Urteil des VG Göttingen vom 10.09.2013

VG Göttingen: russische föderation, bundesamt, bewaffneter konflikt, organisierte kriminalität, wohl des kindes, schwiegervater, republik, alleinerziehende mutter, persönliche anhörung

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Asylfolgeverfahren - Russische Föderation
1. Es bestehen keine belastbaren Anhaltspunkte für die Annahme eines
innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in der Republik Dagestan.
2. Russische Staatsangehörige dagestanischer Herkunft haben in den
Gebieten außerhalb Dagestans eine zumutbare inländische
Fluchtalternative. Dies gilt in der Regel auch für alleinerziehende Mütter mit
minderjährigen Kindern.
3. Einen abgesenkten Beurteilungsmaßstab für das Vorliegen von
Abschiebungsverboten rechtfertigen die Regelungen der UN
Kinderrechtskonvention nicht.
VG Göttingen 2. Kammer, Urteil vom 10.09.2013, 2 A 192/11
§ 71 Abs 1 AsylVfG, § 60 Abs 7 S 1 AufenthG, § 60 Abs 7 S 2 AufenthG, Art 15c
EGRL 83/2004, Art 3 Abs 1 UNKRÜbk, § 51 VwVfG
Tatbestand
Die am xxx in J. (Republik Dagestan) geborene Klägerin zu 1) ist russische
Staatsangehörige awarischer Volkszugehörigkeit und islamischer
Religionszugehörigkeit. Sie ist verheiratet mit Herrn C. E. - dem Kläger im
Verfahren 2 A 213/11 -, von dem sie seit November 2012 jedoch getrennt lebt.
Aus der Ehe sind drei Kinder hervorgegangen: der am xxx in J. (Republik
Dagestan) geborene Kläger zu 2) und die am xxx in K. geborene Klägerin zu
3) sowie die am xxx in K. geborene Klägerin im Verfahren 2 A 227/11. Die
Klägerin zu 3) und die Klägerin im Verfahren 2 A 227/11 leben derzeit getrennt
von ihrem Vater bei der Klägerin zu 1), der Kläger zu 2) bei seinem Vater.
Die Kläger zu 1) und 2) reisten erstmals am 3. Juli 2002 mit dem Kläger im
Verfahren 2 A 213/11 unter Verwendung der Alias-Personalien A. L. (bzgl. der
Klägerin zu 1) in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragten am 9.
Juli 2002 ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Im Rahmen ihrer persönlichen
Anhörung am 11. Juli 2002 durch das damalige Bundesamt für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlingen gab die Klägerin zu 1) unter anderem
an, sie sei ohne Reisepass und Visum mit ihrer Familie mittels eines LKW auf
dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland eingereist; die Reise habe
vom 28. bzw. 30. Juni bis zur Ankunft in Hamburg am 4. Juli 2002 gedauert. Ihr
russischer Inlandspass sei 1999 bei einer Bombardierung verbrannt. Zu ihren
damaligen Familienverhältnissen erklärte sie, ihre Mutter sei verstorben, nur ihr
Vater lebe noch und sie habe eine Schwester. Zur Begründung ihres
Asylbegehrens trug die Klägerin zu 1) damals im Wesentlichen vor, der Bruder
ihres Ehemannes sei als Mitglied der Wahabiten von der russischen Miliz
gesucht worden. Hieraus seien Anfang 2002 Probleme für ihre Familie
entstanden, weil die Miliz auch etwas von ihrem Ehemann gewollt habe. Die
Miliz habe u.a. ihr Haus durchsucht, sie dabei geschlagen und ihr mit
Gefängnis gedroht, sofern sie ihren Schwager verstecken oder Informationen
über dessen Aufenthalt nicht preisgeben würde. Ihr Ehemann sei schließlich
am 10. Mai 2002 festgenommen und für drei Tage in Haft gehalten worden; er
sei durch ihren Schwiegervater freigekauft worden. Wegen der weiteren
Einzelheiten des damaligen Vorbringens der Klägerin zu 1) wird auf die
Niederschrift über ihre Anhörung durch das Bundesamt vom 11. Juli 2002
(Blatt 44 ff. Beiakte B) verwiesen.
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Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 19. August 2002 den Asylantrag der
Kläger zu 1) und 2) sowie des Klägers im Verfahren 2 A 213/11 ab und stellte
zugleich fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des
Ausländergesetzes und Abschiebungshindernisse nach § 53 des
Ausländergesetzes nicht vorlägen. Die Kläger zu 1) und 2) wurden
aufgefordert, aus der Bundesrepublik binnen eines Monats freiwillig
auszureisen, andernfalls drohe ihnen die Abschiebung in die Russische
Föderation. Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, die
Kläger zu 1) und 2) hätten kein asylerhebliches Verfolgungsschicksal
vorgebracht, vielmehr sei von familieninternen Problemen auszugehen. Die
geschilderten Lösegelderpressungen der föderalen Kräfte seien als kriminelles
Unrecht einzustufen, gegen dass der russische Staat Schutz gewähre.
Die hiergegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht Oldenburg mit
Urteil vom 18. Mai 2004 - 1 A 3734/02 - ab. Zur Begründung führte das Gericht
im Wesentlichen aus, dass Vorbringen der Klägerin zu 1) und ihres
Ehemannes weise zahlreiche Widersprüche auf, sei recht vage und wenig
detailliert. Insbesondere sei das geltend gemachte Verfolgungsschicksal nicht
glaubhaft. Wegen der weiteren Einzelheiten der Entscheidungsgründe wird auf
das bezeichnete Urteil des VG Oldenburg (Blatt 90 ff. Beiakte B) verwiesen.
Der hiergegen gestellte Antrag auf Zulassung der Berufung wurde durch
Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 22. Juni
2004 - 13 LA 288/04 - verworfen.
Bereits zuvor stellten die Klägerin zu 1) und ihr Ehemann unter dem 22.
Dezember 2003 für die zwischenzeitlich geborene Klägerin zu 3) einen Antrag
auf Familienasyl. Diesen Antrag lehnte das damalige Bundesamt für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mit Bescheid vom 8. Januar 2004
unter Hinweis auf das von ihren Eltern geführte erfolglose Asylverfahren ab
und stellte zugleich fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des AuslG
und Abschiebungshindernisse nach § 53 des AuslG nicht vorlägen. Der
Klägerin zu 3) wurde ebenfalls die Abschiebung in die Russische Föderation
angedroht. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird auf den Bescheid
des Bundesamtes (Bl. 9 ff. Beiakte L) verwiesen; dieser Bescheid ist seit dem
27. Januar 2004 bestandskräftig.
Im Februar 2005 offenbarten die Kläger gegenüber der zuständigen
Ausländerbehörde - Landkreis K. - durch Vorlage von im Januar 2002 in
Dagestan ausgestellten russischen Inlandspässen und weiteren
Identitätsdokumenten (vgl. dazu Blatt 68 ff. Beiakte I) ihre wahre Identität und
die ihrer übrigen Familienangehörigen. Den darin befindlichen Eintragungen
zufolge wurde der Klägerin zu 1) unter anderem am 4. März 2002 ein
Reisepass der Russischen Föderation ausgestellt. Die Kläger und ihr
Ehemann bzw. Vater verließen ausweislich in der Ausländerakte befindlicher
Grenzübertrittsbescheinigungen am 14. August 2005 freiwillig das
Bundesgebiet.
Mit anwaltlichem Schreiben vom 11. August 2009 suchte die Klägerin zu 1)
gegenüber dem Bundesamt um die Durchführung eines weiteren
Asylverfahrens nach. Darin gab sie u.a. an, am 10. August 2009 erneut in das
Bundesgebiet eingereist zu sein. Einen förmlichen Asylfolgeantrag stellten die
Kläger am 17. August 2009 beim Bundesamt. Seit dem 22. September 2009
werden die Kläger von der zuständigen Ausländerbehörde - Landkreis K. -
fortlaufend geduldet.
Zur Begründung ihres Asylfolgeantrages führten die Kläger schriftlich aus, sie
seien 2005 in ihre Heimat zurückgekehrt. Im Frühsommer 2009 hätten sie
Besuch von russischen Sicherheitskräften bekommen, die sie - die Kläger -
bedrohten, um verschiedene Auskünfte von der Klägerin zu 1) zu erlangen. Da
diese dem Auskunftsbegehren habe nicht nachkommen können, sei sie von
den Sicherheitskräften geschlagen und geschubst worden; teilweise seien ihr
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die Kleider vom Leib gerissen worden. Sie sei durch einen Schlag bewusstlos
geworden; an die darauffolgenden Misshandlungen könne sie sich deshalb
nicht erinnern. Der Kläger zu 2) habe diese Misshandlungen miterleben
müssen; seither sei er traumatisiert. Nach den Misshandlungen sei die
Klägerin zu 1) im Krankenhaus stationär behandelt worden; hierüber existiere
ein ärztlicher Bericht existieren. Aufgrund von Drohungen habe sie ihre
Strafanzeige später zurückgezogen. Sie seien nach Entlassung der Klägerin
zu 1) aus dem Krankenhaus bei Freunden in Dagestan untergetaucht und
schließlich 6 bzw. 7 Tage vor ihrem schriftlichen Asylgesuch auf dem
Landweg, versteckt auf einem Lkw, nach Deutschland (Berlin) geflohen. Von
dieser Fahrt hätten sie keine Kenntnis, da sie sich die ganze Zeit in dem Lkw
aufgehalten hätten.
Im Rahmen der persönlichen Anhörung der Klägerin zu 1) durch das
Bundesamt am 18. November 2009 ergänzte diese ihr Vorbringen wie folgt:
Sie besitze keine Pässe oder sonstige Personalpapiere; diese seien allesamt
1999 verbrannt. Sie habe nach ihrer Rückkehr nach Dagestan dort keine
Personalpapiere gebraucht. Sie und ihr Ehemann hätten selbst gearbeitet und
keine Sozialleistungen in Anspruch genommen. Die für ihre Rückreise im
Jahre 2005 verwendeten Dokumente habe ihr Schwiegervater besorgt. Dabei
habe es sich um gefälschte Dokumente gehandelt. Zu ihrer zweiten Einreise in
das Bundesgebiet ergänzte sie, sie und ihre beiden ältesten Kinder seien zwei
Tage mit einem dagestanischen Kamas gefahren und dann an einem
unbekannten Ort in einen anderen Lkw umgestiegen. Ihr Schwiegervater habe
diese Reise für sie organisiert und finanziert. Zur Reiseroute könne sie
keinerlei Angaben machen, da es sowohl bei Abreise in Dagestan als auch
beim Umsteigen jeweils dunkel gewesen sei. Sie und ihre Kinder seien in der
Nacht vom 5. zum 6. August in Dagestan aufgebrochen und seien am Morgen
des 10. August 2009 in Deutschland angekommen. Zu ihren persönlichen und
Familienverhältnissen befragt, gab die Klägerin zu 1) u.a. an, in ihrem
Heimatland lebten ihr Vater und ihre Mutter, ihre Schwiegereltern, der Bruder
ihres Ehemannes sowie Cousins und Cousinen. Sie habe bis zur 9. Klasse die
Schule absolviert, danach eine Ausbildung an einer medizinischen
Berufsschule begonnen, diese jedoch nach 1 ½ Jahren abgebrochen. Sie
habe seither keinen anderen Beruf erlernt und sei auch nicht berufstätig
gewesen. Sie habe aber in der heimischen Landwirtschaft gearbeitet. Zu ihrem
Verfolgungsschicksal seit 2005 befragt, gab die Klägerin zu 1) gegenüber dem
Bundesamt im Wesentlichen an, vier Tage nach ihrer Rückkehr nach
Dagestan im Jahre 2005 sei ihr Ehemann von der russischen Miliz
festgenommen und verschleppt worden; dafür sei ihr Schwager freigelassen
worden. Ihr Ehemann sei ungefähr drei Monate in der Gewalt der Miliz
verblieben. Anschließend sei er freigelassen worden, dennoch sei er immer
nur nachts nach Hause zurückgekehrt. Ihr Ehemann sei des Öfteren in Haft
gewesen, weil er keine Papiere besessen habe. Er sei 2006 von ihrem
Schwiegervater deshalb erneut weggeschickt worden und habe sich zeitweilig
in Deutschland aufgehalten. Die Miliz sei daraufhin zu ihr - der Klägerin zu 1) -
nach Hause gekommen und habe ihr Haus durchsucht. Ihr Ehemann sei auf
ihre Bitten im Frühjahr 2007 nach Dagestan zurückgekehrt. Seit 2007 sei ihr
Ehemann noch einmal im Frühjahr 2008 von der russischen Miliz verhaftet
worden. Er habe sich seit 2007 häufig nicht bei seiner Familie aufgehalten.
Daneben habe es weitere Probleme mit ihrem Schwager gegeben, der unter
anderem versucht habe, den Kläger zu 2) für die Wahabiten anzuwerben. Zu
dem Geschehen im Mai 2009 erläuterte die Klägerin zu 1) gegenüber dem
Bundesamt, ihr Nachbar, Angehöriger der Miliz, sei am Abend des 16. Mai
2009 zu ihr ins Haus gekommen und habe nach dem Aufenthalt ihres
Ehemannes gefragt. Sie sei von ihrem Nachbarn gegen die Wand gedrückt
und geschlagen worden, bis sie in Ohnmacht gefallen sei. Sie habe einen
Schlag erhalten und daraufhin mit dem Kopf gegen die Wand geknallt. Als sie
wieder zu sich gekommen sei, habe sie auf dem Boden gelegen. Sie habe ihn
gebeten, sie in Ruhe zu lassen. Daraufhin sei sie ins Gesicht geschlagen
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worden. Der Nachbar habe sie vergewaltigt, ihre Kinder hätten hiervon nichts
mitbekommen; der Kläger zu 2) habe mit Kopfhörern Musik gehört und die
Klägerin zu 3) habe geschlafen. Der Kläger zu 2) habe sie auf dem Boden
liegend und ihren Nachbarn darüber kniend gesehen. Er sei daraufhin aus
dem Haus gerannt und habe andere Nachbarn zu Hilfe geholt, die sie - die
Klägerin zu 1) - ins Krankenhaus gebracht hätten. Ihr Nachbar habe sie später
im Krankenhaus bedroht; sie habe daraufhin die Identifizierung des Nachbarn
als Täter verhindert. Die Gerichtsmedizin sei automatisch zu ihr ins
Krankenhaus gekommen und habe über die von ihr erlittenen Verletzungen
ein entsprechendes Attest ausgestellt.
Mit anwaltlichem Schreiben vom 27. Januar 2010 legte die Klägerin zu 1) dem
Bundesamt ein als gerichtsmedizinisches Gutachten Nr. 100 des
Gesundheitsministeriums Dagestan, gerichtsmedizinischer Gutachter
Mugsirow I.T., bezeichnetes Schreiben vom 18. Mai 2009 vor. Wegen des
Inhalts des russischen Originals wird auf die Ablichtung (Blatt 81 f. Beiakte A),
wegen der Übersetzung ins Deutsche auf Blatt 74 f. Beiakte A verwiesen. Die
hierzu vom Bundesamt eingeholte Auskunft der Deutschen Botschaft in
Moskau vom 22. April 2010 ergab unter anderem, dass das vorgelegte
gerichtsmedizinische Gutachten mehrere Fälschungsmerkmale aufweise. Es
sei in dem vorgelegten Dokument nirgends vermerkt, um welche
gerichtsmedizinische Stelle es sich handele, welchem Gericht diese angehöre
und wo diese sich befinde; zudem würden in der russischen Föderation
gerichtsmedizinische Gutachten nicht auf Verlangen einer Privatperson erstellt.
In der russischen Föderation, speziell im Nordkaukasus, sei es möglich,
derartige Bescheinigungen von den zuständigen Stellen mit dem gewünschten
Inhalt käuflich zu erwerben. Wegen der weiteren Einzelheiten der Auskunft
wird auf Blatt 97 der Beiakte A verwiesen.
Daneben legte die Klägerin zu 1) dem Bundesamt zur Geltendmachung
gesundheitlicher Beeinträchtigungen, die ihrer Abschiebung entgegenstünden,
die ärztliche Bescheinigung der Dr. med. M. N. vom 16. Juli 2010 (Blatt 92
Beiakte A) vor, wonach sie an einer depressiven Entwicklung, Varikosis und
rez. Migräneanfällen leide. Ergänzend hierzu attestierte ihr das St. Vinzenz
Hospital in O. unter dem 29. April 2011 (Blatt 102 Beiakte A) eine schwere
depressive Symptomatik mit Antriebsminderung, Schlafstörungen, innere
Unruhe und Angstzustände.
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 28. Juni 2011, den Klägern am 25.
Juli 2011 zugestellt, lehnte das Bundesamt deren Anträge auf Durchführung
eines weiteren Asylverfahrens und auf Abänderung des nach altem Recht
ergangenen Bescheides vom 19. August 2002 bezüglich der Feststellungen
zu § 53 Abs. 1 bis 6 des AuslG ab. Zur Begründung führte das Bundesamt im
Wesentlichen aus, die Einlassungen der Klägerin zu 1) zu den angeblichen
Verhaftungen ihres Ehemannes und zu ihrem eigenen Verfolgungsschicksal
seien weder hinreichend detailliert und substantiiert, noch plausibel. Es
bestünden durchgreifende Zweifel, ob die Kläger und ihr Ehemann bzw. Vater
seit 2005 jemals in ihre Heimat zurückgekehrt seien oder aber bis August 2009
in der Europäischen Union in der Illegalität gelebt hätten. Gegen die
Glaubhaftigkeit des von der Klägerin zu 1) geschilderten
Verfolgungsschicksals sprächen zahlreiche gravierende Widersprüche und
Ungereimtheiten. Sie habe den Eindruck erweckt, sich in Bezug auf die
Verhaftungen ihres Ehemanns nicht in Widersprüche zu dessen Angaben
gegenüber dem Bundesamt zu verwickeln. Schließlich habe die eingeholte
Auskunft der Deutschen Botschaft in Moskau ergeben, dass das von der
Klägerin zu 1) vorgelegte gerichtsmedizinische Gutachten eine Fälschung sei.
Hiergegen könne nicht mit der Echtheit des daran angebrachten Stempels
argumentiert werden, denn es seien nach Auskunft der Deutschen Botschaft
russische Stellen, die derartige Atteste auf Wunsch gegen entsprechende
Zahlungen jederzeit ausstellten. Abschiebungshindernisse lägen nicht vor,
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insbesondere könne sich die Klägerin zu 1) hierfür nicht auf § 60 Abs. 7 Satz 1
AufenthG berufen. Eine Auskunft der Datenbank MedCOI vom 27. Juni 2011,
GZ: BMA-3477, habe ergeben, dass die von der Klägerin zur Behandlung ihrer
psychischen Erkrankung benötigten Medikamente allesamt in der russischen
Föderation verfügbar seien. In ihrer Heimat gebe es auch die erforderlichen
Fachärzte wie Psychiater und Neurologen. Therapien könnten beispielsweise
in Moskauer Krankenhäusern durchgeführt werden. Ohnehin sei bei der
Klägerin zu 1) eine Traumatisierung bislang nicht nachgewiesen; es drohe bei
ihrer Rückkehr in die Heimat somit auch keine Retraumatisierung. Wegen der
weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf den Bescheid des
Bundesamtes (Blatt 7 ff. Gerichtsakte) verwiesen.
Die Kläger haben dagegen am 8. August 2011 Klage erhoben und gleichzeitig
um die Gewährung vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes nachgesucht.
Die Kammer - Einzelrichter - hat mangels Vorlage der Verfahrensakte des
Bundesamtes, Az. 5073118-160, mit Beschluss vom 20. September 2011 - 2 B
193/11 - die aufschiebende Wirkung der Klage der Klägerin zu 3) in der
damaligen Annahme angeordnet, dass das Bundesamt ihr gegenüber bislang
noch keine Abschiebungsandrohung erlassen habe, und den Antrag der
Kläger zu 1) und 2) im Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt, diese
hätten die vom Bundesamt in dem angefochtenen Bescheid aufgezeigten
Zweifel an dem vorgetragenen Verfolgungsschicksal bislang nicht ausgeräumt.
Die Auskunft der Deutschen Botschaft vom 22. April 2010, wonach die
Klägerin zu 1) ein unechtes gerichtsmedizinisches Gutachten vorgelegt habe,
sei überzeugend. Die Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten in den
bisherigen Einlassungen der Klägerin zu 1) könnte nicht allein mit
Übersetzungsfehlern bzw. Verständigungsschwierigkeiten erklärt werden. Die
Kläger hätten jedenfalls keine individuellen Gesichtspunkte dargelegt, warum
ihnen eine zumutbare inländische Fluchtalternative außerhalb der Republik
Dagestans nicht zur Verfügung stehe. Die in Bezug auf die Klägerin zu 1)
attestierte PTBS veranlasse nicht zu weiterer Sachaufklärung, weil die von ihr
vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen die vom Bundesverwaltungsgericht
hierfür aufgestellten Mindestanforderungen nicht erfüllten. Wegen der weiteren
Einzelheiten der Begründung wird auf den Beschluss der Kammer (Bl. 69 ff.
Gerichtsakte) verwiesen.
Zur Begründung ihrer Klage wiederholen und vertiefen die Kläger im
Wesentlichen ihr Vorbringen gegenüber dem Bundesamt. Diesem seien im
Anhörungsprotokoll Übersetzungsfehler unterlaufen. Sie - die Klägerin zu 1) -
stelle klar, dass ihr durch ihren Nachbarn Schläge versetzt, ihr die Kleider vom
Leib gerissen und sie zu allerletzt von diesem vergewaltigt worden sei(en). Ob
ihre Bewusstlosigkeit durch die Schläge oder durch die Vergewaltigung
eingetreten sei, könne sie nicht mehr nachvollziehen. Durch ihre Schreie
aufgeweckt sei der Kläger zu 2) in die Räumlichkeit eingetreten, in der das
Verbrechen verübt worden sei. Er habe ihre Misshandlungen durch den
Nachbarn miterleben müssen. Durch ihre Schreie sei ein anderer Nachbar in
ihre Wohnung gekommen und habe sie in das Krankenhaus gebracht. Sie sei
sodann, wie bei Gewaltverbrechen in der Russischen Föderation üblich, durch
die Gerichtsmedizin untersucht worden. Aufgrund der Untersuchung habe die
Gerichtsmedizin das im Verfahren vor dem Bundesamt vorgelegte Gutachten
erstellt. Es handele sich bei dem vorgelegten Schriftstück nur um eine ärztliche
Bescheinigung, die aufgrund ihrer Bitte die medizinische Begutachtung
feststellen solle, und nicht um ein ärztliches Gutachten, welches im Falle eines
Ermittlungsverfahrens erstellt werde; deshalb fehlten auf der vorgelegten
Bescheinigung Merkmale wie die Angabe des zuständigen Gerichts. Die dem
Bundesamt vorgelegte ärztliche Bescheinigung sei über ihren Schwiegervater
in Auftrag gegeben worden. Der behandelnde Arzt habe das Attest
rückwirkend erstellt und deshalb auf den 18. Mai 2009 zurückdatiert. In ihrer
Auskunft sei die Deutsche Botschaft in Moskau nicht darauf eingegangen,
dass hinsichtlich des verwendeten Stempels keine Fälschungsmerkmale
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erkennbar seien. Die Aussage der Botschaft, ärztliche Bescheinigungen dieser
Art könnten käuflich erworben werden, sei nicht verallgemeinerungsfähig.
Jedenfalls habe sie - die Klägerin zu 1) - einen Anspruch auf Feststellung
eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Sie sei
wegen ihrer psychischen Erkrankung vom 14. bis 30. Juli 2011 und vom 7. bis
21. August 2012 in der psychiatrischen Abteilung des St. Vincenz-Hospitals in
O. stationär behandelt worden. Wegen der Einzelheiten der durchgeführten
Behandlung und der gestellten Diagnose (PTBS) wird auf die vorgelegten
ärztlichen Atteste vom 10. August 2011 (Bl. 28 f. Gerichtsakte) und vom 11.
April 2013 (Bl. 94 f. Gerichtsakte) Bezug genommen. Aus dem weiterhin
vorgelegten ärztlichen Attest des St. Vincenz-Hospitals O. vom 20. August
2013 ergebe sich, dass sie sich dort seit Oktober 2010 wegen einer PTBS in
regelmäßiger ambulanter Behandlung befinde; wegen der Einzelheiten wird
auf Bl. 135 f. der Gerichtsakte verwiesen. Eine adäquate Behandlung ihrer
Erkrankung sei in der Russischen Föderation nicht gewährleistet. In der Praxis
würden derart aufwendige Behandlungen erst nach privaten Zahlungen
gegenüber dem medizinischen Personal durchgeführt. Solche Zahlungen
könne sie wegen Mittellosigkeit nicht leisten. Der Zugang zum kostenfreien
Gesundheitssystem erfordere eine Registrierung bei den Behörden, die ihnen
mangels Nachweises von Wohnraum sowie aufgrund ihrer kaukasischen
Herkunft nicht ermöglicht werde. Jedenfalls sei den minderjährigen Klägern zu
2) und 3) eine Rückkehr in ihre Heimat unter Berücksichtigung der UN-
Kinderrechtskonvention nicht zumutbar. Ihre Existenz sei aufgrund der
vollzogenen Trennung von Ehemann bzw. Vater nicht gesichert. Sie - die
Klägerin zu 1) - habe in Dagestan als Bezugsperson nur noch den eigenen 76-
jährigen Vater sowie die eigene 73-jährige Mutter; diese seien aufgrund ihres
Alters selbst hilfebedürftig. Weitere Familienangehörige, auf deren Hilfe sie
bauen könne, seien nicht vorhanden. Sie - die Kläger - müssten zudem damit
zu rechnen, dass ihr Ehemann bzw. Vater und dessen Familie Druck auf die
Klägerin zu 1) ausübten, die Trennung aufzugeben. Dann aber sei mit weiteren
Belästigungen und tätlichen Übergriffen des Ehemannes bzw. Vaters
gegenüber der Klägerin zu 1) zu rechnen. Ihr Ehemann habe gegenüber dem
Kläger zu 2) geäußert, er werde ihr die gemeinsamen Kinder wegnehmen und
nach Dagestan zurückkehren.
Die Kläger beantragen,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für
Migration und Flüchtlinge vom 28. Juni 2011 zu verpflichten
festzustellen, dass in ihrer Person die Voraussetzungen des § 60 Abs.
1 AufenthG erfüllt seien,
hilfsweise festzustellen,
dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG in
ihrer Person in Bezug auf die Russische Föderation vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verweist zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.
Wegen des weiteren Vortrags der Beteiligten wird auf die gewechselten
Schriftsätze, wegen des Sachverhalts im Übrigen auf die Gerichtsakte sowie
die beigezogenen Verwaltungsakten des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge (Beiakten A und B sowie F bis H), die beigezogenen
Ausländerakten des Landkreises K. (Beiakten C bis E und I bis N) und die
Sozialleistungsakte des Landkreises K. (Beiakte O) verwiesen, die vorgelegen
haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.
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Entscheidungsgründe
Die Kammer - Einzelrichter - konnte gem. § 102 Abs. 2 VwGO trotz
Ausbleibens eines Vertreters des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
in der mündlichen Verhandlung das vorliegende Verfahren verhandeln und
entscheiden, denn das Bundesamt ist ausweislich der Ladung vom 19. August
2013 hierauf ausdrücklich hingewiesen worden. Die Ladung ist dem
Bundesamt ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 20. August 2013
zugestellt worden.
Die zulässige Klage ist unbegründet, denn die Kläger haben keinen Anspruch
auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens mit dem Ziel der Zuerkennung
der Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylVfG, hilfsweise auf Wiederaufgreifen
des Verfahrens zur Feststellung eines subsidiären unionsrechtlichen oder
nationalen Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG bezüglich
des Zielstaates Russische Föderation und damit auf Abänderung der nach
altem Recht (§ 53 Abs. 1 bis 6 AuslG) ergangenen Bescheide des
Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 19. August
2002 und vom 8. Januar 2004. Der hier angefochtene Bescheid des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 28. Juni 2011 ist rechtmäßig
und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Der
im vorliegenden Verfahren maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der
Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides ist der Zeitpunkt der
gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG).
Nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist nach Stellung eines Folgeantrages ein
weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des
§ 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind
erfüllt, wenn sich die der ersten Sachentscheidung zugrundeliegende Sach-
und Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat (§ 51
Abs. 1 Nr. 1 VwVfG), wenn neue Beweismittel vorliegen, die eine dem
Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt hätten (Nr. 2) oder wenn
Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sind (Nr. 3).
Erforderlich ist weiter, dass der Betroffene nicht ohne grobes Verschulden
außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren
Verfahren geltend zu machen (§ 51 Abs. 2 VwVfG). Der Betroffene muss den
Antrag zudem binnen 3 Monaten seit Kenntniserlangung von dem Grund für
das Wiederaufgreifen stellen (§ 51 Abs. 3 VwVfG), sofern er nicht aus
besonderen Gründen daran gehindert gewesen ist.
Diese Voraussetzungen liegen hier bezüglich der in den Bescheiden des
Bundesamtes vom 19. August 2002 und 8. Januar 2004 getroffenen
(negativen) Feststellungen zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und
zum Vorliegen von Abschiebungsverboten bezüglich der Russischen
Föderation nicht vor. Das Bundesamt hat daneben ermessensfehlerfrei
entschieden, die bestandskräftige Entscheidung nicht nach § 51 Abs. 5 VwVfG
i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG aufzuheben und das Verfahren nicht
wiederaufzugreifen. Eine Ermessensreduzierung auf Null liegt nicht vor, die
Aufrechterhaltung der genannten Erstbescheide ist nicht schlechthin
unerträglich. Die Kläger haben weiterhin keinen Anspruch auf Zuerkennung
der Flüchtlingseigenschaft oder die Feststellung von Abschiebungsverboten
nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Weder besteht ein Anspruch der Kläger auf
subsidiären unionsrechtlichen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2, 3 oder 7
Satz 2 AufenthG noch ein Anspruch auf die Feststellung von nationalen
Abschiebungshindernissen gemäß § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG. Zur
Begründung wird auf die zutreffenden Ausführungen in dem angefochtenen
Bescheid des Bundesamtes vom 28. Juni 2011 Bezug genommen, denen die
Kammer folgt, § 77 Abs. 2 AsylVfG. Daneben nimmt die Kammer Bezug auf
ihre Ausführungen im Beschluss vom 20. September 2011 - 2 B 192/11 -, die
weiterhin Bestand haben. Ergänzend hierzu sind die folgenden Ausführungen
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veranlasst:
Die Kammer - Einzelrichter - hat aufgrund der durchgeführten mündlichen
Verhandlung den Eindruck gewonnen, dass auch die Klägerin zu 1) - ebenso
wie ihr Ehemann, der Kläger im Verfahren 2 A 213/11 - das vorliegende
Klageverfahren allein mit dem Bestreben führt, nunmehr alle Möglichkeiten und
Wege auszuschöpfen, um ihrem Asylbegehren in der Bundesrepublik
Deutschland im zweiten Anlauf zum Durchbruch zu verhelfen. Vor diesem
Hintergrund erklären sich die zahlreichen weiteren Widersprüche, die das
neuerliche Asylvorbringen der Klägerin zu 1) unter Berücksichtigung ihrer
Angaben in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer und ihrem
bisherigen Vorbringen im Asylerstverfahren aufweist. Exemplarisch greift die
Kammer hiervon die nachfolgenden Widersprüche zur Begründung ihrer
Auffassung auf, das Vorbringen der Klägerin zu 1) sei insgesamt unglaubhaft
(so schon das VG Oldenburg in seinem Urteil vom 18. Mai 2004 - 1 A 3734/02
-, UA S. 10 f.):
Bereits widersprüchlich sind die Angaben der Klägerin zu 1) zu ihren familiären
Verhältnissen. So hat sie im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung im
Asylfolgeverfahren am 18. November 2009 gegenüber dem Bundesamt
angegeben, außer ihren Eltern (Vater und Mutter) habe sie in ihrer Heimat
Dagestan nur ihre Schwiegereltern, ihren Schwager sowie Cousins und
Cousinen. Geschwister habe sie nicht. Diese Angaben zu ihren familiären
Verhältnissen hat die Klägerin zu 1) im gerichtlichen Verfahren (vgl. Schriftsatz
vom 12. August 2013) entsprechend wiederholt. Demgegenüber hat sie im
Rahmen ihrer persönlichen Anhörung im Asylerstverfahren am 11. Juli 2002
gegenüber dem Bundesamt angegeben, ihr Vater lebe noch, ihre Mutter sei
jedoch schon verstorben; Geschwister habe sie nicht. In der mündlichen
Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Oldenburg am 18. Mai 2004 hat der
Ehemann der Klägerin zu 1.) im Rahmen seiner persönlichen Befragung durch
den Einzelrichter zu den Modalitäten der Ersteinreise in das Bundesgebiet u.a.
erklärt, außer ihm - dem Kläger im Verfahren 2 A 213/11 -, seiner Ehefrau und
seinem Sohn - den Klägern zu 1) und 2) im vorliegenden Verfahren - sei auf
dem Lkw noch die Schwester der Klägerin zu 1) mit dabei gewesen, deren
Mann auch Wahabit sei und in Tschetschenien kämpfe (vgl. Seite 6 der
Niederschrift, Bl. 98 R Beiakte B). Dass die Einlassung der Klägerin zu 1), sie
habe keine Geschwister, unzutreffend ist, bestätigen die Feststellungen der
Polizeiinspektion K. vom 6. Februar 2003 im Rahmen einer Mitteilung an die
Ausländerbehörde des Landkreises K. über ein seinerzeit u.a. gegen die
Klägerin zu 1) eingeleitetes Ermittlungsverfahren. Danach ist die Klägerin zu 1)
im Rahmen eines vermeintlichen Diebstahls in einem Einkaufsmarkt in
Begleitung ihrer Schwester, Frau P. L., angetroffen worden (vgl. Bl. 35 Beiakte
I). Auf Vorhalt der unterschiedlichen Angaben zu ihren familiären Verhältnissen
erklärte die Klägerin zu 1) in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer, sie
bleibe weiterhin bei ihrer Einlassung, keine Geschwister zu haben. Sie
bestreite insbesondere, mit ihrer Schwester im Jahre 2002 in das
Bundesgebiet eingereist zu sein. Die in der vorgehaltenen polizeilichen
Mitteilung angesprochene Person, Frau P. L., sei lediglich ihre Schwester im
Glauben. Diesen Erklärungsversuch hält die erkennende Kammer allerdings
für untauglich, die aufgezeigten Widersprüche nachvollziehbar aufzulösen.
In Widersprüche hat sich die Klägerin zu 1) auch in Bezug auf weitere, ihren
bisherigen persönlichen Werdegang betreffende Angaben verwickelt. So hat
sie im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung im Asylerstverfahren am 11. Juli
2002 gegenüber dem Bundesamt u.a. erklärt, sie habe keinen Beruf erlernt, sie
sei Hausfrau gewesen. Zuvor habe sie acht Klassen der Mittelschule besucht.
Hiervon abweichend hat sie im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung im
Asylfolgeverfahren am 18. November 2009 gegenüber dem Bundesamt
erklärt, sie habe in ihrem Heimatdorf J. die Schule bis zur 9. Klasse absolviert.
Danach habe sie eine medizinische Berufsschule besucht, die dort begonnene
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Ausbildung aber nach 1 1/2 Jahren abgebrochen. Sie sei nach Abbruch der
Berufsschule nicht berufstätig gewesen und habe keinen anderen Beruf
erlernt. Sie habe jedoch in der heimischen Landwirtschaft gearbeitet. Auf diese
Weise hat sich die Klägerin zu 1) auch in der mündlichen Verhandlung vor der
erkennenden Kammer eingelassen. Dort hat sie erklärt, eine Ausbildung zur
Krankenschwester begonnen, jedoch nach sieben Monaten abgebrochen zu
haben, weil seinerzeit die Heirat ihres Ehemannes angestanden habe. Wenn
die Klägerin zu 1) den Beruf einer Krankenschwester indes nicht erlernt haben
will, dann muss ihre in der Ausländerakte des Landkreises K. (Bl. 23 Beiakte I)
dokumentierte Angabe „Beruf Krankenschwester“ im Rahmen ihrer Anmeldung
des Klägers zu 2) für den Kinderhof Q. unrichtig sein. Ein Grund für falsche
Angaben in diesem Zusammenhang ist jedoch nicht ersichtlich. Allerdings
steht dadurch fest, dass die Klägerin zu 1) in Bezug auf ihren Beruf entweder
gegenüber dem Bundesamt und der erkennenden Kammer oder aber
gegenüber der Ausländerbehörde und dem Sozialleistungsträger falsche
Angaben gemacht hat. Der Eindruck der Kammer, dass es die Klägerin mit
ihrer gesetzlichen Verpflichtung zu vollständigen und wahrheitsgemäßen
Angaben gegenüber dem Bundesamt (§ 15 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 AsylVfG),
dem erkennenden Gericht (§ 173 VwGO i.V.m. § 138 Abs. 1 ZPO) und der
zuständigen Ausländerbehörde (§ 82 Abs. 1 AufenthG) nicht so genau nimmt,
wird hierdurch jedenfalls verstärkt.
Wie bereits im Verfahren des Ehemannes der Klägerin zu 1) - 2 A 213/11 -
ausgeführt, muss sich auch die Klägerin zu 1) für den Zeitraum seit 2002
zudem erheblich widersprüchliche Angaben zum Vorhandensein von Reise-
und Inlandspässen sowie sonstigen Personalpapieren vorhalten lassen. Im
Rahmen ihrer persönlichen Anhörung im Asylerstverfahren am 11. Juli 2002
erklärte sie hierzu, sie habe seit 1999 keinen Pass mehr. Ihr Pass - gemeint ist
ihr Inlandspass - sei bei den Bombardierungen vernichtet worden. Diese
Geschichte korrespondiert mit den damaligen Angaben ihres Ehemannes.
Diese monotone und unsubstantiierte Einlassung hat die Klägerin zu 1) im
Rahmen ihrer persönlichen Anhörung im Asylfolgeverfahren am 18. November
2009 nahezu wortgleich wiederholt. Auf Vorhalt des Bundesamtes hat sie
ausdrücklich bestätigt, nach ihrer Rückkehr in ihre Heimat Dagestan im Jahre
2005 keine Personalpapiere für ihr tägliches Leben benötigt zu haben. Ihre
Familie habe keine Sozialleistungen in Anspruch genommen; sie und ihr
Ehemann hätten selbst gearbeitet. Auf die der Ausländerbehörde im Februar
2005 vorgelegten russischen Inlandspässe angesprochen erklärte die Klägerin
zu 1), diese Dokumente habe ihr Schwiegervater seinerzeit besorgt. Dabei
habe es sich nicht um ihre eigenen Inlandspässe, sondern um gefälschte
Dokumente gehandelt. Diese Dokumente hätten sie - die Eheleute - seinerzeit
bei der Ausländerbehörde vorgelegt, um finanzielle Mittel für die Rückreise zu
erlangen. In der mündlichen Verhandlung vor der erkennenden Kammer hat
sich die Klägerin zu 1) auf entsprechenden Vorhalt dahingehend eingelassen,
sie sei nur aufgrund der damaligen Angaben ihres Ehemannes davon
ausgegangen, dass es sich bei den im Jahre 2005 der Ausländerbehörde
vorgelegten Inlandspässen um gefälschte Dokumente gehandelt habe, die ihr
Schwiegervater besorgt und nach Deutschland geschickt habe. Weiter hat sie
schlicht behauptet, diese Inlandspässe seien von ihrem Ehemann nach ihrer
Rückkehr nach Dagestan vernichtet worden. Sie wisse indes nicht, wie und
wann dies geschehen sei. Diese Angaben widersprechen den Einlassungen
des Klägers im Verfahren 2 A 213/11. Dieser hat nicht behauptet, dass es sich
bei den im Jahre 2005 der Ausländerbehörde vorgelegten Inlandspässen um
Fälschungen gehandelt habe. Gegen die diesbezügliche Einlassung der
Klägerin zu 1) spricht, dass die in den vermeintlich gefälschten Inlandspässen
enthaltenen Angaben zur Identität der Kläger und ihres Ehemannes bzw.
Vaters offenbar korrekt, jedenfalls den russischen Stellen bekannt sind.
Andernfalls wäre dem Kläger im Verfahren 2 A 213/11 nach seiner Rückkehr
am 8. September 2005 in Dagestan kein russischer Führerschein mit
entsprechenden Personalien ausgestellt worden. Es kommt hinzu, dass der
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Ehemann der Klägerin zu 1) im Rahmen seiner mündlichen Verhandlung vor
der erkennenden Kammer erklärt hat, die 2005 zur Rückkehr verwendeten
Inlandspässe bereits unmittelbar hinter dem Grenzposten in St. Petersburg in
Einzelteile zerrissen und in den Müll geworfen zu haben. Für die Weiterreise
von St. Petersburg nach Dagestan habe er dem Schaffner im Zug Geld
gegeben, damit er und die Klägerin zu 1) sowie ihr gemeinsamer Sohn sich
nicht hätten ausweisen müssen. Hiervon habe die Klägerin zu 1) auch
gewusst. Diese weitere Unstimmigkeit im Vortrag der Klägerin zu 1) und ihres
Ehemannes verdeutlicht, dass beide hinsichtlich des Vorhandenseins und
Verbleibs von Personaldokumenten weder gegenüber dem Bundesamt und
der zuständigen Ausländerbehörde, noch gegenüber der erkennenden
Kammer wahre und vollständige Angaben tätigen. Es offenbart sich zugleich,
dass sich die Klägerin zu 1) und ihre Ehemann offenbar nur hinsichtlich ihres
früheren monotonen Vortrags, ihre Inlandspässe seien 1999 bei einer
Bombardierung verbrannt, abgestimmt haben. Eine Abstimmung über ihre
Einlassungen zu den im Jahre 2005 der Ausländerbehörde vorgelegten
Inlandspässen ist offenbar nicht erfolgt. Zudem widerspricht der Vortrag der
Klägerin zu 1) schon deshalb der russischen bzw. dagestanischen
Lebenswirklichkeit, weil sie gegenüber dem Bundesamt nicht in der Lage war,
nachvollziehbar zu erklären, wie sie nach ihrer Rückkehr im Jahre 2005 den
seinerzeit schulpflichtigen Kläger zu 2) ohne jegliche Identitätsdokumente zum
Schulbesuch hat anmelden können. Ihre diesbezügliche Einlassung, hierauf
habe man bei ihr im Dorf J. nicht geachtet, ist substanzlos und lebensfern.
Widersprüchlich und aufgrund der geographischen Verhältnisse nicht
nachvollziehbar sind alle bisherigen Angaben der Klägerin zu 1) zu Art und
Dauer ihrer beiden Einreisen in das Bundesgebiet, die jeweils über den
Landweg mittels Lastkraftwagen erfolgt sein sollen. Im Asylerstverfahren hat
sie sich insoweit auf die Angaben ihres Ehemannes berufen. Dieser hat
gegenüber dem Bundesamt angegeben, er sei mit seiner Familie am 25. Juni
2002 mit einem russischen LKW in Dagestan losgefahren, später in einen
anderen LKW umgestiegen und in Deutschland (Hamburg) dann am 4. Juli
2002 angekommen. Ähnlich monoton und oberflächlich waren die Angaben
der Klägerin zu 1) im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung durch das
Bundesamt am 18. November 2009. Damals berichtete die Klägerin zu 1), sie
und die Kläger zu 2) und 3) seien in der Nacht vom 5. zum 6. August 2009 in
Dagestan mit einem LKW vom Typ Kamas aufgebrochen, nach 2 Tagen an
einem unbekannten Ort in einen anderen LKW umgestiegen und schließlich
am 10. August 2009 in Deutschland angekommen. Wegen Dunkelheit hätte
sie von der Fahrt nichts mitbekommen. Die Einreise nach Deutschland auf
dem Landweg von der Russischen Föderation kommend ist jedoch nach
jedweder Betrachtungsweise mit mindestens 3 Grenzübertritten verbunden,
von denen die Einreise in das Gebiet der Europäischen Union an der
polnisch/ukrainischen bzw. polnischen/weißrussischen Grenze mit erheblichen
Formalitäten und Kontrollen des Güterverkehrs verbunden ist. Vor diesem
Hintergrund war die Klägerin zu 1) schlichtweg nicht in der Lage, Einzelheiten
ihrer bisherigen Einreisen in das Bundesgebiet, z.B. Aufenthalts- bzw.
Standzeiten an den genannten Grenzen, nachvollziehbar darzulegen. Die
Kammer ist zudem nicht in der Lage nachzuvollziehen, wie vor allem die
minderjährigen Kläger zu 2) und 3) angesichts der Witterungsverhältnisse im
August 2009 ohne Aufenthalte in einem LKW verbracht haben wollen und wie
sie während dieser Zeit ihren menschlichen Bedürfnissen nachgekommen
sein sollen, daran anknüpfend, warum eine solche menschenunwürdige
Einreise bei ihnen keine dauerhaften Eindrücke oder gar Ängste hinterlassen
haben, die die Kläger heute nicht mehr zu erinnern vermögen.
In die Reihe der aufgezeigten Wiedersprüche lassen sich schließlich auch die
Angaben der Klägerin zu 1) zu dem vermeintlichen Gewaltverbrechen ihres
Nachbarn und der darauffolgenden gerichtsmedizinischen Untersuchung
einordnen. Wie die Kammer bereits in ihrem das einstweilige
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Rechtsschutzbegehren der Kläger zu 1) und 2) ablehnenden Beschluss vom
20. September 2011 - 2 B 193/11 - dargelegt hat, wirft allein der Inhalt des im
Verfahren vor dem Bundesamt vorgelegten gerichtsmedizinischen Gutachtens
Nr. 100 vom 18. Mai 2009 weitere Fragen im Hinblick auf Richtigkeit der
Einlassung der Klägerin zu 1) auf. So hat die Klägerin zu 1) den Tag des
erlittenen Übergriffs gegenüber dem Bundesamt mit dem 16. Mai 2009
angegeben. Demgegenüber ergibt sich aus dem vorgelegten russischen
Gutachten der 17. Mai 2009 als Datum der Tat. Zudem wird in dem
gerichtsmedizinischen Gutachten Nr. 100 (vgl. Bl. 74 f. Beiakte A) ausgeführt,
die Untersuchte sei am 18. Mai 2009 zwecks Feststellung der
Körperverletzungen bei der gerichtsmedizinischen Ambulanz vorstellig
geworden. Demgegenüber hat sich die Klägerin zu 1) im Rahmen ihrer
persönlichen Anhörung am 18. November 2009 dahingehend eingelassen, sie
sei von der Gerichtsmedizin noch im Krankenhaus untersucht worden. Dieser
Prozess laufe automatisch ab, wenn ein Gewaltverbrechen die Ursache von
Verletzungen sei. Diese Version des Ablaufs hat die Klägerin zu 1) im
vorliegenden Klageverfahren im Wesentlichen bestätigt, ohne weiter darauf
einzugehen und die schon im Beschluss der Kammer vom 20. September
2011 aufgezeigten Widersprüche der im Gutachten enthaltenen Daten im
Vergleich zu ihren Beurkundungen aufzulösen.
Bei dieser Sachlage erspart sich die erkennende Kammer, die zahlreichen
Widersprüche im Vortrag der Klägerin zu 1) zum Ablauf ihrer vermeintlichen
Vergewaltigung durch einen Nachbarn im Einzelnen aufzugreifen; auf die im
Tatbestand dieses Urteils wiedergegebenen Feststellungen wird insoweit
verwiesen. Wegen fehlender Entscheidungserheblichkeit hat die erkennende
Kammer auch aus Fürsorgegründen von einem Vorhalt der verschiedenen
Versionen des Ablaufs der vermeintlichen Vergewaltigung im Rahmen einer
persönlichen Anhörung des noch minderjährigen Klägers zu 2) abgesehen.
Dem Kläger zu 2) diesbezüglich eine persönliche Anhörung zu ersparen,
dürfte auch im Interesse der Klägerin zu 1) gelegen haben, zumal diese auf die
schwierige psychische Verfassung des Klägers zu 2) hingewiesen hat.
Insgesamt kann daher den Klägern hinsichtlich des von ihnen geltend
gemachten individuellen Verfolgungsschicksals keinerlei Glauben geschenkt
werden.
Daneben können die vom Kläger im Verfahren 2 A 213/11 geltend gemachten
allgemeinen Aspekte zur Sicherheitslage in der Republik Dagestan der
vorliegenden Klage nicht zum Erfolg verhelfen. Die Kläger haben
insbesondere keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes
gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG in Verbindung mit Art. 15 c) der
Qualifikationsrichtlinie. Zwar lässt sich den vom Kläger im Verfahren 2 A
213/11 bezeichneten Erkenntnismitteln für die Republik Dagestan eine
Zunahme von Menschenrechtsverletzungen, etwa widerrechtliche
Inhaftierungen und Folter, durch die russischen Sicherheitskräfte einerseits
und eine ansteigende Zahl von terroristischen Anschlägen auf Personen
(insbesondere Polizisten und Regierungsvertreter) und Einrichtungen der
föderalen Kräfte andererseits entnehmen, unter denen auch die
Zivilbevölkerung zu leiden hat. Dies deckt sich mit den Erkenntnissen des
Auswärtigen Amtes im jüngsten Bericht über die asyl- und
abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 10. Juni
2013. Danach habe sich die Sicherheitslage in der multiethnischen Republik
Dagestan angesteckt durch die Konflikte in Tschetschenien in den letzten
Jahren deutlich verschlechtert und bleibe sehr angespannt. Islamischer
Extremismus, Auseinandersetzungen zwischen Ethnien und Clans, Korruption
und organisierte Kriminalität führten zu anhaltender Gewalt und Gegengewalt.
Die beinahe täglichen Anschläge von Rebellen richteten sich gezielt gegen
Sicherheits- und Verwaltungsstrukturen, politische Führungskader,
Polizeipatrouillen, Bahnlinien, Gas- und Stromleitungen und öffentliche
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Gebäude. Die Behörden reagierten darauf mit harter Repression. Laut NRO
„Kawkasi Usel“ seien 2012 in Dagestan mindestens 683 Opfer der Konflikte zu
beklagen, darunter 410 Tote. Nach dem Amtsantritt von Ramasan Abdulatipow
als Republikoberhaupt im Januar 2013 bleibe abzuwarten, ob dieser nicht
zuletzt mit Blick auf die olympischen Winterspiele im Februar 2014 eine
grundlegende Verbesserung der Lage in Dagestan herbeiführen könne.
Diese Lagebeschreibung rechtfertigt indes nicht die Annahme, es bestehe in
der gesamten Republik Dagestan ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt
i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG in Verbindung mit Art. 15 c) der
Qualifikationsrichtlinie. Das Bundesverwaltungsgericht hat zu diesem Begriff in
seinem Urteil vom 24. Juni 2008 - 10 C 43/07 -, BVerwGE 131, S. 198 ff., zit.
nach juris Rn. 22, ausgeführt, ein solcher Konflikt müsse jedenfalls ein
bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, um
völkerrechtlich als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt zu gelten. Typische
Beispiele seien Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe.
Davon abzugrenzen seien innere Unruhen und Spannungen wie Tumulte,
vereinzelt auftretende Gewalttaten und andere ähnliche Handlungen, die nicht
als bewaffnete Konflikte gelten würden. Auch kriminelle Gewalt könne keine
Berücksichtigung finden, wenn sie nicht von einer der Konfliktparteien
begangen werde (BVerwG, a.a.O., Rn. 24). Die vom Kläger im Verfahren 2 A
213/11 bezeichneten Erkenntnismittel lassen schon nicht erkennen, dass die
Auseinandersetzungen zwischen den föderalen Sicherheitskräften und
Rebellen wie etwa den Wahabiten seit geraumer Zeit mit beachtlicher Intensität
anhalten und allein zu den im Lagebericht genannten Opferzahlen geführt
haben. Vielmehr lässt sich dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes
entnehmen, dass die Ursachen der Gewaltexzesse und Konflikte in Dagestan
vielschichtig sind, darunter Auseinandersetzungen zwischen Ethnien und
Clans, Korruption und organisierte Kriminalität. Sie können damit nicht auf die
Auseinandersetzung zwischen Föderalen und islamischen Terroristen wie den
Wahabiten reduziert werden. Jedenfalls ermangelt es in Bezug auf die Person
der Kläger als Angehörige der Zivilbevölkerung Dagestans an einer
erheblichen individuellen Gefahr für Leib und Leben im Rahmen eines
innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Insbesondere die Anschläge der
Rebellen richten sich nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes auf
Angehörige der Sicherheitskräfte und Regierungsvertreter; dazu zählen die
Kläger nicht. Liegen in Bezug auf die Kläger keine solchen Gefahr erhöhenden
persönlichen Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher
Gewalt erforderlich (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. November 2011 - 10 C 13.10 -
, NVwZ 2012, S. 454 ff., zit. nach juris Rn. 19). Zudem müsste den Klägern bei
ihrer Rückkehr nach Dagestan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein
Schaden an den Rechtsgütern Leib und Leben drohen (BVerwG, a.a.O., Rn.
20). Beides ist hier weder ersichtlich noch von den Klägern ansatzweise
dargetan.
Hiervon unabhängig hat die Kammer bereits in ihrem Beschluss vom 12.
Oktober 2011 - 2 B 214/11 -, mit dem das einstweilige Rechtsschutzbegehren
des Ehemannes bzw. Vaters der Kläger abgelehnt wurde, zum Verweis auf
eine zumutbare inländische Fluchtalternative Folgendes ausgeführt:
„Zudem ist von dem Antragsteller auch nicht substantiiert dargelegt worden,
warum ihm nicht außerhalb der Region des Nord-Kaukasus in der Russischen
Föderation eine sichere Fluchtmöglichkeit zur Verfügung stehen sollte. Ihm
steht wie allen russischen Staatsbürgern das Recht der freien Wahl des
Wohnsitzes und des Aufenthaltes in der Russischen Föderation zu. Das
Gericht verkennt dabei nicht, dass es das Bestreben der Behörden in vielen
Gebieten der Russischen Föderation ist, den Zuzug von Personen aus dem
Kaukasus mittels restriktiver Verwaltungsvorschriften zu erschweren.
Allerdings sind diese Administrativmaßnahmen dem Bereich der vom
Bundesverwaltungsgericht (BVerwG, Urteil vom 01. Februar 2007 - 1 C 24/06 -
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, NVwZ 2007, 590) als Anfangsschwierigkeiten bezeichneten Hindernisse
zuzuordnen, deren Überwindung möglich und im Regelfall auch zumutbar ist
(vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 03. März 2009 - 3 B 16.08 -, zitiert
nach juris). Der Antragsteller hat keine individuellen Gesichtspunkte, die
gerade in seiner Person begründet sind und die es gerade für ihn unzumutbar
erscheinen lassen könnten, sich außerhalb Dagestans nieder zu lassen,
vorgetragen (vgl. zur grundsätzlich bestehenden inländischen Fluchtalternative
tschetschenischer Staatsangehöriger auch OVG Lüneburg, Beschluss vom
26. Februar 2009 - 13 LA 175/08 -, n.v.).“
Bei diesen Feststellungen verbleibt es auch für das vorliegende
Klageverfahren, zumal die Kläger diesbezüglich nichts weiter vorgetragen
haben, was eine andere Einschätzung der Lage rechtfertigen könnte.
Soweit die Kläger zu 2) und 3) ihr Klagebegehren zusätzlich auf das
Übereinkommen über die Rechte des Kindes - UN Kinderrechtskonvention
(KRK) vom 20. November 1989 (BGBl. 1992 II, S. 121, 990) stützen, das nach
Rücknahme der Vorbehaltserklärung durch die Bundesrepublik Deutschland
(BGBl. 2011 II, S. 600) nunmehr auch in Deutschland unmittelbar gilt,
rechtfertigt dies keinen anderen Befund. In der Rechtsprechung ist bereits
entschieden, dass die Maßstäbe für die Zuerkennung von
Abschiebungsverboten mit Blick auf die UN Kinderrechtskonvention nicht
abgesenkt werden müssen. Exemplarisch hat das VG München in seinem
Urteil vom 8. Mai 2013 - M 15 K 12.30877 -, zit. nach juris Rn. 57, Folgendes
ausgeführt:
„Denn Art. 3 Abs. 1 UN-Kinderrechtskonvention erfordert eben nur, dass das
Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt ist, der vorrangig berücksichtigt wird. Nach
dieser Bestimmung genießt das Kindeswohl aber keinen absoluten Vorrang
vor anderen Gesichtspunkten und steht damit auch einer Beendigung des
Aufenthalts im Bundesgebiet nicht generell und unter allen Umständen
entgegen. Gefordert wird lediglich in jedem Einzelfall eine Abwägung zwischen
den Belangen des Kindes und den öffentlichen Belangen (vgl. BVerwG, B.v.
10.2.2011 - 1 B 22/10 -, juris Rn. 4; OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 19.3.2012 -
3 B 21.11 -, juris Rn. 33; BayVGH, B.v. 8.7.2011 - 10 ZB 10.3028 -, NVwZ-RR
2012, 161; OVG Lüneburg, B.v. 29.3.2011 - 8 LB 121/08 -, juris Rn. 62 f.), die
im Rahmen des geltenden Asylrechts zu verwirklichen ist.“
Dieser Auffassung schließt sich die erkennende Kammer an und stellt klar,
dass keinerlei greifbare Anhaltspunkte vorliegen, die darauf schließen ließen,
dass das Kindeswohl der Kläger zu 2) und 3) in der Russischen Föderation
nicht zu verwirklichen wäre.
Individuelle Gründe für die Zuerkennung eines nationalen
Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zugunsten der
Klägerin zu 1) liegen schließlich nicht vor.
Bei der Frage, ob einem Ausländer wegen einer Erkrankung bei einer
Rückkehr in die Heimat eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben
im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG droht, ist der richtige
Gefahrenmaßstab anzuwenden. Nach den in der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Grundsätzen ist die Gefahr, dass
sich eine Erkrankung des Ausländers aufgrund der Verhältnisse im
Abschiebezielstaat verschlimmert, in der Regel als individuelle Gefahr
einzustufen, die am Maßstab von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter
Anwendung zu prüfen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 2006 - 1 C
18/05 -, BVerwGE 127, S. 33 ff., zit. nach juris Rn. 15). Eine „erhebliche
konkrete Gefahr“ im Falle einer zielstaatsbezogenen Verschlimmerung einer
Erkrankung ist daher gegeben, wenn sich der Gesundheitszustand alsbald
nach der Rückkehr in den Heimatstaat wegen der dortigen
Behandlungsmöglichkeiten wesentlich oder gar lebensbedrohlich
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verschlechtern würde. Gründe hierfür können nicht nur fehlende
Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat sein, sondern etwa auch, dass eine an
sich vorhandene medizinischen Behandlungsmöglichkeit aus finanziellen oder
sonstigen persönlichen Gründen rein tatsächlich nicht erlangt werden kann
(vgl. BVerwG, a.a.O., Rn. 20). Dementsprechend kann von einer
abschiebungsschutzrelevanten Verschlechterung des Gesundheitszustands
nicht schon dann gesprochen werden, wenn "lediglich" eine Heilung eines
Krankheitszustandes des Ausländers im Zielstaat nicht zu erwarten ist.
Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll dem Ausländer
nämlich nicht eine Heilung von Krankheit unter Einsatz des sozialen Netzes
der Bundesrepublik Deutschland sichern, sondern vor einer gravierenden
Beeinträchtigung seiner Rechtsgüter Leib und Leben bewahren. Eine
wesentliche Verschlimmerung des Gesundheitszustands ist dementsprechend
auch nicht schon bei einer befürchteten ungünstigen Entwicklung des
Gesundheitszustands anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich
schweren körperlichen oder psychischen Schäden (vgl. OVG NRW, Beschluss
vom 30. Oktober 2006 - 13 A 2820/04.A -, AuAS 2007, S. 20 ff., zit. nach juris
Rn. 32 m.w.N.). Konkret ist eine Gefahrenlage im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1
AufenthG, wenn die Verschlechterung des Gesundheitszustands alsbald nach
der Einreise des Betroffenen in den Zielstaat eintritt (vgl. BVerwG, Urteil vom
17. Oktober 2006, a.a.O.). Aus dem Wortlaut des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG
- "dort" - folgt zudem, dass die ein mögliches Abschiebungshindernis
begründenden Umstände an Gegebenheiten im Zielland der Abschiebung
anknüpfen müssen (zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse).
Abschiebungshindernisse nach dem früher geltenden § 53 AuslG bzw.
Abschiebungsverbote nach § 60 AufenthG leiteten/leiten sich der Sache nach
aus der Unzumutbarkeit des Aufenthalts im Zielland der Abschiebung für einen
ausreisepflichtigen Ausländer her und müssen damit in Gefahren begründet
sein, die im Zielstaat der Abschiebung drohen. Das gilt auch dann, wenn die im
Abschiebungszielstaat zu erwartende Rechtsgutbeeinträchtigung in der
Verschlimmerung einer Krankheit besteht, unter welcher der Ausländer bereits
in Deutschland leidet (vgl. BVerwG, Urteile vom 25. November 1997, - 9 C
58.96 -, DVBl. 1998, S. 284, und vom 11. November 1997 - 9 C 13.96 -, NVwZ
1998, S. 526). Dementsprechend können in Verfahren vor dem Bundesamt
nur zielstaatsbezogene Gefahren als Abschiebungshindernis geltend gemacht
werden, nicht aber Gegebenheiten und Vorgänge, die im Aufenthaltsland
Deutschland begründet sind oder mit der geplanten Rückreise des
ausreisepflichtigen Ausländers zusammenhängen. Auch bei einer als
Abschiebungshindernis geltend gemachten Gesundheitsverschlechterung
muss es sich demnach um eine solche handeln, die durch Gegebenheiten im
Zielland der Abschiebung - hier der Russischen Föderation - ausgelöst und
verursacht wird. Reiseunfähigkeit stellt demgegenüber kein
zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis, sondern ein inlandsbezogenes
Vollstreckungshindernis dar, dessen Vorliegen die zuständige
Ausländerbehörde selbständig zu prüfen und beim Vollzug
aufenthaltsbeendender Maßnahmen zu beachten hat und ggf. einen Anspruch
auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 5 AufenthG begründen
kann (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 29. März 2011 - 8 LB 121/08 -, zit. nach
juris Rn. 47 m.w.N), über den im vorliegenden, gegen die Bundesrepublik
Deutschland gerichteten Klageverfahren indes nicht zu befinden ist.
Unter Zugrundelegung dieser rechtlichen Kriterien und unter
zusammenfassender, bewertender Betrachtung aller entscheidungsrelevanten
Umstände und Aspekte, insbesondere des aktuellen Gesundheitszustandes
der Klägerin zu 1), wie er sich aus dem zuletzt vorgelegten ärztlichen Attest
des St. Vincenz-Hospitals O. vom 20. August 2013 ergibt, ist nach Auffassung
der Kammer die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7
Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Russischen Föderation nach wie vor nicht
gerechtfertigt.
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Die Kammer vermag aufgrund der vorgelegten ärztlichen Atteste der ärztlichen
Einschätzung zu folgen, die Klägerin zu 1) leide seit 2010 an einer
depressiven Symptomatik, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsdefiziten,
Schlafstörungen, häufigen Impulskontrollstörungen und rez. Migräneanfällen
und bedürfe daher weiterhin einer medikamentösen und psychiatrischen
Behandlung, so zuletzt das Attest des St. Vinzenz Hospitals O. vom 20.
August 2013. Dieser Befund wird durch die ärztlichen Dokumentationen, die in
der beigezogenen Akte des Fachdienstes Soziales des Landkreises K.
enthalten sind (Beiakte O), im Wesentlichen gestützt. Für die darüber
hinausgehende Annahme der Klägerin zu 1), sie leide unter einer PTBS, gibt
es dagegen keinen belastbaren Beleg. Die Kammer hat hierzu bereits in ihrem
Beschluss vom 20. September 2011 - 2 B 193/11 -, BA S. 5, Folgendes
ausgeführt:
„In Bezug auf die attestierte posttraumatische Belastungsstörung bieten die
genannten ärztlichen Bescheinigungen auch keinen Anlass für eine weitere
Sachaufklärung, da sie die vom Bundesverwaltungsgericht hierfür
aufgestellten Mindestanforderungen (Urt. v. 11.09.2007 - 10 C 8.07 -, juris)
nicht erfüllen. Denn es fehlt eine Angabe darüber, auf welcher Grundlage der
Facharzt seine Diagnose gestellt hat; es ist nicht erkennbar, ob die
Schilderung der Symptome der Antragstellerin zu 1), die im Übrigen in den
Attesten variieren, auf eigener Untersuchung durch den Facharzt oder alleine
auf Angaben der Antragstellerin zu 1) beruht. Auch hat der behandelnde Arzt
die Angaben der Antragstellerin zu 1) offenbar unkritisch übernommen. So
geht das Attest davon aus, dass die Patientin erst im Frühjahr 2010 von einem
Polizisten vergewaltigt worden sei; zu dieser Zeit hielt sich die Antragstellerin
jedoch bereits im Bundesgebiet auf. Dementsprechend fehlt es auch an einer
Begründung dafür, warum die Erkrankung nicht bereits mit der
(Folge)Antragstellung im August 2009 geltend gemacht worden ist, sondern
erst im Frühjahr 2011. Da das Gericht - wie dargelegt - den Sachvortrag der
Antragstellerin zu 1) im Hinblick auf das traumatisierende Ereignis für nicht
glaubhaft erachtet, droht der Antragstellerin zu 1) zur Überzeugung des
Gerichts auch keine Retraumatisierung im Heimatland.“
Hierbei verbleibt es auch für das Klageverfahren. Aussagekräftige
fachärztliche Atteste, die auf das Vorhandensein einer PTBS schließen lassen,
hat die Klägerin zu 1) trotz dieser deutlichen Worte der Kammer bis zur
mündlichen Verhandlung nicht beigebracht. Deshalb musste der von ihr
gestellte Beweisantrag auch mangels hinreichender Substantiierung des
Beweisthemas abgelehnt werden. Zudem hat die am 17. April 2013 vom
Gesundheitsamt des Landkreises K., MOR Dr. Papst, durchgeführte
amtsärztliche Untersuchung (vgl. Bl. 66 f. Beiakte O) ebenfalls keinen
belastbaren Anhalt für eine PTBS ergeben. Der Amtsarzt diagnostizierte bei
der Klägerin zu 1) neben der depressiven Symptomatik eine seelische
Erkrankung und äußerte lediglich die Vermutung, dass diese wahrscheinlich
auf die von der Klägerin zu 1) geschilderten traumatisierenden Erfahrungen in
ihrer Heimat zurückzuführen seien. Vordergründig erachtet die Kammer indes
die von der Klägerin zu 1) in der mündlichen Verhandlung und seinerzeit auch
dem Amtsarzt geschilderten familiären Konflikte und Überforderungen, die mit
der Trennung von ihrem Ehemann einher gingen und nach wie vor gehen, für
ihren derzeitigen angegriffenen Gesundheitszustand verantwortlich.
Traumatisierende Erlebnisse konnte die Klägerin zu 1) jedenfalls bislang nicht
glaubhaft schildern.
Anders als in dem vom Verwaltungsgericht Hannover (Urteil vom 3. März 2011
- 12 A 1967/09 -) entschiedenen Sachverhalt einer psychisch erkrankten
Asylbewerberin aus der Russischen Föderation ist im vorliegenden Fall zudem
nicht davon auszugehen, dass die an sich in der Russischen Föderation
vorhandenen medizinischen Behandlungsmöglichkeiten für psychische
Erkrankungen, wie sie die Klägerin zu 1) hier geltend macht - die Klägerin zu 1)
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hat insoweit die Feststellungen des Bundesamtes in dem angefochtenen
Bescheid nicht in Zweifel gezogen, sodass für die Kammer kein Anlass zu
weiterer Sachverhaltsaufklärung bestand -, für diese aus finanziellen oder
sonstigen persönlichen Gründen nicht zugänglich sind. Die Kammer konnte
nicht feststellen, dass die Klägerin zu 1) bei einer Rückkehr mit ihren Kindern in
die Russische Föderation mittellos ist. Die Klägerin zu 1) hat gegenüber dem
Bundesamt in Bezug auf ihre Krankenhausbehandlung nach dem
vermeintlichen Gewaltverbrechen ihres Nachbarn ausgeführt, sie habe für die
Abrechnung der Behandlungskosten über eine Versicherungspolice verfügt,
die ihr ihr Schwiegervater besorgt habe. Die Klägerin zu 1) hat weder Gründe
vorgetragen, noch ist für die Kammer ersichtlich, dass der 2009 bestehende
Krankenversicherungsschutz nunmehr erloschen sein soll. Ferner hat die
Klägerin zu 1) gegenüber dem Bundesamt dargelegt, dass sie auch in den
Zeiten der Abwesenheit ihres Ehemannes bei ihren Schwiegereltern gelebt
und in der heimischen Landwirtschaft gearbeitet habe. Ihr Schwiegervater
habe die Kosten ihrer zweiten Ausreise i.H.v. 230.000 Rubel finanziert. Dass
der Schwiegervater der Klägerin zu 1) und Großvater der Kläger zu 2) und 3)
sowie der Klägerin im Verfahren 2 A 227/11 diese und ihren Ehemann bzw.
Vater in der Vergangenheit ständig finanziell unterstützt hat, ergibt sich nicht
zuletzt aus deren Vorbringen zu den zahlreichen Freikäufen des Klägers im
Verfahren 2 A 213/11 aus der Gefangenschaft der Miliz sowie der Beschaffung
von russischen Dokumenten wie etwa den 2005 vorgelegten Inlandspässen
oder anderen offiziellen Papieren wie bspw. das von der Klägerin zu 1)
vorgelegte gerichtsmedizinische Gutachten. Die Angaben der Klägerin zu 1)
und ihres Ehemannes lassen deshalb nur darauf schließen, dass es sich
zumindest bei dem Schwiegervater um einen verhältnismäßig vermögenden
russischen Staatsangehörigen handelt. Vor diesem Hintergrund ist weder
substantiiert und nachvollziehbar vorgetragen noch sonst erkennbar, warum
die bisherige fortdauernde Unterstützung des Schwiegervaters der Klägerin zu
1) bei einer Rückkehr der Kläger in die Russische Föderation wegfallen würde.
Der zuletzt in das vorliegende Klageverfahren eingeführte Aspekt der
Trennung vom Ehemann - eine Scheidung bzw. eine dahingehende Absicht
hat weder die Klägerin zu 1) noch ihr Ehemann bislang geäußert - hat den
Schwiegervater nach bisherigem Vorbringen der Klägerin zu 1) offenbar auch
in der Vergangenheit nicht von seinen Unterstützungsleistungen zugunsten
seiner Schwiegertochter und seinen Enkeln abgehalten.
Schließlich ist auch das klägerische Vorbringen, die Klägerin zu 1) könne als
alleinerziehende Mutter dreier Kinder bei ihrer Rückkehr in die Russische
Föderation, namentlich außerhalb der Republik Dagestans, den
Lebensunterhalt für die Familie nicht allein durch Erwerbstätigkeit sichern, nicht
näher begründet worden. Die Kläger zu 2) und 3) sind im schulpflichtigen Alter,
hätten demzufolge bei einer Rückkehr der Familie in die Russische Föderation
tagsüber die Schule zu besuchen. Die 2009 geborene Klägerin im Verfahren 2
A 227/11 könnte nach derzeitigem Stand einen Kindergarten besuchen, um
der Klägerin zu 1) eine Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Die Klägerin zu 1) hat
gegenüber dem Bundesamt ausgeführt, nach ihrer Rückkehr in ihre Heimat im
Jahre 2005 trotz des damals schon schulpflichtigen Klägers zu 2) und eines
Kleinkindes - der Klägerin zu 3) - in der Landwirtschaft erwerbstätig gewesen
zu sein. Warum sich an diesen Möglichkeiten etwas geändert haben sollte, ist
für die Kammer nicht ersichtlich. Die vorgelegten ärztlichen Atteste lassen den
Schluss auf eine dauerhafte, namentlich stationäre Behandlungsbedürftigkeit
ihrer Erkrankung nicht zu; Anhaltspunkte für eine dauerhafte
Erwerbsunfähigkeit ergeben sich hieraus ebenfalls nicht. In der
Rechtsprechung der niedersächsischen Verwaltungsgerichtsbarkeit ist bereits
entschieden worden, dass auch einer alleinerziehenden Mutter
tschetschenischer Herkunft mit zwei betreuungsbedürftigen Kindern zugemutet
werden kann, sich in anderen Teilen der Russischen Föderation
niederzulassen und dort durch Erwerbstätigkeit ein bescheidenes Auskommen
zu finden. Dabei müsse nämlich berücksichtigt werden, dass Flüchtlinge
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mittlerweile in vielen russischen Städten von Menschenrechtsorganisationen
unterstützt würden (vgl. VG Braunschweig, Urteil vom 24. Februar 2003 - 8 A
308/02 -, UA S. 11 f.).
Diese Einschätzung bestätigt das in der mündlichen Verhandlung mit den
Klägern erörterte Länderinformationsblatt Russische Föderation, Stand Juni
2013, der International Organization for Migration (IOM), welches u.a. vom
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge publiziert wird. Danach gibt es in
verschiedenen Regionen Russlands ergänzende finanzielle Hilfsprogramme
für alleinstehende Mütter. So sieht etwa das Moskauer Programm über
staatliche Hilfen wie Schwangerschaftsgeld und Kindergeld hinaus zusätzliche
städtische Zahlungen vor, die auf eine individuelle Zahlkarte überwiesen
werden (monatliche Kompensation der Lebensmittelausgaben in Höhe von
3.200 Rubel für Kinder bis 3 Jahre und 1.600 Rubel für Kinder bis 16 Jahre).
Alleinstehende Mütter erhalten außerdem Preisnachlässe für viele Waren,
Konsumgüter und pharmazeutische Erzeugnisse sowie materielle Hilfe in
Naturalien. Zusammen mit der Sozialkarte bekommen alleinerziehende Mütter
eine Auflistung von Geschäften, Apotheken und Dienstleistungsunternehmen,
die Preisnachlässe gewähren. Gemäß den Rechtsnormen föderaler und
kommunaler Gesetzgebung haben alleinstehende Mütter und Väter ein
Vorrecht auf eine Wohnungszuteilung aus den kommunalen
Wohnungsbeständen. Im Rahmen verschiedener „gender-projects“
unterhalten diverse Nichtregierungsorganisationen in einigen Regionen der
Russischen Föderation Frauenasyle. Es gibt faktisch in jeder russischen
Region Krisenzentren für Frauen. Diese werden sowohl von staatlichen
Sozialdiensten als auch von internationalen Programmen gesponsert und
bieten soziale, psychologische und juristische Beratung u.a. für Frauen wie die
Klägerin zu 1) an, die häuslicher Gewalt ausgesetzt waren bzw. sind (vgl. Seite
23 des Länderinformationsblatts). Die Kammer hat keine Veranlassung, an der
Richtigkeit dieser von der IOM zusammengetragenen und in dem zitierten
Länderinformationsblatt wiedergegebenen Angaben zu zweifeln. Zweifel
haben die Kläger in der mündlichen Verhandlung jedenfalls nicht aufzuzeigen
vermocht, so dass für die Kammer in dieser Hinsicht keine Veranlassung zu
weiterer Sachverhaltsaufklärung bestand. Auf die Gründe der Ablehnung des
klägerischen Beweisantrages zu 2), wie sie aus der Anlage 2 zur Niederschrift
(Bl. 157 GA) hervorgehen, wird an dieser Stelle ergänzend Bezug genommen.
Die Klägerin zu 1) vermittelt für die erkennende Kammer den Eindruck einer
seit Jahren unter familiären Problemen leidenden Ehefrau, die im Zuge von
Konflikten zwischen ihr und ihrem Ehemann in der Vergangenheit unter
dessen tätlichen Übergriffen und seit November 2012 unter den Folgen der
Trennung zu leiden hat. Hierfür spricht jedenfalls der in der Ausländerakte des
Klägers im Verfahren 2 A 213/11 befindliche Strafbefehl des Amtsgerichts K.
vom 19. November 2003 - 86 JS 30327/03 -, mit dem der Ehemann der
Klägerin zu 1) zu einer Geldstrafe von 25 Tagessätzen zu 15 € wegen einer ihr
gegenüber begangenen Körperverletzung verurteilt wurde. Offenbar ist es in
den Jahren 2012 und 2013 zu ähnlichen Übergriffen gekommen, die
ursächlich für die aktuelle Trennung der Eheleute sind. Bei dieser Sachlage ist
für die Kammer nachvollziehbar, dass die Klägerin zu 1) in der mündlichen
Verhandlung von zahlreichen Problemen berichtete, die sie derzeit sehr
belasten und um deren Lösung sie ringt. Eine solche Lösung kann nach
Auffassung der Kammer jedoch nicht allein in der Zuerkennung eines
Aufenthaltsrechts für die Bundesrepublik Deutschland liegen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden
gem. § 83b AsylVfG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige
Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711
ZPO.