Urteil des VG Göttingen vom 19.04.2013

VG Göttingen: geringstmöglicher eingriff, aufschiebende wirkung, verfügung, vollziehung, genehmigung, gemeingebrauch, campingplatz, baurecht, schwimmen, besucher

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--- kein Dokumenttitel vorhanden ---
Der Betrieb von Ruder- Tret- und Elektrobooten auf einem an einem
genehmigten Campingplatz gelegenen See ist keine bauliche Anlage im Sinne
von § 2 Abs. 1 Nr. 13 NBauO.
VG Göttingen 2. Kammer, Beschluss vom 19.04.2013, 2 B 265/13
§ 2 Abs 1 S 2 Nr 13 BauO ND, § 79 Abs 1 S 2 Nr 5 BauO ND
Gründe
Der Antrag des Antragstellers,
die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 6. Februar 2013
gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 9. Januar 2013
wiederherzustellen, hilfsweise die sofortige Vollziehung aufzuheben,
hat mit dem Hauptantrag Erfolg.
Die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Abwägung zwischen
dem Interesse des Antragstellers, einstweilen vom Vollzug der Verfügung des
Antragsgegners vom 9. Januar 2013 verschont zu bleiben, und dem vom
Antragsgegner vertretenen öffentlichen Interesse an der sofortigen
Vollziehbarkeit dieses Bescheides, geht zu Lasten des Antragsgegners aus.
Denn die angefochtene Verfügung, mit der der Antragsgegner dem Antragsteller
die Nutzung des Bootsbetriebs auf dem E. F. mit sofortiger Wirkung untersagt
hatte, erweist sich bei der in diesem Verfahren gebotenen summarischen
Rechtmäßigkeitsprüfung als rechtswidrig.
Zunächst einmal genügt die mit Bescheid vom 9. Januar 2013 vorgenommene
Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht den gesetzlichen Anforderungen
des § 80 Abs. 3 VwGO. Danach muss die Behörde, wenn sie die sofortige
Vollziehung einer Verfügung anordnet, das besondere Interesse an der
sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes schriftlich begründen. Dieses
besondere Vollzugsinteresse geht über dasjenige hinaus, dass den Erlass eines
Verwaltungsaktes rechtfertigt. Zwar ist nicht in allen Fällen ein über den
Gesetzeszweck hinaus gehendes zusätzliches Vollzugsinteresse erforderlich
und wird es vor allem dort zu bejahen sein, wo gegen angemaßte
Rechtspositionen, wie ungenehmigte Nutzungen, vorgegangen wird; jedoch
muss die Behörde die betroffenen öffentlichen und privaten Interessen, bezogen
auf den konkreten Fall, gegeneinander abwägen. Dies hat der Antragsgegner
nicht in ausreichendem Maße getan. Vielmehr hat er, ausgehend von seiner
Annahme, der Antragsteller nutze den E. F. für seinen Bootsbetrieb formell
illegal, losgelöst von diesem Einzelfall ausgeführt, warum es nicht im öffentlichen
Interesse liege, rechtswidrig erlangte Positionen bis zum Abschluss eines
möglichen Rechtsbehelfsverfahrens zu belassen. Diese formelhafte
Begründung genügt hier nicht. Denn der Antragsgegner lässt eine
Auseinandersetzung mit seiner eigenen, im Verlaufe des Verwaltungsverfahrens
gegenüber der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers kundgetanen
Rechtsauffassung vermissen.
Im Jahre 2011 hatte der Antragsteller sowohl persönlich wie auch durch seine
Prozessbevollmächtigte beim Antragsgegner nachgefragt, ob für die
verschiedenen, von ihm am E. F. durchgeführten Unternehmungen, unter
anderem den Bootsbetrieb, eine Genehmigung erforderlich sei oder eine solche
vorliege. Dabei hatte die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers mit
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Schriftsatz vom 24. Juni 2011 darauf hingewiesen, dass der Antragsteller acht
Tret-, zwei Ruder- und sechs Elektroboote betreibe. Daraufhin hatte der
Antragsgegner dem Antragsteller mit Schriftsatz vom 14. April 2011 u.a.
mitgeteilt, der Bootsbetrieb auf dem E. F. sei durch eine
Gemeingebrauchsregelung im Niedersächsischen Wassergesetz abgedeckt.
Mit Schreiben vom 8. Juni 2011 führte der Antragsgegner gegenüber dem
Antragsteller aus, seinem Schreiben vom 14. April 2011 sei nichts hinzuzufügen.
Es mache deutlich, dass öffentlich-rechtlich einem Bade- und Bootsbetrieb
nichts entgegenstehe. Dieser werde im Übrigen seit Jahren ausgeübt.
Schließlich führt der Antragsgegner mit Schriftsatz vom 8. Juli 2011 an die
Prozessbevollmächtigte des Antragstellers aus, mit ihrer Anfrage vom 24. Juni
2011 wiederhole sie das Verhalten ihres Mandanten, klare und
unmissverständliche Aussagen von Seiten des Sachbearbeiters des
Antragsgegners anzuzweifeln. Es gebe jedoch keine Zweifelsfragen, es gebe
vielmehr vom Antragsgegner die klare Aussage, dass der seit Jahrzehnten
ausgeübte Bade- und Bootsbetrieb zulässig sei. Nutzungen, die bereits seit
Jahrhunderten auf derartigen kleinen Binnengewässern üblich seien, als da
seien Schwimmen und Bootsfahren, seien keine den Denkmalwert schädigende
Nutzung, wenn sie ohne bauliche Eingriffe in die Teich- bzw. Teichufersubstanz
durchgeführt würden. Erst nachdem die Prozessbevollmächtigte des
Antragstellers versuchte, diese Auskünfte des Antragsgegners im vor der
Kammer anhängig gewesenen Verfahren 2 A 366/12 wegen der beabsichtigten
Errichtung einer Wasserskibahn auf dem E. F. nutzbar zu machen, ist der
Antragsgegner von seiner bisherigen unzweideutigen Rechtsauffassung
abgerückt und hat sich dabei allein auf die Aussagen der
Prozessbevollmächtigten des Antragstellers gestützt, dass sich sowohl das
Ausmaß als auch die Art der Nutzung gegenüber der ursprünglichen Nutzung
geändert hätten. Der Antragsgegner deutete allerdings mit Schriftsatz vom
24. Oktober 2012 an, eine Duldung des Bootsbetriebs in Erwägung zu ziehen,
wenn der Antragsteller Art und Weise sowie Umfang des Bootsbetriebes mit
Unterlagen darlege, die Bauantragsqualität besäßen.
In Anbetracht dieser Verfahrensvorgeschichte hätte der Antragsgegner deutlich
machen müssen, warum es im besonderen öffentlichen Interesse ist, nicht nur
eine Nutzungsuntersagung auszusprechen, sondern diese auch mit der
Anordnung mit der sofortigen Vollziehung zu versehen. Das Verhalten des
Antragsgegners ist nicht widerspruchsfrei.
Auch in der Sache spricht Überwiegendes dafür, dass die vom Antragsgegner
mit Bescheid vom 9. Januar 2013 ausgesprochene Untersagung der Nutzung
des Bootsbetriebs auf dem E. F. in G. H. nicht rechtmäßig ist.
Als Rechtsgrundlage für die Verfügung kommt allein § 79 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5
NBauO vom 3. April 2012 (Nds. GVBl. S. 46) in Betracht; das vom
Antragsgegner für seine Verfügung herangezogene alte, aber inhaltsgleiche
Recht findet keine Anwendung mehr. Nach dieser Vorschrift kann die
Bauaufsichtsbehörde, wenn bauliche Anlagen, Grundstücke, Bauprodukte oder
Baumaßnahmen dem öffentlichen Baurecht widersprechen oder dies zu
besorgen ist, nach pflichtgemäßem Ermessen die Maßnahmen anordnen, die
zur Herstellung oder Sicherung rechtmäßiger Zustände erforderlich sind,
insbesondere die Benutzung baulicher Anlagen untersagen. Als in aller Regel
geringstmöglicher Eingriff, der keinerlei Substanzverlust zur Folge hat, ist eine
Nutzungsuntersagung regelmäßig gerechtfertigt, wenn die Nutzung einer
baulichen Anlage ohne die erforderliche Genehmigung aufgenommen oder
fortgesetzt wird, denn vor Erteilung der Baugenehmigung darf gemäß § 72 Abs.
1 Satz 1 NBauO mit der Baumaßnahme nicht einmal begonnen werden (Große-
Suchsdorf/Lindorf/Schmaltz/Wiechert, Nds. Bauordnung, 8. Auflage, § 89 Rn.
27).
Die Nutzungsuntersagung ist voraussichtlich aus mehreren Gründen
rechtswidrig.
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Zunächst einmal ist dies so, weil zumindest der gewerbliche Betrieb von
Ruderbooten, auf den sich die Untersagungsverfügung auch erstreckt,
bestandsgeschützt und vom Gemeingebrauch nach § 32 Nds. Wassergesetz
gedeckt ist (vgl. Reffken/Elsner, NWG, § 32 Rn. 15). Insoweit liegt eine
Änderung der Nutzung, wie sie circa seit 1910 auf dem E. F. besteht, nicht vor.
Hinsichtlich der Elektroboote ergibt sich, soweit nicht schon gestatteter
Gemeingebrauch i.S.d. § 32 Abs. 2 NWG vorliegt, nur aus § 100 Abs. 1 S. 2
WHG eine gesetzliche Befugnis der unteren Wasserbehörde zum Einschreiten
(vgl. Reffken/Elsner, a.a.O., § 32 Rn. 21). Auf diesen Teil des Bootsbetriebes
hätte sich die Untersagungsverfügung daher nicht erstrecken dürfen.
Ohne dass die Kammer dies entscheiden müsste, spricht auch hinsichtlich der
Tretbootbetriebs viel dafür, dass er bestandsgeschützt und vom
Gemeingebrauch erfasst ist. Die Beantwortung dieser Frage würde
voraussetzen festzustellen, ob die Boote bereits vor 1964, dem Inkrafttreten der
NBauO, auf dem E. F. in Betrieb waren. Aus den nachfolgenden Gründen kann
diese Frage unbeantwortet bleiben.
Die Kammer teilt die Rechtsauffassung des Antragstellers nicht, der
Bootsbetrieb des Antragstellers sei baurechtlich formell illegal. Bei dem
Bootsbetrieb handelt es sich nicht um eine Baumaßnahme im Sinne von §§ 2
Abs. 13, 59 Abs. 1 NBauO, die einer Genehmigung durch die
Bauaufsichtsbehörde (Baugenehmigung) bedürfte. Baumaßnahme ist gemäß
§ 2 Abs. 13 NBauO die Errichtung, die Änderung, der Abbruch, die Beseitigung,
die Nutzungsänderung oder die Instandhaltung einer baulichen Anlage oder
eines Teiles einer baulichen Anlage. Voraussichtlich zu Unrecht stützt der
Antragsgegner seine Rechtsauffassung darauf, bei dem Bootsbetrieb handele
es sich um eine bauliche Anlage im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 13 NBauO.
Danach sind bauliche Anlagen auch sonstige Anlagen, die einen Zu- und
Abgangsverkehr mit Kraftfahrzeugen erwarten lassen. Um eine solche Anlage
handelt es sich hier nach Auffassung der Kammer aus zwei Gründen nicht.
Auch in den Fällen der Nummer 13 muss es sich um eine „Anlage“ handeln; es
muss von Menschen etwas Ortsfestes geschaffen oder eingerichtet worden sein
(Große-Suchsdorf u.a., a.a.O. § 2 Rn. 32). Daran, dass etwas Ortsfestes
geschaffen wird, fehlt es bei einem Bootsbetrieb. Die Boote schwimmen
naturgemäß auf dem Wasser und sind beim Betrieb, allein um dessen
Untersagung geht es in der Verfügung vom 9. Januar 2013, nicht ortsgebunden.
Folglich handelt es sich beim Bootsbetrieb auf dem E. F. nicht um eine Anlage
im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 13 NBauO.
Selbst wenn es sich um eine Anlage im dargestellten Sinne handeln würde,
ließe der Bootsbetrieb des Antragstellers einen Zu- und Abgangsverkehr mit
Kraftfahrzeugen nicht erwarten. Die Aufnahme sonstiger Anlagen in § 2 Abs. 1
Satz 2 Nr. 13 NBauO findet ihre sachliche Rechtfertigung darin, dass auch die
Auswirkungen auf den Verkehr dem Baurecht unterfallen können. Dies ist
insbesondere hinsichtlich der notwendigen Einstellplätze nach § 47 Abs. 1
NBauO der Fall. Für bauliche Anlagen, die einen Zu- und Abgangsverkehr mit
Kraftfahrzeugen erwarten lassen, müssen Einstellplätze in solcher Anzahl und
Größe zur Verfügung stehen, dass sie die vorhandenen oder zu erwartenden
Kraftfahrzeuge der ständigen Benutzerinnen und Benutzer und der
Besucherinnen und Besucher der Anlagen aufnehmen können. Insoweit ist die
Kammer davon überzeugt, dass der Bootsbetrieb keinen zusätzlichen Zu- und
Abgangsverkehr hervorruft. Zu- und Abgangsverkehr erfolgt am E. F. durch den
vom Antragsteller betriebenen Campingplatz und die auf dem von ihm
gepachteten Gelände befindliche Badestelle. Camping- und Badegäste sind die
Nutzer der vom Antragsteller vorgehaltenen Boote; sowohl Campingplatz wie
Badestelle sind baurechtlich genehmigt bzw. bestandsgeschützt. Die Kammer
vermag nicht zu erkennen, dass ein besonderer Zu- und Abgangsverkehr allein
wegen der Ruder-Tret- und Elektroboote erfolgen wird. Abgesehen davon ist
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aufgrund des auf dem Grundstück des Antragstellers durchgeführten Termins
zur mündlichen Verhandlung am 27. September 2012 im Verfahren 2 A 366/12
gerichtsbekannt, an dem auch Mitarbeiter des Antragsgegners teilgenommen
haben, dass der Antragsteller eine erhebliche Anzahl von Stellplätzen auf
seinem Gelände vorhält und die Voraussetzungen des § 47 Abs. 1 NBauO ohne
weiteres erfüllt sind.
Schließlich erkennt die Kammer in der angegriffenen Entscheidung des
Antragsgegners einen Ermessensfehler. Denn eine Nutzungsuntersagung ist
dann ermessensfehlerhaft sein, wenn die Bauaufsichtsbehörde zuvor ein
Vertrauen des Bauherrn dahin geweckt hat, dass die Nutzung erfolgen darf oder
wenn diese seit längerer Zeit geduldet worden ist. Beides ist hier der Fall.
Über Jahrzehnte ist der Antragsgegner gegen den Bootsbetrieb des
Antragstellers nicht eingeschritten; ob dies allein deshalb geschah, weil der
Antragsgegner keine Kenntnis von diesem Freizeitbetrieb hatte, darf in
Anbetracht der touristischen Bedeutung des E. F. es auch und gerade für die
Harzbewohner bezweifelt werden, muss aber auch nicht aufgeklärt werden.
Denn der Antragsgegner hat dem Antragsteller unter dem 14. April, dem 8. Juni
und dem 8. Juli 2011 die unmissverständliche Auskunft erteilt, der seit
Jahrzehnten ausgeübte Bade- und Bootsbetrieb sei zulässig. Dies geschah
jedenfalls nach dem anwaltlichen Schriftsatz vom 24. Juni 2011 in voller
Kenntnis der tatsächlichen Umstände des Bootsbetriebes und seines Umfangs.
Einen anderen Umfang, der Anlass zum Tätigwerden der Bauaufsicht hätte sein
können, hat der Antragsteller auch nicht im Verfahren 2 A 366/12 behauptet.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung zur Streitwertfestsetzung stützt sich auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2 in
Verbindung mit 52 Abs. 2 GKG. Den für das Hauptsacheverfahren als
angemessen angesehenen Auffangstreitwert halbiert die Kammer in Anbetracht
der Vorläufigkeit der begehrten Regelung.