Urteil des VG Hannover vom 11.12.2012

VG Hannover: gegen die guten sitten, treu und glauben, nachzahlung, versorgung, ex nunc, ex tunc, rücknahme, merkblatt, teilzeitbeschäftigung, zukunft

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Versorgungsabschlag
Zu der Frage, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen ein
Versorgungsempfänger einen Anspruch darauf hat, dass ein bestandkräftiger
Versorgungsbescheid, der einen rechtswidrigen Versorgungsabschlag
beinhaltet, rückwirkend mit Beginn des Jahres 2008, in dem das
Bundesverfassungsgericht die Nichtigkeit der Regelung festgestellt hat,
geändert wird und Versorgungsbezüge nachgezahlt werden.
VG Hannover 2. Kammer, Urteil vom 11.12.2012, 2 A 4726/11
§ 14 Abs 1 S 1 BeamtVG, § 85 Abs 4 S 2 BeamtVG, § 51 Abs 5 VwVfG
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig
vollstreckbar.
Tatbestand
Die im Jahre D. geborene Lehrerin wendet sich gegen den
Versorgungsabschlag nach Teilzeitbeschäftigung.
Die Klägerin stand zuletzt als Lehrerin (Besoldungsgruppe A12) im Dienst des
Landes Niedersachsen. Mit Ablauf des 31.01.2001 wurde sie in den Ruhestand
versetzt. Während ihrer aktiven Dienstzeit war die Klägerin über viele Jahre - seit
dem 01.08.1986 bis zu ihrer Versetzung in den Ruhestand - teilzeitbeschäftigt.
Mit Bescheid vom 30.01.2001 setzte das Niedersächsische Landesamt für
Bezüge und Versorgung - Rechtsvorgänger der Beklagten - die
Versorgungsbezüge der Klägerin ab dem 01.02.2001 fest und ermittelte einen
Ruhegehaltssatz von 51 v.H.. Im Hinblick auf das Ergebnis der auf § 85 Abs. 4
Satz 2 BeamtVG beruhenden, einen Versorgungsabschlag für
Teilzeitbeschäftigung nach § 14 Abs. 1 Satz 1 Hbs. 2 BeamtVG a.F.
berücksichtigenden Vergleichsberechnung wurde der Ruhegehaltssatz der
Klägerin auf 47,89 v.H. gekürzt.
Mit Beschluss vom 18.06.2008 (-2 BvL 6/07-, BVerfGE 121, 241) erklärte das
Bundesverfassungsgericht den Versorgungsabschlag nach § 14 Abs. 1 Satz 1
Hbs. 2 und 3 in der bis zum 31.12.1991 geltenden Fassung, der bei
Teilzeitbeschäftigungen erhoben wurde und den Ruhegehaltssatz minderte, für
nichtig. Daraufhin informierte die Beklagte alle Versorgungsempfänger mit der
Gehaltsmitteilung für Dezember 2008 in einem Merkblatt über diesen Beschluss
und stellte den Versorgungsempfängerinnen- und -empfängern anheim, die
Änderung ihrer Versorgungsfestsetzungsbescheide zu beantragen.
Einen solchen Antrag stellte die Klägerin nicht. Erst im August 2011 stellte die
Beklagte bei der Aktenbearbeitung fest, dass sich die Versorgungsbezüge der
Klägerin weiterhin um den auf der Grundlage der für verfassungswidrig erklärten
Vorschrift erhobenen Versorgungsabschlag verminderten. Daraufhin hob die
Beklagte mit Bescheid vom 26.08.2011 den bestandskräftigen
Versorgungsfestsetzungsbescheid vom 30.01.2001 mit Wirkung vom
01.08.2011 insoweit auf, als bei der Berechnung des für die Versorgung der
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Klägerin maßgebenden Ruhegehaltssatzes ein Versorgungsabschlag nach §
14 Abs. 1 Satz 1 BeamtVG a.F. erhoben wurde. Gleichzeitig setzte die Beklagte
den Ruhegehaltssatz der Klägerin ohne Berücksichtigung des
Versorgungsabschlags neu fest. Für die Versorgung wurde nunmehr ohne
Versorgungsabschlag ein Ruhegehaltssatz von 51 v.H. in Ansatz gebracht.
Mit Schreiben vom 27.09.2011 erhob die Klägerin gegen den Bescheid vom
26.08.2011 Widerspruch und begehrte die Korrektur des Ruhegehaltssatzes
bereits ab dem Zeitpunkt der Versetzung in den Ruhestand und Nachzahlung
der vorenthaltenen Versorgungsbezüge. Diesen Widerspruch wies die Beklagte
mit Widerspruchsbescheid vom 04.10.2011 zurück. Zur Begründung führte sie
aus:
Die Entscheidung darüber, ob und inwieweit ein bestandskräftiger und
rechtswidriger Bescheid aufgehoben wird, sei eine Ermessensentscheidung. Es
bestehe grundsätzlich keine Verpflichtung, solche Bescheide aufzuheben.
Insbesondere folge aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht
automatisch, dass die rechtswidrigen Bescheide aufzuheben seien. Vielmehr sei
in § 79 Abs. 2 BVerfG festgelegt, dass nicht mehr anfechtbare Entscheidungen,
die auf einer vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärten Rechtsnorm
beruhten, unberührt blieben. Dies bedeute, dass sie nicht zwingend aufzuheben
seien. In dem Fall der Klägerin (und auch in allen gleichgelagerten Fällen) habe
sie das ihr eingeräumte Ermessen dahingehend ausgeübt, dass der
Versorgungsfestsetzungsbescheid auf den Monat der Antragstellung bzw. der
behördlichen Feststellung der Auswirkungen des Beschlusses des
Bundesverfassungsgerichts auf ihr Ruhegehalt, somit ab dem 01.08.2011,
aufgehoben werde. Dafür sei auch maßgebend, dass über den Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts alle Versorgungsempfänger im Merkblatt zur
Gehaltsmitteilung im Dezember 2008 informiert worden seien. Im Hinblick auf die
Geltendmachung besoldungsrechtlicher Ansprüche habe das
Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen darauf hingewiesen,
dass es den Beamtinnen und Beamten zuzumuten sei, in Fällen, in denen sie
davon ausgingen, ihre Besoldung oder Versorgung würde nicht den
Grundsätzen einer amtsangemessenen Alimentation entsprechen, zeitnah
einen Antrag auf Höheralimentierung zu stellen. Der Grundgedanke der
zeitnahen Geltendmachung von Ansprüchen werde auch bei der von ihr zu
treffenden Ermessensentscheidung nach § 48 VwVfG berücksichtigt. Einen
Antrag auf Neufestsetzung der Versorgung habe die Klägerin bisher nicht
gestellt. Die Neuberechnung der Versorgungsbezüge der Klägerin ab dem
01.08.2011 ohne Antrag der Klägerin sei im Rahmen der Fürsorgepflicht
geschehen.
Am 31.10.2011 hat die Klägerin Klage erhoben. Dabei ging es ihr zunächst
darum, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung der entgegenstehenden
Bescheide zu verpflichten, ihr für die Zeit ab dem 01.01.2008
Versorgungsbezüge ohne einen Versorgungsabschlag auszuzahlen. Sie hat
sich dabei auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22.03.1990
- 2 BvL 1/86 (BVerfGE 81, 363, 385) bezogen, mit dem Argument, eine sich auf
alle betroffenen Beamten erstreckende Korrektur einer für verfassungswidrig
erklärten Regelung sei für den Zeitraum gefordert, der mit dem Haushaltsjahr
beginne, in dem durch die verfassungsgerichtliche Entscheidung die
Verfassungswidrigkeit festgestellt worden sei. In der mündlichen Verhandlung
hat die Klägerin geltend gemacht, ihr stehe ein Anspruch auf erhöhte
Versorgung bereits ab dem 01.02.2001, ihrem Eintritt in den Ruhestand zu. Es
widerspreche der Rechtslage, dass die Beklagte von den
Versorgungsempfängerinnen und Empfängern einen Korrekturantrag verlange.
Wegen der Verfassungswidrigkeit des für nichtig erklärten Gesetzes sei eine
Korrektur des rechtswidrigen Versorgungsfestsetzungsbescheids von Anfang
an vorzunehmen.
Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte zu verpflichten, ihr für den Zeitraum ab dem 01.02.2001 bis
zum 31.07.2011 Versorgungsbezüge unter Außerachtlassung eines
Versorgungsabschlages nach § 14 Abs. 1 Satz 1 Hbs. 2 BeamtVG a.F. zu
gewähren und den Bescheid der Beklagten vom 26.08.2011 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 04.10.2011 sowie den
Versorgungsfestsetzungsbescheid vom 30.01.2001 aufzuheben, soweit
sie dem Verpflichtungsbegehren entgegenstehen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung trägt sie vor:
Es gebe nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
keine allgemeine Verpflichtung der vollziehenden Gewalt, rechtswidrige
belastende Verwaltungsakte unbeschadet des Eintritts ihrer Bestandskraft von
Amts wegen oder auf Antrag des Adressaten aufzuheben. Dies gelte auch für
bestandskräftige Verwaltungsakte, deren Rechtsgrundlage gegen
Verfassungsrecht verstoße.
Nachdem sie im Dezember 2008 die Merkblätter an die Versorgungsempfänger
versandt habe, sei in den Jahren 2008 und 2009 eine Vielzahl von Anträgen auf
Wiederaufgreifen gestellt worden. Diesen Anträgen sei mit Wirkung von der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an entsprochen worden. Seit
2010 habe sie ihre Praxis umgestellt. Dies sei auf Weisung des MF geschehen.
Im Jahre 2010 sei die Merkblattaktion auch schon etwa eineinhalb Jahre her
gewesen, und es seien kaum noch Anträge gekommen. Diese Fälle seien dann
nur noch für die Zukunft neu beschieden worden. Das gelte auch für die Fälle,
die so gelagert seien wie bei der Klägerin. Sie habe keine Möglichkeit, EDV-
unterstützt die Fälle gezielt heraus zu suchen, bei denen noch ein
Versorgungsabschlag alten Rechts erhoben werde.
Bei Erfolg der Klage würde sich eine Nachzahlung in Höhe von 4.931,09 Euro
ergeben.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der
Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Versorgungsakte der
Klägerin Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Verpflichtungsklage bleibt ohne Erfolg. Sie ist unzulässig, soweit die Klägerin
die Nachzahlung von Versorgungsbezügen für den Zeitraum vom 01.02.2001
bis zum 31.12.2007 begehrt (1.), und unbegründet, soweit es ihr um die
Nachzahlung von Versorgungsbezügen für den Zeitraum vom 01.01.2008 bis
zum 31.07.2011 geht (2.).
1.) Der Klage auf Nachzahlung von Versorgungbezügen für den Zeitraum vom
01.02.2001 bis zum 31.12.2007 steht die teilweise Bestandskraft des
Widerspruchsbescheids der Beklagten vom 04.10.2011 entgegen. Die Klägerin
hat mit ihrem am 27.09.2011 erhobenen Widerspruch gegen den Bescheid der
Beklagten vom 26.08.2011 die Korrektur des Ruhegehaltssatzes und
entsprechende Nachzahlung von Versorgungsbezügen bereits ab dem
Zeitpunkt ihrer Versetzung in den Ruhestand, also ab dem 01.02.2001 begehrt.
Ihre am 31.10.2011 erhobene Klage hat die Klägerin dann aber zunächst
lediglich auf Nachzahlung der zu Unrecht um einen Versorgungsabschlag
gekürzten Bezüge für die Zeit ab dem 01.01.2008 gerichtet. Soweit der
Widerspruchsbescheid die Nachzahlung von Versorgungsbezügen für die Zeit
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vom 01.02.2001 bis zum 31.12.2007 ablehnt, ist er also bestandkräftig
geworden. Die darauf gerichtete, in der mündlichen Verhandlung erweiterte
Klage ist damit unzulässig.
2.) Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Nachzahlung von
Versorgungsbezügen ab dem 01.01.2008 (a). Auch eine Neubescheidung ihres
Antrags auf Nachzahlung unter Korrektur der entgegenstehenden Bescheide
kann sie nicht verlangen (b).
a) Mit ihrem Bescheid vom 26.08.2011, durch den der bestandskräftige
Versorgungsfestsetzungsbescheid vom 30.01.2001 mit Wirkung vom
01.08.2011 aufgehoben wurde, hat die Beklagte das abgeschlossene, auf
Versorgungsfestsetzung gerichtete Verwaltungsverfahren zugunsten der
Klägerin wiederaufgegriffen und eine neue - der gerichtlichen Überprüfung
zugängliche - Sachentscheidung getroffen (sog. Wiederaufgreifen im weiteren
Sinne). Diese Möglichkeit findet ihre Rechtsgrundlage in § 51 Abs. 5 VwVfG
i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG. Insoweit besteht ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie
Entscheidung (BVerwG, Urteile vom 24.02.2011 - 2 C 50.09 -, NvWZ 2011, 888,
und vom 27.01.1994 - 2 C 12.92-, BVerwGE 95, 86).
Bei einem Wiederaufgreifen des Verfahrens ist die Behörde nicht auf die starre
Alternative der Rücknahme ex tunc, d. h. von Anfang an, oder ex nunc, d. h. nur
für die Zukunft ab Wirksamkeit der Rücknahme, beschränkt, sondern kann jeden
Zeitpunkt zwischen den genannten Möglichkeiten des Erlasses und der
Rücknahme festlegen oder auch einen späteren Termin bestimmen. Welcher
Zeitpunkt bestimmt wird, ist eine Ermessensentscheidung.
Da die Entscheidung, ab welchem Zeitpunkt der
Versorgungsfestsetzungsbescheid vom 30.01.2001 zu Gunsten der Klägerin
korrigiert wird, im Ermessen der Beklagten steht, kann eine Pflicht zur Änderung
des Bescheids bereits ab dem 01.01.2008 sowie zur Nachzahlung von
Versorgungsbezügen nur bei einer Ermessensreduzierung auf Null bestehen.
Eine Ermessensreduzierung auf Null liegt nicht deshalb vor, weil sich die
Beklagte in ihrer Ermessenspraxis dahingehend gebunden hat,
Versorgungsfestsetzungsbescheide, die wegen der Berücksichtigung eines
Versorgungsabschlags wegen Teilzeitbeschäftigung rechtswidrig sind,
regelmäßig rückwirkend mit Beginn des Jahres 2008, in dem das
Bundesverfassungsgericht die Vorschrift für nichtig erklärt hat, zu ändern. Der
Vertreter der Beklagten hat in der mündlichen Verhandlung erläutert, dass die
Beklagte ihre Ermessenspraxis im Jahre 2010 umgestellt habe. Nachdem sie im
Dezember 2008 die Merkblätter an die Versorgungsempfänger versandt habe,
sei in den Jahren 2008 und 2009 eine Vielzahl von Anträgen auf
Wiederaufgreifen gestellt worden. Diesen Anträgen sei mit Wirkung von der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an entsprochen worden. Seit
2010 habe sie auf Weisung des MF ihre Praxis umgestellt. Im Jahre 2010 sei die
Merkblattaktion auch schon etwa eineinhalb Jahre her gewesen, und es seien
kaum noch Anträge gekommen. Diese Fälle seien dann nur noch für die Zukunft
neu beschieden worden. Das gelte auch für die Fälle, die so gelagert seien wie
bei der Klägerin.
An der Richtigkeit dieser Darstellung hat das Gericht keinen Anlass zu zweifeln.
Gegenstand diverser verwaltungsgerichtlicher Verfahren war in der
Vergangenheit die Frage, ob ein Versorgungsempfänger, dessen
Versorgungsbezüge mit bestandkräftigem Versorgungsfestsetzungsbescheid
um einen Versorgungsabschlag wegen Teilzeitbeschäftigung gekürzt worden
sind, einen Anspruch auf Korrektur des Versorgungsbescheides und
Nachzahlung von Versorgungsbezügen für die Zeit ab seiner Antragstellung hat
oder ob sich die für die Versorgungsfestsetzung zuständige Behörde auch für
die Zeit ab Antragstellung auf die Bestandkraft des Versorgungsbescheids
berufen kann. Darum geht es hier nicht. Zwar mag in dem
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Widerspruchsschreiben der Klägerin vom 27.09.2011 ein entsprechender
Antrag auf Änderung des Versorgungsbescheides und Nachzahlung von
Versorgungsbezügen gesehen werden. Für die Zeit ab Antragstellung wird die
Klägerin aber an dem rechtswidrigen Versorgungsfestsetzungsbescheid gar
nicht festgehalten, weil dieser bereits mit Wirkung vom 01.08.2011 korrigiert
worden ist.
Eine Ermessensreduzierung dahingehend, dass der
Versorgungsfestsetzungsbescheid mit Wirkung vom 01.01.2008 geändert wird,
ergibt sich auch nicht aus dem Gebot der materiellen Gerechtigkeit. Der
Gesetzgeber räumt bei der Aufhebung bestandskräftiger belastender
Verwaltungsakte in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise weder
dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit noch der Rechtssicherheit als
Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips einen generellen Vorrang ein. Die
Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Bestandskraft von
Verwaltungsakten stehen vielmehr gleichberechtigt nebeneinander, so dass
grundsätzlich nur ein subjektiv-öffentliches Recht auf (fehlerfreie) Ausübung des
Rücknahmeermessens besteht. Mit Blick auf das Gebot der materiellen
Gerechtigkeit besteht jedoch ausnahmsweise dann ein Anspruch auf
Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsakts, wenn dessen
Aufrechterhaltung "schlechthin unerträglich" ist, was von den Umständen des
Einzelfalles und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte abhängt
(BVerwG, Urteil vom 24.02.2011 - 2 C 50.09 - juris Rz. 11 m. w. N., ständige
Rechtsprechung). Das Festhalten an einem solchen Verwaltungsakt ist immer
dann "schlechthin unerträglich", wenn die Behörde durch unterschiedliche
Ausübung der Rücknahmebefugnis in gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen
gegen den Gleichheitsgrundsatz verstößt (was hier - s.o. - nicht der Fall ist) oder
wenn Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die
Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder das Gebot von
Treu und Glauben erscheinen lassen. Darüber hinaus vermag die
offensichtliche Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts, die sich zum Zeitpunkt
des Erlasses beurteilt, die Annahme rechtfertigen, seine Aufrechterhaltung sei
schlechthin unerträglich (BVerwG, Urteil vom 20.03.2008 - 1 C 33.07 -, juris Rz.
12 ff.).
Von einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit des
Versorgungsfestsetzungsbescheids im Erlasszeitpunkt kann nichtgesprochen
werden. Zu unterscheiden ist insoweit eine offensichtlich fehlerhafte
Rechtsanwendung im Einzelfall und der Fall der Anwendung einer
verfassungswidrigen Rechtsgrundlage, an die die Verwaltung im Erlasszeitpunkt
gebunden war. Beide Fallgestaltungen liegen hier nicht vor. Weder ist dem
Rechtsvorgänger der Beklagten, dem Niedersächsischen Landesamt für
Bezüge und Versorgung, eine fehlerhafte Rechtsanwendung vorzuwerfen, noch
war zum Zeitpunkt des Erlasses des Versorgungsfestsetzungsbescheids die
Verfassungswidrigkeit der Norm offensichtlich. Aufgrund der bis zum 31.12.
1991 geltenden Fassung des §14 BeamtVG wurden die Ruhegehälter der
betroffenen Beamten für Teilzeit- und Beurlaubungszeiten nicht nur im Verhältnis
von Teilzeit zur Vollzeit, sondern überproportional gekürzt. Im Wege der
Vergleichsberechnungen, die für Beamtinnen und Beamte nach der Regelung
des § 85 Abs. 1 BeamtVG vorzunehmen war, traf der Versorgungsabschlag
auch die Klägerin. Mit Urteil vom 25.05.2005 (2 C 6/04, juris), das sich auf ein
vorhergehendes Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 23.10.2003 (C-4/02
und C-5/02) stützt, hatte das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass für
Zeiten einer Teilzeitbeschäftigung oder Beurlaubung, die nach dem 17.05.1990
liegen, das Ruhegehalt ohne den Versorgungsabschlag zu bestimmen ist.
Darüber hinausgehend hat das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom
18.06.2008 (2 BvL 6/07) entschieden, dass dieser so genannte
Versorgungsabschlag alten Rechts wegen mittelbarer Diskriminierung von
Beamtinnen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar und damit nichtig ist. Dies
macht deutlich, dass die Verfassungswidrigkeit der in Rede stehenden Vorschrift
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im Jahr 2001, bei Erlass des Versorgungsfestsetzungsbescheids, nicht
offensichtlich war, sondern sich dies erst durch die späteren höchstrichterlichen
Entscheidungen ergab.
Die Entscheidung der Beklagten, den Versorgungsfestsetzungsbescheid erst
mit Wirkung vom 01.08.2011 zu ändern, verstößt auch nicht gegen die guten
Sitten oder Treu und Glauben. Die Aufrechterhaltung des Bescheids bis zu dem
Zeitpunkt, als die Beklagte die Fehlerhaftigkeit des Versorgungsbescheides
erkannte, ist bereits deshalb nicht „schlechthin unerträglich“, weil die Klägerin mit
dem hinreichend deutlich abgefassten Merkblatt, das der Gehaltsmitteilung für
den Monat Dezember 2008 beigefügt war, darüber informiert worden ist, dass
nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18.06.2008 der
Versorgungsabschlag nach § 14 Abs. 1 Satz 1 BeamtVG in der bis zum
31.12.1991 geltenden Fassung nichtig ist und betroffene
Versorgungsempfänger beantragen können, dass ihre Versorgung rückwirkend
ab dem 18.06.2008 unter Nichtberücksichtigung des Versorgungsabschlags
neu festgesetzt wird. Es ist daher auch auf das Versäumnis der Klägerin, die
Informationen in dem Merkblatt zur Kenntnis zu nehmen und zu prüfen, ob sie
zu dem betroffenen Personenkreis gehört, zurückzuführen, dass die Korrektur
des Versorgungsbescheids nicht früher erfolgte. Außerdem geht es hier um
einen Nachzahlungsanspruch von unter 5.000 €; die Aufrechterhaltung des
Versorgungsfestsetzungsbescheids für die Zeit vor dem 01.08.2011 ist nicht mit
einer existenziellen Gefährdung der Klägerin oder mit unzumutbaren materiellen
Folgen verbunden, sie erscheint deshalb nicht „schlechthin unerträglich“.
Ein Anspruch der Klägerin auf Wiederaufgreifen des Verfahrens und Korrektur
des Versorgungsfestsetzungsbescheids unter Nichtberücksichtigung des
Versorgungsabschlags bereits ab des 01.01.2008 ergibt sich auch nicht im
Hinblick darauf, dass der Versorgungsabschlag alten Rechts gegen das
gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbots verstößt (vgl. EuGH, Urteil
vom 23.10.2003, C-4/02 und C 5/02; BVerwG, Urteil vom 25.05.2005 - 2 C 6/04,
juris). Das Gemeinschaftsrecht sieht verfahrensrechtliche Regelungen für ein
Wiederaufgreifen nicht vor. Die nationalen Behörden und Gerichte haben
entsprechende Rechtsstreitigkeiten daher grundsätzlich nach den Vorschriften
ihres eigenen Verfahrensrechts zu entscheiden. Daher verlangt das
Gemeinschaftsrecht auch nicht, dass eine Verwaltungsbehörde grundsätzlich
verpflichtet ist, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung
zurückzunehmen Dass infolgedessen materiell-rechtliche Unionsrechtsnormen
nicht in jedem Einzelfall realisiert werden können, wird als Folge der
Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten grundsätzlich hingenommen. Die
Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung trägt auch nach der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Rechtssicherheit bei.
Durch die Beachtung dieses Grundsatzes lasse sich verhindern, dass
Handlungen der Verwaltung, die Rechtswirkungen entfalten, unbegrenzt in
Frage gestellt werden können. Eine unbedingte Verpflichtung der Behörde zur
Rücknahme eines bestandskräftigen Bescheides kann sich auch für das
Gemeinschaftsrecht nur aus besonderen, zusätzlichen Gründen ergeben (OVG
Lüneburg, Urteil vom 29.08.2012, 10 LC 107/10 m.w.N., juris). Diese liegen hier
nicht vor.
b) Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Neubescheidung ihres Antrags
auf Wiederaufgreifen des Verfahrens. Der angefochtene Bescheid der
Beklagten vom 26.08.2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom
04.10.2011 ist nicht ermessensfehlerhaft. Der Widerspruchsbescheid lässt
erkennen, dass sich die Beklagte darüber im Klaren war, dass die Entscheidung
darüber, ob und ggf. ab welchem Zeitpunkt der rechtswidrige
Versorgungsfestsetzungsbescheid zu korrigieren und Versorgungsbezüge ohne
einen Versorgungsabschlag zu gewähren sind, in ihrem Ermessen liegt. Die
Beklagte hat bei ihrer Entscheidung auch die Umstände des Einzelfalls in den
Blick genommen und die einschlägigen Gesichtspunkte in nicht zu
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beanstandender Weise gewichtet. So hat sie erkannt, dass ein Festhalten an
dem rechtswidrigen Bescheid für die Zukunft, also nachdem die Behörde bei
einer Bearbeitung der Versorgungsakte der Klägerin auf den Fehler aufmerksam
geworden ist, für die Klägerin eine unzumutbare Härte bedeutet, was für den
davorliegenden Zeitraum aber bereits deshalb nicht der Fall ist, weil die Klägerin
durch das Merkblatt zur Gehaltsmitteilung für Dezember 2008 über den
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 18.06.2008 und die sich
daraus ergebenden Konsequenzen informiert worden ist. Der in dem
Widerspruchsbescheid angeführte Gesichtspunkt der „zeitnahen
Geltendmachung“ überzeugt allerdings nicht, weil es im Falle der Klägerin nicht
um aus Verfassungsrecht herzuleitende Ansprüche auf Alimentation geht, also
um eine Fallgestaltung, die dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts
vom 22.03.1990 - 2 BvL 1/86 -, auf den sich der Widerspruchsbescheid bezieht,
zugrunde lag. Dies führt jedoch nicht zur Ermessensfehlerhaftigkeit des
Widerspruchsbescheids, weil die Klageerwiderung und die Einlassungen des
Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung deutlich gemacht
haben, dass der Anspruch der Klägerin auf Wiederaufgreifen bereits ab dem
01.01.2008 aus jeweils selbständig tragenden Gründen abgelehnt worden ist
und die Beklagte ohnehin nur auf den „Grundgedanken“ der zeitnahen
Geltendmachung abstellt und damit zu erkennen gibt, dass auch sie diesen
Gesichtspunkt nicht für unmittelbar einschlägig hält.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über
die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708
Nr. 11 ZPO.