Urteil des VG Hannover vom 14.05.2014

VG Hannover: beihilfe, zahnarzt, schwellenwert, überschreitung, behandlung, vollstreckung, niedersachsen, funktionsanalyse, pauschal, ausnahmecharakter

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Beihilfe, Schwellenwertüberschreitung und
funktionsanalytische Maßnahmen
VG Hannover 13. Kammer, Urteil vom 14.05.2014, 13 A 8004/13
§ 5 Abs 2 GOZ, § 9 Abs 5 BhV ND
Tenor
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger eine Beihilfe zur Gebührenziffer
2210 in der hier streitigen Rechnung vom 10.06.2013 auch insoweit zu
gewähren, wie das berechnete Honorar den Schwellenwert überschreitet. Der
Bescheid vom 01.08.2013 und der Widerspruchsbescheid vom 18.11.2013
werden aufgehoben, soweit sie dieser Verpflichtung entgegenstehen. Im
Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens zu 6/10, die Beklagte zu 4/10.
Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige
Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in
Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die
Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 %
des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand
Der Kläger begehrt eine weitere Beihilfe zu seiner Zahnarztrechnung, auch
insoweit, als der Zahnarzt bei der Honorarberechnung den Schwellenwert
überschritten und eine klinische Funktionsanalyse berechnet hat.
Bei dem Kläger handelt es sich um einen Beamten des Landes
Niedersachsen mit einem Beihilfebemessungssatz von 70 v. H.
Der Kläger war in der Zeit vom 09. April bis 06. Juni 2013 in zahnärztlicher
Behandlung. Sein Zahnarzt berechnete ihn dafür mit Rechnung vom
10.06.2013 unter anderem:
Datum Zahn GOZ Beschreibung
Faktor Anzahl Betrag
23.05.13 26 8000 klinische Funktionsanalyse
einschl. Dokumentation
1 1 28,12
8010 Registrieren der
gelenkbezüglichen
Zentrallage des Unterkiefers,
auch Stützstiftregistrierung, je
Registrat
2,30 1 23,28
8020 Arbiträre
Scharnierachsenbestimmung
2,30 1 38,81
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8080 Diagnostische Maßnahmen 2,30 1 32,34
30.05.13 26 2210 Versorgung eines Zahnes
durch eine Vollkrone
(Hohlkehl- oder
Stufenpräparation)
überdurchschnittlicher
Zeitaufwand u.
Schwierigkeitsgrad, da weit
subgingiv. Präparation,
Einfassung des sichtbaren
oberen palt. Wurzelbereichs
3,00 1 283,12
In einer Ergänzung vom 22.08.2013 führte der Zahnarzt aus:
„ Präparation Zahn 26: Präparation einer zirkulären Stufe zur Aufnahme einer
Keramikkrone. Dabei wurde aufgrund eines Defektes in der palatinalen Wurzel
diese mit in die Präparation einbezogen. Aufgrund des naheliegenden
Wurzelkanals ist dies ein zeitaufwändiger und schwieriger Vorgang, da nicht
zuviel und dennoch ausreichend Substanz abgetragen werden muss.“
Der Kläger beantragte hierfür eine Beihilfe. Mit Bescheid vom 01.08.2013
bewilligte ihm die Beklagte Beihilfen zu verschiedenen seiner Aufwendungen,
lehnte aber eine Beihilfe hinsichtlich der funktionsanalytischen und
funktionstherapeutischen Maßnahmen ab. Auch soweit der Schwellenwert bei
der GOZ-Ziff. 2210 überschritten wurde, versagte die Beklagte eine Beihilfe.
Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und reichte einen „Klinischen
Funktionsstatus mit Beiblatt (Bl. 16 und 17 Beiakte A) ein. Mit
Widerspruchsbescheid vom 18.11.2013, zugestellt am 22.11.2013, wies die
Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück.
Der Kläger hat am 11.12.2013 Klage erhoben.
Er trägt vor: der Zahnarzt habe die Schwellenwertüberschreitung hinreichend
und nachvollziehbar begründet. Daraus ergebe sich ein überdurchschnittlicher
Aufwand. Auch bestehe ein Anspruch auf Beihilfe für die erbrachten
funktionsanalytischen und funktionstherapeutischen Leistungen, wie sich aus
dem klinischen Funktionsstatus ergebe.
Mit Schriftsatz vom 15.04.2014 übersandte der Kläger eine weitere
Stellungnahme seines Zahnarztes vom 27.03.2014. Wegen der näheren
Einzelheiten wird auf Bl. 36 der Gerichtsakte Bezug genommen.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des
Beihilfefestsetzungsbescheides vom 1. August 2013 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 18. November 2013 zu verpflichten,
ihm, dem Kläger auf seinen Beihilfeantrag vom 26. Juli 2013 eine
weitere Beihilfe in Höhe von € 112,34 nebst Zinsen in Höhe von fünf
Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu
gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie tritt der Klage entgegen.
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Alle Beteiligten haben sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung und
mit einer Entscheidung des Berichterstatters anstelle der Kammer
einverstanden erklärt.
Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und
der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Im Einverständnis der Beteiligten ergeht die Entscheidung gemäß § 87a Abs. 2
und 3 VwGO durch den Berichterstatter und nach § 101 Abs. 2 VwGO
weiterhin ohne mündliche Verhandlung.
Die zulässige Klage ist zum Teil begründet. Der Kläger hat zwar keinen
Anspruch auf eine weitergehende Beihilfe hinsichtlich der GOZ-Ziffern 8010,
8020 und 8080 (funktionsanalytische und funktionstherapeutische
Maßnahmen), wohl aber auf eine Beihilfe hinsichtlich der GOZ-Ziff. 2210 auch
insoweit, als hier der Schwellenwert überschritten wurde.
Gemäß § 9 Abs. 5 NBhVO sind Aufwendungen für ambulante
funktionsanalytische und ambulante funktionstherapeutische Leistungen nur
bei Vorliegen einer der folgenden Indikationen oder Maßnahmen beihilfefähig:
1. Kiefergelenk- oder Muskelerkrankung,
2. Zahnfleischerkrankung, die eine systematische Parodontalbehandlung
erfordert,
3. Behandlung mit Aufbissbehelfen mit adjustierten Oberflächen nach den
Nummern 7010 und 7020 des Gebührenverzeichnisses der Gebührenordnung
für Zahnärzte,
4. umfangreiche kieferorthopädische Maßnahme einschließlich
kieferorthopädisch-kieferchirurgischer Operation und
5. umfangreiche Gebisssanierung.
Nach dem vorgelegten „Beiblatt zum Klinischen Funktionsstatus“ hat der
Zahnarzt beim Kläger aber als Grund der funktionsanalytischen Maßnahme
lediglich „ungleichmäßige Belastungsverhältnisse in Zusammenhang mit
Zahn-/Kieferfehlstellung“ angegeben. Die Voraussetzungen des § 9 Abs. 5
NBhVO liegen nach alledem nicht vor.
Der Kläger hat allerdings einen Anspruch auf eine Beihilfe hinsichtlich der
GOZ-Ziff. 2210, soweit der Zahnarzt mehr als das 2,3fache des einfachen
Gebührensatzes berechnet hat.
Nach der Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts in
Lüneburg (vgl. Urt. vom 13.11.2012 - 5 LC 222/11 -), der das Gericht folgt, folgt
aus der Auslegung des ärztlichen Gebührenrechts durch die Zivilgerichte für
die Abrechnung der Ärzte nach dem 2,3-fachen Schwellenwert (vgl. BGH,
Urteil vom 8. November 2007 - III ZR 54/07 -, BGHZ 174, 101 und juris), dass
der Arzt den Schwellenwert des 2,3-fachen Gebührenwertes dann
überschreiten kann, wenn er überdurchschnittliche Schwierigkeiten, einen
überdurchschnittlichen Zeitaufwand der Leistungen oder überdurchschnittlich
schwierige Umstände der Ausführung schriftlich begründet (vgl. Nds. OVG,
Urteil vom 5.4.2011 - a. a. O -). Im Hinblick darauf trifft die von der Beklagten
vertretene Auffassung nicht zu, dass Behandlungen, die überdurchschnittlich
aufwändig oder schwierig, aber eben noch nicht durch ungewöhnliche
Besonderheiten gekennzeichnet seien, zwar die volle Ausschöpfung des
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Schwellenwertes von 2,3 Gebühren rechtfertigten, nicht aber seine
Überschreitung.
Allerdings muss die Begründung überdurchschnittlicher Schwierigkeiten
gleichwohl die in § 5 Abs. 2 Satz 4 letzter Halbsatz GOZ a. F. genannten
Besonderheiten der in Satz 1 genannten Bemessungskriterien aufzeigen. Die
Überschreitung des 2,3-fachen Gebührensatzes setzt danach voraus, dass
Besonderheiten gerade bei der Behandlung des betreffenden Patienten,
abweichend von der großen Mehrzahl der Behandlungsfälle, aufgetreten sind.
Dem Ausnahmecharakter des Überschreitens des Schwellenwertes
widerspräche es, wenn schon eine vom Arzt allgemein oder häufig, jedenfalls
nicht nur bei einzelnen Patienten wegen in ihrer Person liegender
Schwierigkeiten, angewandte Verfahrensweise bei der Ausführung einer im
Gebührenverzeichnis beschriebenen Leistung als eine das Überschreiten des
Schwellenwertes rechtfertigende Besonderheit angesehen würde (vgl. Nds.
OVG, Urteil vom 5.4.2011 - a. a. O., Rn. 30 -). Das folgt aus dem Verhältnis der
"in der Regel" einzuhaltenden Spanne zwischen dem einfachen Gebührensatz
und dem Schwellenwert einerseits zu einer zulässigen Überschreitung dieses
Wertes wegen Besonderheiten der Bemessungskriterien andererseits (§ 5
Abs. 2 Satz 4 GOZ) sowie aus der Anordnung einer schriftlichen Begründung
des Überschreitens des Schwellenwertes, die auf Verlangen näher zu
erläutern ist (§ 10 Abs. 3 Sätze 1 und 2 GOZ). Für eine nähere Erläuterung ist
sinnvoll nur Raum, wenn Besonderheiten gerade des vorliegenden Einzelfalles
darzustellen sind; könnte schon eine bestimmte, vom Einzelfall unabhängige
Art der Ausführung der im Gebührenverzeichnis beschriebenen Leistung das
Überschreiten des Schwellenwertes rechtfertigen, so wäre dies mit einem
kurzen Hinweis auf die angewandte Ausführungsart abschließend dargelegt
(vgl. BVerwG, Urteil vom 17.2.1994 - BVerwG 2 C 10.92 -, BVerwGE 95, 117,
juris Rn. 21; Urteil vom 30.5.1996 - BVerwG 2 C 10.95 -, juris Rn. 24; Nds.
OVG, Beschluss vom 12.8.2009 - 5 LA 368/08 -, juris; Urteil vom 5.4.2011, a.
a. O., sowie OVG, Urt. v. 13.11.2012, a.a.O.).
Nach dem Zweck der Pflicht zur schriftlichen Begründung, dem Patienten eine
lediglich grobe Handhabe zur Einschätzung der Berechtigung des geltend
gemachten Gebühren-anspruchs zu geben, sind allerdings keine
überzogenen Anforderungen an eine ausreichende Begründung zu stellen
(vgl. Nds. OVG, Urteil vom 5.4.2011, a. a. O., Rn. 31). Die Begründung muss
jedoch das Vorliegen solcher Umstände nachvollziehbar machen, die nach
dem materiellen Gebührenrecht eine Überschreitung des Schwellenwertes
rechtfertigen können (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 12.8.2009, a. a. O. unter
Hinweis auf OVG Münster, Beschluss vom 20.10.2004 - 6 A 215/02 -, juris Rn.
12; VGH Mannheim, Urteil vom 7.6.1994 - 4 S 1666/91 -, juris Rn. 28). Einer
ausführlichen ärztlichen Stellungnahme, deren Anfertigung möglicherweise
mehr Zeit in Anspruch nimmt als die abzurechnende Behandlung, bedarf es
dabei nicht. In der Regel wird es genügen, stichwortartig das Vorliegen von
Umständen, die das Überschreiten des Schwellenwertes rechtfertigen können,
nachvollziehbar zu machen (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 12.8.2009, a. a.
O.; VGH Mannheim, Urteil vom 7.6.1994, a. a. O., Rn. 28). O., Rn. 28).
Nach diesen und den von dem Bundesgerichtshof entwickelten Maßstäben ist
die in der Rechnung vom 10.06.2013 ursprünglich alleinige Begründung zwar
nicht geeignet, überdurchschnittliche Schwierigkeiten und damit eine
Überschreitung des 2,3-fachen Schwellenwertes zu begründen. Dass die
Präparation für die Einlagefüllung die Gingivagrenze erreicht oder auch
darunter liegt, ist nicht außer-gewöhnlich. In aller Regel liegt - worauf die
Beklagte zutreffend hingewiesen hat - der Kronenrand unterhalb des
Zahnfleisches. Denn die Zahnkrone soll weitgehend in den Boden der
Zahnfleischtasche gelegt werden. „Weit subgingival“ beschreibt die Lage der
zu präparierenden Stelle hingegen nur pauschal und lässt ohne nähere
Ausführungen nicht erkennen, ob die Präparation hier so tief unter
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Gingivaniveau erfolgt ist, dass daraus überdurchschnittliche Schwierigkeiten
erwachsen sind (vgl. zu diesen Fragen auch OVG, Urt. 13.11.2012, a.a.O. und
Nds. OVG, Beschluss vom 14.12.2010 - 5 LA 237/10 -, juris Rn. 19). Denn der
Begriff „weit“ ist insoweit nicht besonders aussagekräftig.
Allerdings hat der Zahnarzt des Klägers unter dem 27.03.2014 seine bisherige
Begründung ergänzt. Zusammen mit der zuvor schon gegebenen Begründung
lassen sich in diesem Fall nunmehr patientenbezogene Besonderheiten
feststellen, die über dem Durchschnitt liegen und damit auch ein Überschreiten
des Schwellenwertes rechtfertigen. Nach der unbestrittenen Darstellung des
Zahnarztes war der klägerische Zahn 26 bereits mit einer weit unter das
Zahnfleisch reichenden Goldkrone versorgt. Auf der palatinalen Seite war die
Zahnwurzel danach aufgrund einer Gingivalrezession schon sichtbar und
oberflächlich abgetragen, so dass sie bei der Neuversorgung mit einbezogen
werden musste. Es ist nachvollziehbar, dass die eine erhöhte Aufmerksamkeit
und einen erhöhten Zeitaufwand für den Zahnarzt bedeutet, zumal im Fall des
Klägers des Zahnnervs nur einen Millimeter entfernt war. Diese Begründung
lässt eine Überschreitung des Schwellenwertes und den Ansatz eines Faktors
von 3,0 zu. Das berechnete Honorar ist insoweit nach alledem noch
angemessen.
Gründe für die Zulassung der Berufung gem. §§ 124a Abs. 1, 124 Abs. 2 Nr. 3
und 4 VwGO sind nicht ersichtlich.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über
die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §
708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.