage
wegen „Verbreitung falscher Informationen im Ausland“ gemäß § 287 des
syrischen Strafgesetzbuches vor dem Militärgericht erhoben. Anfang 2010
wurde Kandschu vorläufig aus der Haft entlassen. Das Verfahren gegen ihn
vor dem Militärgericht wurde fortgesetzt. Er wurde in Abwesenheit zu einer
Haftstrafe von vier Monaten sowie einer geringfügigen Geldbuße verurteilt. Im
Juli 2010 konnte Kandschu wieder in die Bundesrepublik einreisen und wurde
als Asylberechtigter anerkannt.
Amnesty international hat ferner den Fall des syrischen Kurden Abd al-Karim
A. dokumentiert, der im August 2010 aus Norwegen abgeschoben wurde. Er
wurde bei seiner Ankunft auf dem Flughafen Damaskus festgenommen. Abd
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al-Karim A. ist stellvertretender Direktor des Vereins syrischer Kurden in
Norwegen, einer Nichtregierungsorganisation, die auf die Situation der
kurdischen Minderheit in Syrien aufmerksam macht. Der an Diabetes erkrankte
A. war zwei Wochen ohne Kontakt zur Außenwelt beim Geheimdienst in
Damaskus inhaftiert. Berichten zufolge soll er bei der Haftentlassung
aufgefordert worden sein, sich beim Geheimdienst in Aleppo zu melden, was
ihn zur Flucht aus Syrien veranlasst hat.
Nach einem weiteren von KURDWATCH dokumentierten Fall hatte die
Ausländerbehörde Essen am 27. Juli 2010 eine sechsköpfige Familie nach
Damaskus abschieben lassen. Hamza Hasan und Khalid Hasan wurden bei
der Ankunft am Flughafen Damaskus von syrischen Sicherheitskräften
festgenommen. Von den Abgeschobenen sind drei - Hamza, Mariam und Imad
Hasan - in Deutschland geboren. Ihre Eltern hatten in Deutschland Asyl
beantragt und dabei eine falsche Identität angegeben. Ursprünglich hatten sie
behauptet, aus dem Libanon zu stammen und erst später ihre syrische
Staatsangehörigkeit offenbart. Anscheinend wurden Hamza und Khalid Hasan
festgenommen, da sie in Deutschland straffällig geworden waren. Unklar blieb,
wer die syrischen Sicherheitskräfte über ihre Straffälligkeit informiert hat. Am
24. August 2010 wurde Hamza Hasan aus der Haft in Damaskus entlassen
worden. Hasans Aussagen zufolge wurde er an drei unterschiedlichen Orten
festgehalten - von welchen Sicherheitsorganen war für den in der
Bundesrepublik geborenen Kurden nicht ersichtlich. Begründet wurde seine
Festnahme damit, dass er in Deutschland wegen Diebstahls verurteilt worden
sei und diese Strafe noch in Syrien ableisten müsse. Tatsächlich, so Hasan,
sei die Strafe zur Bewährung ausgesetzt worden. Darüber hinaus sei ihm,
ebenfalls unter Verweis auf seine aus Deutschland stammenden Akten, zu
Unrecht Drogenabhängigkeit vorgeworfen worden (KURDWATCH, Meldung
vom 7. September 2010).
Nach seiner Abschiebung aus Dänemark wurde der staatenlose Kurde Amir
Muhammad Dschan Ato am 15. November 2010 auf dem Flughafen
Damaskus verhaftet. Ato war in Dänemark politisch aktiv (KURDWATCH,
Meldung vom 21. November 2010).
Mitglieder des Direktorats für politische Sicherheit in Syrien hatten am 4.
Dezember 2010 Dschuan Yusuf Muhammad vorgeladen und festgenommen.
Nach seiner Abschiebung aus Zypern im Juni 2010 hatte er am Flughafen
Damaskus seinen Pass abgeben müssen. Es folgten mehrere Verhöre durch
verschiedene Geheimdienste. In Zypern hatte Muhammad gemeinsam mit
anderen kurdischen Flüchtlingen gegen seine Abschiebung demonstriert und
an einem mehrtätigen Hungerstreik teilgenommen (KURDWATCH, Meldung
vom 17.12.2010)
Die Ausländerbehörde Hildesheim hatte am 1. Februar 2011 die registrierten
Staatenlosen Badr Naso und seinen Sohn Anwar Naso nach Syrien
abschieben lassen. Badr und Anwar Naso wurden unmittelbar nach ihrer
Ankunft in Damaskus festgenommen und der Auswanderungs- und
Passbehörde überstellt. Anwar Naso wurde vorgeworfen, unrichtige Angaben
zu seinem Alter gemacht zu haben. Er wurde bei der Auswanderungs- und
Passbehörde festgehalten, wo er auf eine Identitätsbescheinigung aus Al-
Hassake warten musste. Sein Vater wurde zunächst dem Direktorat für
politische Sicherheit vorgeführt und dort verhört. Badr Naso wurde am 13.
Februar 2011, sein Sohn am 3. März 2011 freigelassen (KURDWATCH,
Meldungen vom 13.02.2011, 26.02.2011 und 15.03.2011).
Am 8. Februar 2011 wurde Annas Abdullah von Dänemark über Wien nach
Syrien abgeschoben. Obgleich Dänemark zuvor die Rücknahme Abdullahs
zugesichert worden war, erhielt er am Flughafen Damaskus die Information, er
könne nicht einreisen, da es sich bei ihm nicht um einen syrischen
Staatsangehörigen handele. Entweder, er verlasse das Land oder er werde
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inhaftiert, bis seine Identität geklärt sei. Die drei dänischen Beamten, die
Abdullah begleiteten, hielten daraufhin Rücksprache mit der dänischen
Botschaft und erhielten die Anweisung, noch am selben Tag mit Abdullah nach
Kopenhagen zurückzufliegen. In diesem Moment wurde Abdullah von einem
Geheimdienstmitarbeiter erkannt, der einen Beitrag des kurdischen Senders
Roj-TV gesehen hatte, in dem der Kurde im September 2010 als Sprecher von
Hungerstreikenden aufgetreten war. Der Geheimdienstmitarbeiter nahm
Abdullah mit in sein Büro und warf ihm vor, im Ausland falsche Informationen
über Syrien verbreitet zu haben. Abdullah leugnete dies und behauptete, es
handele sich bei ihm um eine andere Person, es sei doch gerade festgestellt
worden, dass er kein syrischer Staatangehöriger sei. Daraufhin, so Abdullah
gegenüber KURDWATCH, sei er von dem Geheimdienstmitarbeiter massiv mit
Kabeln auf den Rücken geschlagen und gezwungen worden, ein Papier zu
unterschreiben, dass er nicht wieder nach Syrien einreisen werde. Schließlich
wurde er entlassen und flog noch am selben Tag mit den dänischen Beamten
nach Kopenhagen zurück. In Dänemark angekommen informierte Abdullah die
dänische Polizei über die erlittene Folter, die durch entsprechende Spuren auf
seinem Rücken belegt sind (KURDWATCH, Meldung vom 29.03.2011).
Nach seiner Abschiebung nach Syrien wurde am 13. April 2011 Khalid Hamid
Hamid am Flughafen Damaskus festgenommen. Er war am 12. April 2011 in
Lebach festgenommen worden, als er bei der dortigen Ausländerbehörde
seine Duldung verlängern lassen wollte. Hamid hatte im Jahr 2002 einen
Asylantrag in Deutschland gestellt. Am 20. April 2011 wurde er in Damaskus
aus der Haft entlassen. Nach seiner Abschiebung aus Deutschland war er
eine Woche lang im Gefängnis der Fara Filastin, einer Abteilung des
Militärischen Nachrichtendienstes, festgehalten worden. Dort war er zu seinen
exilpolitischen Aktivitäten und zu in Deutschland lebenden Syrern verhört und
dabei mit einer als „al kursi al almani“ („deutscher Stuhl“) bezeichneten
Methode gefoltert worden, bei der das Opfer auf einem beweglichen Stuhl
fixiert wird, der die Wirbelsäule nach hinten biegt (KURDWATCH, Meldungen
vom 14.04.2011 und 28.04.2011).
Ein weiteres gefahrbegründendes Moment besteht in dem Umstand, dass
syrische Geheimdienste mit ihren Verbindungen zur syrischen Botschaft in der
Bundesrepublik Deutschland über ein Agentennetz verfügen, mit dem die im
Ausland lebenden Syrerinnen und Syrer flächendeckend überwacht werden.
Seit Beginn des „arabischen Frühlings“ hat sich nach Erkenntnissen des
Verfassungsschutzes die Aktivität des syrischen Geheimdienstes in der
Bundesrepublik Deutschland intensiviert. In der syrischen Botschaft in Berlin,
die auch als Legalresidentur für Spionageaktivitäten fungiere, seien
hauptamtlich abgetarnte Nachrichtendienstler beschäftigt, die ein Agentennetz
in Deutschland führen. Bei der Anwerbung von neuen Agenten würden auch
Repressalien angewandt. In Syrien lebende Angehörige könnten dabei auch
als Druckmittel missbraucht werden (Protokoll der Sitzung des Ausschusses
für Verfassungsschutz des Abgeordnetenhauses von Berlin vom 15. Februar
2012 zum Thema „Aktivitäten des syrischen Geheimdienstes in Berlin“, Seite 4
f.). Anfang Februar 2012 hat die Bundesregierung vier syrische Diplomaten
ausgewiesen, die ihm Verdacht stehen, an Einschüchterungsversuchen
gegen Oppositionelle beteiligt gewesen zu sein. Ebenfalls Anfang Februar
2012 sind ein Deutsch-Libanese und ein syrischer Staatsangehöriger unter
dem Verdacht der geheimdienstlichen Agententätigkeit (§ 99 StGB) für die
Arabische Republik Syrien aufgrund vom Bundesgerichtshof erlassener
Haftbefehle in Untersuchungshaft genommen worden. Die beiden sollen
intensiv an der Ausforschung Oppositioneller beteiligt gewesen sein. Bei
Demonstrationen hätten sie Teilnehmer fotografiert sowie Bilder und andere
Informationen nach Damaskus weitergeleitet (vgl. Zeit Online vom 09.02.2012:
„Deutschland weist vier syrische Diplomaten aus“; Tagesspiegel vom
09.02.2012: „Mutmaßliche Spione forschten Syrer in Berlin aus“; Zeit Online
vom 10.02.2012: „Worauf die Syrer in Deutschland hoffen“; FAZ vom
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11.02.2012: „Assad sieht dich - Syrische Spione in Berlin“ und
Abgeordnetenhaus Berlin,“; zur fortdauernden Beobachtung der syrischen
Staatsangehörigen in der Bundesrepublik Deutschland: Dradio.de, Transkript
eines Radioberichts vom 05.06.2012: „Warten im Niemandsland - Die syrische
Opposition im Exil“). Hieran anschließend hat unter anderem das
Innenministerium des Landes Sachsen-Anhalt mit Erlass vom 16. Februar
2012 die Ausländerbehörden aufgefordert, keinen Kontakt mehr mit syrischen
Stellen zwecks Feststellung der Identität bzw. der Staatsangehörigkeit bei aus
Syrien stammenden Ausländern aufzunehmen.
Diese Einschätzung deutscher amtlicher Stellen über die umfassende
Überwachung von im Ausland lebenden syrischen Staatsangehörigen durch
im Ausland operierende syrische Geheimdienste deckt sich mit den
Erkenntnissen von amnesty international. Im Ausland lebende Syrer werden
systematisch von Angehörigen der syrischen Auslandsvertretungen oder
anderen Personen im Auftrag der syrischen Regierung überwacht und
eingeschüchtert. In einigen Fällen von im Ausland politisch aktiven Syrern
wurden auch die in Syrien lebenden Familienangehörigen unter Druck gesetzt
(vgl. auch Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 17.02.2012, S. 10).
In einem Bericht von Anfang Oktober 2011 hat amnesty international
exemplarisch 30 Fälle in acht Ländern - darunter auch Deutschland -
dokumentiert („The long reach of the Mukhabaraat - violence and harassment
against Syrians abroad and their relatives back home“), welche eine
umfassende und systematische Überwachung der im Ausland lebenden Syrer
belegen. Bereits objektiv vergleichsweise geringfügige Anlässe lösen
Maßnahmen der syrischen staatlichen Stellen aus, welche sich auch gegen
Familienangehörige in Syrien richten.
So rief die in Chile lebende Syrerin Naima Darwish am 25. Februar 2011 auf
ihrer Facebook-Seite zu einer Protestveranstaltung vor der syrischen Botschaft
in Santiago auf. Nur zwei Stunden später erreichten sie Anrufe von Freunden,
welche sie darüber unterrichteten, dass die syrische Botschaft versuche, ihre
Telefonnummer in Erfahrung zu bringen. Zwei Tage nach dem Aufruf erhielt sie
einen Anruf eines Botschaftsangehörigen, welcher sie aufforderte, in die
Botschaft zu kommen. Nach dem dies durch Darwish abgelehnt wurde, fand
ein Treffen außerhalb der Botschaft statt. Auf diesem Treffen wurde sie
beleidigt und ihr damit gedroht, dass sie nicht mehr nach Syrien zurückkehren
könne, wenn sie die oppositionellen Tätigkeiten fortsetze.
Ferner wurde der Bruder des in Spanien lebenden Syrers Imad Mouhalhel,
Aladdin, im Juli 2011 für vier Tage in Syrien inhaftiert. Nachdem Aladdin
Mouhalhel offenbar gefoltert worden war, wurden ihm Fotos und Videos von
Protesten vor der syrischen Botschaft in Spanien gezeigt und er wurde
aufgefordert, seinen Bruder Imad unter den Teilnehmern der Demonstration zu
identifizieren. Am 29. August 2011 wurde Aladdin erneut verhaftet und offenbar
gezwungen, seinen Bruder Imad anzurufen und ihn aufzufordern, nicht mehr
an den Protesten teilzunehmen. Imad und seine Familie haben seitdem kein
Lebenszeichen von Aladdin erhalten.
Malek Jandali, ein 38-jähriger Komponist und Pianist, war im Juli 2011 bei
einer reformorientierten Versammlung vor dem Weißen Haus in Washington
aufgetreten. Wenige Tage später wurden seine 66-jährige Mutter und sein 73
Jahre alter Vater in ihrem Haus in Homs von Sicherheitskräften angegriffen.
Malek Jandali berichtete amnesty international, dass seine Eltern geschlagen
und ins Badezimmer eingesperrt wurden, während ihre Wohnung von Agenten
durchsucht und geplündert wurde. Man sagte ihnen, dies sei die Strafe dafür,
dass sich ihr Sohn über die syrische Regierung lustig gemacht habe. Nach
diesem Vorfall flüchteten seine Eltern aus Syrien.
Einige Familien in Syrien wurden offenbar auch dazu gezwungen, ihre im
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Ausland lebenden Familienangehörigen öffentlich zu verleugnen. So wurde
der Bruder der in Deutschland lebenden Sondos Sulaiman, die im Juni 2011 in
einem Video bei YouTube zum Widerstand gegen den syrischen Präsidenten
aufrief, im syrischen Staatsfernsehen gezeigt, wie er ihr Video denunzierte und
sich abfällig über seine Schwester äußerte. Sondos Sulaiman ist davon
überzeugt, dass ihr Bruder zu diesem Fernseh-Auftritt gezwungen wurde. Ihr
war es seitdem nicht möglich, Kontakt zu ihrer Familie aufzunehmen, um
herauszufinden, was mit ihnen, insbesondere mit ihrem Bruder, passiert ist.
Ein weiteres gefahrbegründendes Element liegt in der innenpolitischen
Eskalation der Lage in Syrien seit dem Frühjahr 2011. Ganz allgemein können
die Ereignisse des „Arabischen Frühlings“ in anderen Ländern der Region als
Anlass für die Demonstrationen in Syrien genannt werden (zur nachfolgend
dargestellten Entwicklung in Syrien von Januar 2011 bis Januar 2012:
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Informationszentrum Asyl und
Migration, „Syrien“, Januar 2012).
Ein weiteres, eine Verfolgungsgefahr begründendes Moment ist darin zu
sehen, dass die syrischen Behörden insbesondere seit Beginn des Jahres
2012 vergleichsweise geringfügige Umstände ausreichen lassen, damit ein
Betroffener in den Verdacht einer oppositionellen Haltung gerät und damit der
reellen Gefahr von Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des Artikel 9 QRL
ausgesetzt ist.
So heißt es schon in dem Ad-hoc-Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 17.
Februar 2012, dass Oppositionsgruppen im Jahr 2011 mehrfach Anträge zur
Genehmigung von Mahnwachen gestellt haben, die mit einer Ausnahme
sämtlich abgelehnt worden seien. Demonstrationen der Opposition werden
grundsätzlich nicht genehmigt. Vielmehr werden Demonstrationen, die sich
gegen das Regime richten, gewaltsam von staatlicher Seite bekämpft, d.h.
Sicherheitskräfte und Schabihha-Milizen gehen mit Schlag- und Schusswaffen
gegen Demonstranten vor. Regelmäßig werden auch Scharfschützen
eingesetzt, die wahllos auf Menschen schießen. Glaubhaften Informationen
syrischer Menschenrechtsverteidiger zufolge komme es auch zur
Gewaltanwendung durch Sicherheitskräfte und staatlich organisierte Milizen
gegen Teilnehmer von Beerdigungszügen für Opfer staatlicher Gewalt. In den
letzten Monaten haben zahlreiche Akteure der Zivilgesellschaft und des
Menschenrechtsbereiches zu ihrem eigenen Schutz auf legalem oder
illegalem Weg auf Grund der Bedrohungslage Syrien verlassen. Unliebsame
öffentliche Äußerungen werden auf Grundlage des Strafgesetzes verfolgt
(insbesondere nach Art. 285 und 286, die „Propaganda zur Schwächung
nationaler Gefühle“ bzw. das „Verbreiten falscher Informationen“ unter Strafe
stellen). Im Sommer 2011 wurde ein neues Mediengesetz erlassen, das das
syrische Pressegesetz von 2001 ersetzt. In dem neuen Gesetz wird das Recht
des Bürgers auf Information anerkannt und die Reichweite der Zensur
eingeschränkt. Allerdings werden die Medienvertreter zur „wahrheitsgemäßen
Berichterstattung“ verpflichtet. Faktisch habe sich nach Auffassung des
Auswärtigen Amtes die Pressefreiheit jedoch nicht verbessert. Der Raum für
Meinungs- und Pressefreiheit habe sich in den letzten Monaten vielmehr stark
verringert: Filmemacher, Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und „citizen
journalists“, die über die Aktivitäten der Opposition, die Anti-Regime-
Demonstrationen sowie die staatliche Repression zu berichten versuchen,
werden verfolgt, festgenommen, angegriffen oder sogar ermordet. Unter
Menschenrechtsverteidigern ist der Eindruck verbreitet, dass das Regime mit
besonderer Härte gegen diejenigen Personen vorgehe, denen nachgewiesen
werden könne, dass sie Informationen über die Lage im Land an ausländische
Medien weitergeben würden. In den letzten zehn Monaten (von Februar 2012
an gerechnet) sind zahlreiche Journalisten in Syrien inhaftiert und mehrere
Medienvertreter getötet worden. Internetnutzung wird mit ausgefeilter Software
überwacht und reguliert. In Regionen und Stadtteilen, in denen Operationen
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von Sicherheit und Militär liefen, werden Internet- und
Telekommunikationsverbindungen oft tagelang abgestellt. In dem Lagebericht
wird ausgeführt, dass obwohl die syrische Verfassung und das syrische
Strafrecht Folter verbiete und Syrien das Übereinkommen gegen Folter und
andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe
vom 10. Dezember 1984 ratifiziert hat, Polizei, Justizvollzugsorgane und
Sicherheitsdienste systematisch Gewalt anwenden. Die Gefahr körperlicher
und seelischer Misshandlung sei nach Auffassung des Auswärtigen Amtes in
den Verhörzentralen der Sicherheitsdienste, zu denen weder Anwälte noch
Familienangehörige Zugang haben, als besonders hoch einzustufen.
Personen, die unter dem Verdacht oppositioneller Umtriebe stehen, sind
ebenfalls einem hohen Folterrisiko ausgesetzt. Seit März 2011 sind zahlreiche
Fälle von Tötungen im Gewahrsam der Sicherheitsdienste belegt. Offizielle
Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung in syrischen
Haftanstalten gibt es nicht. Es bestehen nach Einschätzung des Auswärtigen
Amtes keine Möglichkeiten einer effektiven strafrechtlichen Verfolgung von
Folter oder anderen kriminellen Handlungen durch Sicherheitskräfte. Bereits
vor März 2011 habe es Hinweise dafür gegeben, dass Personen, die sich über
die Behandlung durch Sicherheitskräfte beschwerten, Gefahr liefen, dafür
strafrechtlich verfolgt zu werden. Vieles deutet nach Auffassung des
Auswärtigen Amtes darauf hin, dass im Zuge der Bekämpfung der
Oppositionsbewegung die Sicherheitsdienste und die Schabihha-Miliz vom
Regime eine Art „carte blanche“ erhalten hätten.
Amnesty international hat in dem Bericht vom 14. Juni 2012 („Deadly
Reprisals: Deliberate killings and other abuses by Syria´s armed forces“) nicht
nur die zunehmend massiver werdende Anwendung von militärischer Gewalt
gegenüber der Zivilbevölkerung, sondern auch bestimmte Muster von politisch
motivierten Verfolgungsmaßnahmen geschildert. Die Maßnahmen der
syrischen Armee und der regimetreuen Milizen richten sich in erster Linie
gegen Ortschaften, in denen aus Sicht der Regierung oppositionelle Personen
leben oder dies nur vermutet wird. Die Aktionen beginnen in der Regel so,
dass zunächst mit Artillerie und Gewehrfeuer in die Orte geschossen wird. Ist
aus Sicht der Regierungseinheiten nicht mehr mit nennenswertem Widerstand
zu rechnen, gehen reguläre Soldaten und Milizionäre von Haus zu Haus,
brennen die Häuser nieder und töten häufig wahllos die Einwohner. Nach
Einschätzung der Regierungstruppen ist allein der Umstand, dass Personen in
einem Ort leben, in denen Oppositionelle vermutet werden, Grund für eine
willkürliche Verhaftung oder Ermordung (S. 9 und 11 f. des Berichts). Anlass für
Verhaftung und Ermordung kann auch das Tragen von Kleidungsstücken sein,
welche aus Sicht der Regierungseinheiten bevorzugt von den bewaffneten
Oppositionsgruppen getragen werden (Bericht, S. 17).
Auch in dem Bericht des United Nations High Commissioner for Human Rights
(Bericht zur Lage in Syrien vom 24. Mai 2012) wird geschildert, dass
Anknüpfungspunkt für eine auf der Vermutung der oppositionellen Haltung
beruhende Verhaftung, Folter und Bestrafung bereits der Umstand sein kann,
dass eine Person in unmittelbarer Nachbarschaft oder in einem Ort lebt, in dem
sich Personen aufhalten sollen, die gegen die syrische Regierung eingestellt
sind (dort Randziffer 10). Ferner wird in dem Bericht der Fall eines Mannes
geschildert, der allein aufgrund des Umstandes, dass er eine größere Menge
Geld besaß, unter dem Verdacht der oppositionellen Haltung und des
Waffenschmuggels zugunsten der bewaffneten Rebellengruppierungen
festgenommen und gefoltert wurde (dort Randziffer 13).
Human Rights Watch schildert bereits in seinem im Dezember 2011
erschienenen Bericht „By all means necessary!“ die Verhaftung und Folter von
Rechtsanwälten und Journalisten, welche die Proteste unterstützen, aber auch
von Ärzten und Pflegepersonal, welche verdächtigt wurden, verletzte
Demonstrationen in Privathäusern oder provisorischen Feldlazaretten versorgt
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zu haben (Bericht S. 16 und 51). Ausreichend für eine Verhaftung und
anschließende Foltermaßnahmen in der Region Hama waren bereits
„verdächtige Blicke“ und „freche“ Antworten gegenüber Soldaten (Bericht S.
45).
Der Senat geht bei einer Gesamtschau davon aus, dass der syrische Staat
infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und
seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon
im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die
Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck
einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum
Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt.
Der Auffassung der Beklagten, eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Gefahr
einer politischen Verfolgung allein wegen der illegalen Ausreise, der
Asylantragstellung und des längeren Aufenthalts im Ausland könne bei der
erforderlichen Anwendung der anzuwendenden Maßstäbe mangels
Referenzfällen nicht festgestellt werden, berücksichtigt nicht hinreichend die
aktuelle Situation seit Erlass des Abschiebungsstopps im Frühjahr 2011. Wenn
Asylsuchende abgeschoben würden, wäre tatsächlich die Häufigkeit von
Verfolgungsmaßnahmen in Syrien allein anknüpfend an die vorgenannten
Aspekte nach den oben dargestellten Kriterien für die Feststellung einer
Verfolgungswahrscheinlichkeit zu ermitteln. Die Beklagte selbst hat jedoch in
Reaktion auf die eskalierende Lage in Syrien die Möglichkeit der Feststellung
solcher Referenzfälle verhindert, indem sie mit Schreiben des
Bundesministeriums des Innern vom O. an die Länderinnenverwaltungen
geraten hat, von Abschiebungen nach Syrien vorläufig abzusehen. Sonstige
Erkenntnismöglichkeiten zur Frage der Behandlung von Rückkehrern durch
Auskünfte anderer Stellen sieht die Beklagte offenkundig auch nicht. Ebenso
bestätigt das Auswärtige Amt, dass wegen fehlender Rückführungen keine
aktuellen Erfahrungswerte bezüglich eines etwaigen Verhaltens der syrischen
Sicherheitsbehörden gegenüber zurückgeführten abgelehnten Asylbewerbern
vorliegen (Auswärtiges Amt, Stellungnahme gegenüber dem
Verwaltungsgericht Augsburg vom 02.11.2011). Die Gefahrendichte ist also
nicht mangels hinreichender Referenzfälle zu verneinen, vielmehr kann sie nur
nicht durch Referenzfälle nachgewiesen werden, weil die deutschen wie auch
andere europäische Behörden Abschiebungen nach Syrien zur Zeit nicht
vornehmen (so ausdrücklich zur Gefahr der Folter im Rahmen von Verhören:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 14.02.2012 - 14 A 2708/10.A -, juris). Der
Senat hat daher auf der Basis der vorgenannten Erkenntnisse und
allgemeinkundigen Tatsachen festgestellt, dass eine flüchtlingsrechtlich
relevante Gefahrendichte gegeben ist und insofern die beachtliche
Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung für den Kläger besteht…“
Diesen überzeugenden Ausführungen, denen auch der VGH Baden-
Württemberg in seinem Beschluss vom 19.06.2013 (Az: A 11 S 927/13 -,
asyl.net) beigetreten ist, schließt sich die Kammer an.
Dem hiergegen vom Oberverwaltungsgericht NRW im Beschluss vom
07.05.2013 (Az: 14 A 1008/13. A - juris) vorgebrachte Argument, es sei
lebensfremd anzunehmen, der syrische Staat, dessen Machthaber gegen
Aufständische und das politische und psychische Überleben kämpfen und
dabei bereits die Kontrolle über erhebliche Landesteile verloren habe, hätte
Veranlassung und Ressourcen, alle zurückgeführten unpolitischen
Asylbewerber ohne erkennbaren individuellen Grund aus den in § 60 Abs. 1
Satz 1 AufenthG genannten Gründen zu verfolgen, kann die Kammer nicht
folgen. Das Oberverwaltungsgerichts NRW stellt im Wesentlichen mit seiner
Argumentation in Frage, ob das Regime Assad noch über ausreichende,
flächendeckende Staatsgewalt verfügt. Über diese verfügt es aber derzeit.
Politische Verfolgung ist grundsätzlich staatliche Verfolgung. Staaten stellen in
sich befriedete Einheiten dar, die nach innen alle Gegensätze, Konflikte und
Auseinandersetzungen durch eine übergreifende Ordnung in der Weise
relativieren, dass diese unterhalb der Stufe der Gewaltsamkeit verbleiben und
die Existenzmöglichkeit des Einzelnen nicht Frage stellen, insgesamt also die
Friedensordnung nicht aufheben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2
BvR 502/86 u. a. -, BVerfGE 80, 315, 334). Eine solche, die
Lebensverhältnisse der in einem bestimmten Gebiet lebenden Menschen
regelnde und befriedende Ordnung setzt das Bestehen einer hinreichend
verfassten und organisierten Staatsmacht voraus, die in der Lage ist, die
Herrschaftsgewalt gegenüber den ihr Unterworfenen durchzusetzen (vgl.
BVerwG, Urteil vom 18. Januar 1994 - BVerwG 9 C 48.92 -, BVerwGE 95, 43,
45). Eine hinreichend verfasste und organisierte Staatsmacht liegt nur dann
vor, wenn Institutionen bestehen, die dazu legitimiert sind, den
Lebensverhältnissen in dem betreffenden Staatsgebiet eine grundlegende,
allgemeinverbindliche Ordnung zu geben und deren Einhaltung im
Staatsgebiet zu überwachen und sicherzustellen. Die Durchsetzung der
staatlichen Friedensordnung ist nur dann möglich, wenn die staatlichen
Institutionen über ihnen unterstellte und ihnen verantwortliche Staatsorgane
und überdies über ausreichende militärische und sonstige Machtmittel
verfügen, die dem Staat in seinem Gebiet eine effektive Gebietsgewalt im
Sinne wirksamer hoheitlicher Überlegenheit sichern und gewährleisten, dass
er seine Bürger gegen kriminelle Gewalt und politisch begründete Übergriffe
nichtstaatlicher Dritter schützen und sich gegebenenfalls auch gegen
separatistische, revolutionäre oder terroristische Bestrebungen, die die
Staatsordnung ablehnen, behaupten kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.
Juli 1989, a.a.O.). Nur wenn eine staatlich gewährleistete Friedensordnung
grundsätzlich besteht, ist es denkbar, dass der Staat einzelne seiner Gewalt
unterworfene Personen hieraus durch gezielte Eingriffe in asylrechtlich
geschützte Rechtsgüter ausschließen und damit politisch verfolgen kann,
denn die Macht zu schützen schließt die Macht, Einzelnen diesen Schutz zu
versagen und sie zu verfolgen, mit ein. Ein nach den dargestellten
Grundsätzen schutz- und verfolgungsmächtiger Staat ist im asylrechtlichen
Sinne auch verantwortlich für politisch begründete Verfolgungsmaßnahmen
Dritter, wenn er ihm prinzipiell zur Verfügung stehende Mittel nicht zur Abwehr
derartiger Übergriffe einsetzt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989,
a.a.O.). An einer staatlichen oder einem Staat zurechenbaren Verfolgung fehlt
es deshalb zunächst dann, wenn sich in dem für die asylrechtliche Beurteilung
maßgeblichen Gebiet ein Staat als organisierte Herrschaftsgewalt nicht
herausgebildet hat oder wenn der Staat durch Auflösung seiner Institutionen
und Organe vollständig untergegangen ist. In einer solchen Situation kann ein
vollständiges Machtvakuum bestehen oder entstehen, in dem die in diesem
Gebiet lebenden Personen schutzlos einem völligen Chaos, zügelloser
Anarchie oder unkontrollierter Willkür ausgesetzt sind. Möglich ist aber auch,
dass in dem betreffenden Gebiet mangels eines hinreichend verfassten und
organisierten Staatswesens oder nach dem Zusammenbruch des Staates
vorstaatliche Verhältnisse herrschen und die Machtausübung - ebenso wie die
Fähigkeit zur Schutzgewährung und zur Ergreifung von
Verfolgungsmaßnahmen - allein in der Hand einzelner Familien, Sippen,
Clans, Stammesgruppen, örtlicher Potentaten oder Militärkommandeure liegt,
die ohne Bindung an übergeordnete Regeln und ohne Kontrolle staatlicher
Gewalten lediglich eine persönliche oder örtlich begrenzte Ordnung
gewährleisten. Vor solchen Folgen anarchischer Zustände oder der Auflösung
der Staatsgewalt kann kein asylrechtlicher Schutz gewährt werden (vgl.
BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989, a.a.O.). Büßt der Staat im gesamten
Staatsgebiet oder in Teilen dieses Gebietes seine effektive Gebietsgewalt im
Sinne wirksamer hoheitlicher Überlegenheit ein und nimmt er - etwa in einem
offenen Bürgerkrieg oder in bestimmten Krisensituationen eines Guerilla-
Krieges - nunmehr die Rolle einer um die Macht kämpfenden Partei ein, ohne
noch als effektive übergreifende Ordnungsmacht vorhanden zu sein, so sind
auch von ihm ausgehende Verfolgungsmaßnahmen asylrechtlich
unbeachtlich, wenn sie in typischer Weise militärisch geprägt sind und der
Rückeroberung des verlorenen Gebietes dienen. Anderes gilt dann, wenn die
staatlichen Kräfte den Kampf in einer Weise führen, die auf die physische
Vernichtung von auf der Gegenseite stehenden oder ihr zugerechneten und
nach asylerheblichen Merkmalen bestimmten Personen gerichtet ist, obwohl
diese keinen Widerstand mehr leisten wollen oder können oder an dem
militärischen Geschehen nicht oder nicht mehr beteiligt sind, vollends dann,
wenn die Handlungen der staatlichen Kräfte in eine gezielte physische
Vernichtung oder Zerstörung der ethnischen, kulturellen oder religiösen
Identität des gesamten ausländischen Bevölkerungsteils umschlagen.
Behauptet der Staat hingegen seine prinzipielle Gebietsgewalt oder erlangt er
sie - trotz des fortdauernden Bürgerkriegs - in dem betreffenden Gebiet zurück,
so besteht auch die Möglichkeit asylrelevanter politischer Verfolgung aus einer
Überlegenheitsposition fort oder entsteht aufs Neue (vgl. BVerfG, Beschluss
vom 10. Juli 1989, a.a.O.). Hat der Staat als Folge kriegerischer
Auseinandersetzungen in bestimmten Teilen des Staatsgebietes seine
Gebietsgewalt und die Fähigkeit zu ihrer baldigen Rückgewinnung endgültig
verloren oder ist in diesen Gebieten die Staatsgewalt aus sonstigen Gründen
zusammengebrochen, können Zurechnungsobjekt einer politischen
Verfolgung im asylrechtlichen Sinne auch nichtstaatliche Kräfte sein, soweit
sie, wenn sie sich nicht ohnedies von dem Staat separiert und einen eigenen
Staat gebildet haben oder als "Gegenregierung" nunmehr selbst den Staat
repräsentieren, die staatliche Gewalt an sich gerissen oder in dem von ihnen
kontrollierten Bereich eine selbständige Herrschaftsstruktur errichtet haben
und eine eigene staatsähnliche Gewalt ausüben (vgl. BVerfG, Beschluss vom
10. Juli 1989, a.a.O.).Allerdings sind die inhaltlichen Anforderungen, die erfüllt
sein müssen, um von einem staatsähnlichen und zu asylrechtlich relevanter
Verfolgung fähigen Machtgebilde sprechen zu können, in der
höchstrichterlichen Rechtsprechung bislang nicht hinreichend geklärt. Es ist
wohl zu fordern insoweit auf die Ausübung einer gewissen hoheitlichen Gewalt
oder auf das Bestehen zumindest rudimentär vorhandener organisatorischer
Strukturen abzustellen, mit deren Hilfe die Ordnung innerhalb des fraglichen
Machtbereichs in gewissem Umfang gewährleistet werden kann, wobei etwa
an polizeiähnliche Einrichtungen zum Schutze der Gebietsbewohner gegen
Übergriffe Dritter, an Institutionen zur Schlichtung aufkommender Streitigkeiten
und an Vorkehrungen mit dem Ziel, das beherrschte Gebiet und seine
Bewohner nach außen zu verteidigen, gedacht werden könnte (in
sinngemäßer Anlehnung an BVerwG, Urteil vom 28. Februar 1984 - BVerwG 9
C 981.81). Weiteres Erfordernis für die Annahme staatsähnlicher und damit zu
asylrechtlich relevanter Verfolgung fähiger Machtgebilde ist einer den
fraglichen Herrschaftsbereich kennzeichnenden regional wie personal
übergreifenden Friedensordnung. Das Bestehen einer solchen übergreifenden
Friedensordnung kennzeichnet zum einen den Staat im eigentlichen Sinne
und ist nach höchstrichterlicher Rechtsprechung (vgl. BVerfG, Beschluss vom
10. Juli 1989, a.a.O.) Anknüpfungspunkt für die Annahme einer die
Gewährung von Asyl auslösenden staatlichen Verfolgung im Wege der
Ausgrenzung Einzelner aus eben dieser Friedensordnung. Ein im Grundsatz
zu asylrechtlich relevanter Verfolgung fähiges Herrschaftsgebilde kann daher
nur dann anerkannt werden, wenn es gerade dieses Kriterium erfüllt und sich
insoweit etwa von bloßen Einflussbereichen, Hauptquartieren oder sonstigen
machtsichernden Gebietsstrukturen unterscheidet, die von um die Macht
kämpfenden Rebellenführern, Clanchefs oder sonstigen Potentaten errichtet
werden. Kennzeichnend für eine übergreifende Friedensordnung im
vorgenannten Sinne ist im Wesentlichen der Umstand, dass sie nach dem
erkennbaren Selbstverständnis des fraglichen Herrschaftsgebildes darauf
ausgerichtet ist Ordnung nicht nur für den Kreis der jeweiligen Machthaber und
der ihnen sonst verbundenen Kreise zu gewährleisten, sondern grundsätzlich
für alle in deren Macht- und Einflussbereich lebenden Menschen. Das
Herrschaftsgebilde darf daher nach seinem erkennbaren Selbstverständnis
sich in der Weise definieren, dass bestimmte Personen nicht von der
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geltenden staatlichen Ordnung umfasst werden, also gleichsam nicht
"dazugehören" sollen, so fehlt es bereits an dem Anspruch, eine übergreifende
Friedensordnung errichten und gewährleisten zu wollen. In diesem Fall kann
aber auch keine Ausgrenzung Einzelner aus einer solchen übergreifenden
Friedensordnung stattfinden, die gerade Voraussetzung für die Annahme einer
asylrechtlich relevanten Verfolgung ist. Kommt es daher für die Annahme eines
staatsähnlichen Herrschaftsgebiets im Sinne der asylrechtlichen
Rechtsprechung entscheidend auf das Bestehen einer übergreifenden
Friedensordnung an, so bedeutet dies selbstverständlich nicht, dass die
Verletzung oder gar die weitgehende Beseitigung dieser im Ansatz und nach
dem ursprünglichen Selbstverständnis vorhandenen übergreifenden
Friedensordnung den damit einhergehenden Verfolgungshandlungen den
Charakter asylrechtlich relevanter Maßnahmen nimmt. Vielmehr folgt deren
Asylrelevanz gerade aus der Nichtbeachtung des im Grundsatz vorhandenen
übergreifenden Ordnungsprinzips.
Unter Anwendung dieser Grundsätze kontrolliert das Regime Assad derzeit vor
allem weite Teile des Bereiches, der die Hauptstadt Damaskus einschließt.
Hier agiert das Regime nach aktueller Erkenntnislage weiterhin mit Polizei,
Militär und Geheimdienstkräften. Die Organisationsstruktur ist zumindest
regional staatlich oder staatsähnlich. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund,
dass es im Fall rückgeführter Staatsangehöriger, die nur über den Flughafen
Damaskus einreisen können, für eine Befragung keiner großen Ressourcen
bedarf. Es genügen wenige geschulte Geheimdienstmitarbeiter, um die
Befragungen und anschließenden Folterungen durchzuführen. Neben dieser
zumindest regional vorhandenen Macht ist auch das Regime von seinem
Selbstverständnis um eine übergreifende Friedensordnung bemüht. In den von
ihnen kontrollierten Bereichen soll das syrische Rechtssystem, das
unzweifelhaft vor dem Aufkommen der bürgerkriegsähnlichen Zustände
vorhanden war und bis dato nicht abgeschafft worden ist, durchgesetzt
werden. Besteht aber am Ort der hier zu unterstellenden Rückkehr der
Klägerin eine staatliche Organisationsstruktur mit dem Bestreben des Regimes
Assad, eine übergreifende Friedensordnung herzustellen bzw. zu wahren, ist
kein Raum mehr, dem Oberverwaltungsgericht NRW zu folgen.
Im Ergebnis ist daher bei Personen, die illegal aus Syrien ausreisen, sich im
Ausland aufhalten und dort einen Asylantrag stellen, grundsätzlich davon
auszugehen, dass der syrische Staat bei ihnen eine systemfeindliche
Gesinnung vermutet.
Die Kammer hat erwogen, ob die syrischen Behörden abweichend von diesem
Grundsatz in der Klägerin keine Regimegegnerin sehen werden. Sie könnte
bei einer Rückkehr nach Syrien bei einer Befragung durch syrische
Geheimdienstmitarbeiter geltend machen, dass sie vor allem wegen ihres
Ehemannes das Land verlassen hat, um mit ihm in Deutschland zusammen zu
leben. Sie könnte diesen Beweggrund mit der Hochzeitsurkunde und der in
ihre Sprache übersetzten Abschrift der Anhörung vor dem Bundesamt, in der
sie diesen Ausreisegrund explizit nennt, belegen. Dennoch vermag die
Kammer nicht einzuschätzen, ob der Klägerin bei dieser Befragung die
Möglichkeit eröffnet wird, sich hinsichtlich ihres Auslandsaufenthalts zu
erklären. Bei der derzeitigen Erkenntnislage ist auch eine gewisse Willkür in
den Handlungen der syrischen Ordnungsmacht zu beobachten. Es besteht die
beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass die Klägerin die bei ihr vermutete
Systemfeindlichkeit bei einer Befragung in Syrien nicht widerlegen wird
können.
Daher liegen in der Person der Klägerin die Voraussetzungen für die
Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor.
Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG. Die
Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in
Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 S. 1 und 2 ZPO.