Urteil des VG Göttingen vom 22.08.2014

VG Göttingen: verordnung, bundesamt, einzelrichter, aufschiebende wirkung, familie, geburt, abschiebung, vollstreckung, trennung, geschwister

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Zur Wahrung der Familieneinheit im Dublin-II-
Verfahren
1. Im Dublin-II-Verfahren ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
verpflichtet, bei der Geburt eines Kindes im Bundesgebiet die Mitglieder der
Kernfamilie regelmäßig zusammenzuführen bzw. nicht getrennt in den
zuständigen Mitgliedsstaat zu überstellen, weil das Neugeborene auf die
Unterstützung beider Eltern angewiesen ist.
2. Begründen derartige familiäre Änderungen während des Aufenthalts im
Bundesgebiet nicht schon eine Selbsteintrittsverpflichtung des
Bundesamtes, so ist dieses jedenfalls zur Aktualisierung seiner
Ermessenserwägungen im verwaltungsgerichtlichen Klageverfahren
verpflichtet.
VG Göttingen 2. Kammer, Gerichtsbescheid vom 22.08.2014, 2 A 888/13
§ 34a Abs 1 AsylVfG, § 27a AsylVfG, Art 15 Abs 2 EGV 343/2003, Art 24 Abs 3
EUGrdRCh, Art 6 GG, § 114 S 2 VwGO
Tenor
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16. Oktober
2013 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht
erhoben.
Der Gerichtsbescheid ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von
110 Prozent der aufgrund des Gerichtsbescheids vollstreckbaren Kosten
abwenden, wenn der Kläger nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von
110 Prozent der jeweils zu vollstreckenden Kosten leistet.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit eines im sog. Dublin-II-
Verfahren ergangenen Bescheides des Bundesamtes für Migration und
Flüchtlinge (BAMF).
Der Kläger ist georgischer Staatsangehöriger. Er reiste eigenen Angaben
zufolge am 18. Januar 2013 gemeinsam mit seinen Schwiegereltern, seiner
Ehefrau und deren Geschwister in die Bundesrepublik ein und beantragte am
28. Januar 2013 beim BAMF seine Anerkennung als Asylberechtigter. Im
Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt gab der Kläger u.a. an, über
Polen in das Bundesgebiet eingereist zu sein und zuvor in Polen bereits einen
Asylantrag gestellt zu haben, über den noch nicht entschieden worden sei.
Nach entsprechendem Datenabgleich und Anzeige eines Treffers im System
„Eurodac“ ersuchte das BAMF am 7. Oktober 2013 die zuständigen Stellen in
Polen um die Wiederaufnahme des Klägers. Dem Wiederaufnahmegesuch
gab das Office for Foreigners - Department for Refugee Procedures - der
Republik Polen mit Schreiben vom 8. Oktober 2013 unter Hinweis auf seine
Zuständigkeit gem. Art. 16 Abs. 1 d) der Dublin-II-Verordnung statt.
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Der Kläger gab gegenüber dem BAMF weiter an, mit der Asylbewerberin E. F.
seit September XX nach griechisch-orthodoxem Ritus verheiratet zu sein. Er
lebt aktuell mit ihr und ihrer Familie in G. in häuslicher Gemeinschaft.
Gegenüber Frau F. und deren Familie (Eltern, 2 Geschwister) hatte das BAMF
zunächst mit Bescheid vom 8. Januar 2014 - 5607222-430 - unter Hinweis auf
die Zuständigkeit Polens die gestellten (weiteren) Asylanträge abgelehnt; diese
Entscheidung revidierte das BAMF mit weiterem Bescheid vom 20. März 2014,
der Gegenstand des zwischenzeitlich eingestellten Klageverfahrens 2 A 25/14
war, und erklärte unter Hinweis auf die Besonderheiten des Einzelfalls den
Eintritt in das nationale Verfahren gem. Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III-
Verordnung.
Aus der Beziehung mit Frau F. ging der am XX.XX.XX in G. geborene H. B.
hervor, dessen nach § 14a AsylVfG gestellter Asylantrag das BAMF ebenfalls
unter Hinweis auf die Zuständigkeit Polens mit bestandskräftigem Bescheid
vom 14. Februar 2014 - 5724016-430 - ablehnte. Nach den Ermittlungen des
Einzelrichters hatte der Kläger gegenüber dem Standesamt in G. im Februar
XX die Vaterschaft für das Neugeborene anerkannt. Seither trägt es seinen
Nachnamen.
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 16. Oktober 2013 stellte das BAMF
fest, dass der (weitere) Asylantrag des Klägers unzulässig sei und ordnete
dessen Abschiebung nach Polen an. Zur Begründung verwies das Bundesamt
auf §§ 27a, 34a Abs. 1 AsylVfG und das positive Wiederaufnahmegesuch, das
aus der Zuständigkeit Polens gem. Art. 16 Abs. 1 d) der Dublin-II-Verordnung
resultiere.
Hiergegen hat der Kläger am 24. Oktober 2013 die vorliegende Klage erhoben
und zugleich um die Gewährung einstweiligen gerichtlichen Rechtsschutzes
nachgesucht. Der Einzelrichter hat daraufhin mit Beschluss vom 2. Januar
2014 - 2 B 889/13 - (veröffentlicht u.a. in juris) die aufschiebende Wirkung der
Klage gegen die Abschiebungsanordnung des BAMF unter Hinweis auf die
Wahrung des Grundsatzes der Familieneinheit angeordnet.
Der Kläger hält den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes u.a. wegen
der drohenden Gefahr der Trennung von Ehefrau und Neugeborenem für
rechtswidrig und beantragt,
den Bescheid des BAMF vom 16. Oktober 2013 aufzuheben.
Das Bundesamt verteidigt seine angefochtene Entscheidung und beantragt,
die Klage abzuweisen.
Mit Verfügung vom 3. Juli 2014 hat der Einzelrichter die Beteiligten zu der
beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört und dem
Bundesamt Gelegenheit gegeben, zur Wahrung des Grundsatzes der
Familieneinheit Stellung zu nehmen. Das Bundesamt hat hierauf nicht reagiert.
Entscheidungsgründe
Der Einzelrichter konnte nach Übertragung des Rechtsstreits gem. § 76 Abs. 1
AsylVfG durch Beschluss der Kammer vom 8. August 2014 über die Klage
gem. § 84 Abs. 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid
entscheiden, denn die Sache weist keine besonderen Schwierigkeiten
tatsächlicher oder rechtlicher Art auf und der Sachverhalt ist geklärt. Die
Beteiligten sind zu dieser Entscheidungsform angehört worden; Einwände
wurden nicht vorgebracht.
Die zulässige Klage ist begründet, denn der angefochtene Bescheid des
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BAMF ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, §§ 84 Abs. 1
Satz 3, 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Gemäß § 27a AsylVfG in der Fassung der Bekanntmachung vom 2.
September 2008 (BGBl. I, S. 1798) ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein
anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen
Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des
Asylverfahrens zuständig ist. Das BAMF ist zum Zeitpunkt der Bekanntgabe
des angefochtenen Bescheides zwar zutreffend von der Zuständigkeit Polens
für den (ersten) Asylantrag des Klägers gem. Art. 16 Abs. 1 d) der vorliegend
noch anzuwendenden Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.
Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und des Verfahrens zur
Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem
Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedsstaat gestellten Asylantrags
zuständig ist (ABl. EU L 50 vom 25. Februar 2003, S. 1) - sog. Dublin-II-
Verordnung -, geändert durch VO (EG) 1103/2008 vom 22. Oktober 2008 (ABl.
EU L 304 vom 14. November 2008, S. 80), ausgegangen. Auf die insoweit
zutreffenden Gründe des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes,
denen der Einzelrichter folgt, wird wegen der Begründung verwiesen; § 77 Abs. 2
AsylVfG.
Maßgeblich für die vorliegende Entscheidung des Einzelrichters ist indes gem.
§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylVfG die Sach- und Rechtslage zum
Zeitpunkt des Erlasses dieses Gerichtsbescheides. Die Sachlage hat sich
durch die Geburt des Sohnes des Klägers im XX XX und durch den Eintritt in
das nationale Verfahren betreffend seine (religiös angetraute) Ehefrau und
Mutter seines Sohnes zu Gunsten des Klägers wesentlich verändert. Hierauf
hat das Bundesamt bis heute nicht reagiert.
Wie der Einzelrichter bereits in seinem das einstweilige Rechtsschutzverfahren
des Klägers betreffenden Beschluss vom 2. Januar 2014 - 2 B 889/13 -, zit.
nach juris Rn. 8, dargelegt hat, ist derzeit nur eine gemeinsame Überstellung
des Klägers nach Polen zusammen mit dem Neugeborenen und seiner Mutter
(ggf. zusammen mit deren Familie) zur Wahrung der Familieneinheit rechtlich
zulässig. Eine Trennung der Kernfamilie ist mit dem Schutzgebot aus den Artt.
6 GG, 7 und 24 Abs. 3 EUGRCh keinesfalls zu vereinbaren. Zugunsten der
Ehefrau des Klägers ist das BAMF zwischenzeitlich jedoch in das nationale
Verfahren eingetreten; eine Entscheidung des Bundesamtes über den
(weiteren) Asylantrag der Ehefrau ist dem Einzelrichter bisher nicht bekannt.
Der Einzelrichter muss deshalb gegenwärtig davon ausgehen, dass der
weitere Aufenthalt der Ehefrau im Bundesgebiet zur Durchführung ihres
Asylverfahrens gestattet ist, vgl. § 55 AsylVfG.
Wie der Einzelrichter in seinem Beschluss vom 2. Januar 2014 (a.a.O.) weiter
ausgeführt hat, ist der Grundsatz der Familieneinheit ein tragendes Prinzip der
Zuständigkeitsbestimmung nach der Dublin-II-Verordnung, vgl. Art. 6 bis 8, 14
und 15 Abs. 1 und 2 EGV 343/2003, der ggf. eine Selbsteintrittspflicht der
Antragsgegnerin zur Folge haben kann (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 4. Juli 2012
- 2 LB 163/10 -, InfAuslR 2012 S. 383 ff., zit. nach juris Rn. 42). Insbesondere
aus Art. 15 Abs. 2 der Dublin-II-Verordnung ergibt sich die Pflicht des BAMF,
u.a. bei der Geburt eines Kindes in der Regel jedenfalls die Mitglieder der
Kernfamilie zusammenzuführen bzw. nicht zu trennen, weil das Neugeborene
auf die Unterstützung seiner Eltern angewiesen ist (vgl. zur Auslegung des
Begriffs „Angewiesen sein“: Filzwieser/Sprung in: Dublin-II-Verordnung,
Kommentar, 3. Auflage, K 16 zu Art. 15 unter Hinweis auf Art. 11 Abs. 1 VO
(EG) 1560/2003). Der 2. Senat des Nds. OVG hat hierzu (a.a.O.) u.a.
ausgeführt, während des gerichtlichen Verfahrens eingetretene familiäre
Veränderungen begründeten im Regelfall gar eine Selbsteintrittsverpflichtung
des Bundesamtes, da das ihm im Rahmen des Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-
Verordnung zustehende Ermessen durch Art. 15 Abs. 2 Dublin-II- Verordnung
vor dem Hintergrund des Art. 8 EMRK auf Null reduziert sei.
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Ob vorliegend bereits von einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen
ist, was nach der zitierten Rechtsprechung des 2. Senates des Nds. OVG auf
der Hand liegt, oder aber dem Bundesamt noch ein Ermessensspielraum
verbleibt, der auch eine andere Entscheidung als den Eintritt in das nationale
Verfahren zugunsten des Klägers angesichts des Grundsatzes der Wahrung
der Familieneinheit zu rechtfertigen vermag, kann im Ergebnis dahinstehen.
Das Bundesamt hat trotz des richterlichen Hinweises vom 3. Juli 2014 bis
heute keinerlei Erwägungen zur nachträglichen Änderung der familiären
Verhältnisse des Klägers im Hinblick auf den Grundsatz der Wahrung der
Familieneinheit angestellt, die ggf. entsprechend § 114 Satz 2 VwGO hätten in
das gerichtliche Verfahren eingeführt werden können (vgl. zur Nachholung von
Ermessenserwägungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren bei materieller
Verpflichtung zur Aktualisierung BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2011 - 1 C
14/10 -, BVerwGE 141, 253 ff., zit. nach juris Rn. 11). Deshalb rechtfertigt
bereits der Ausfall jeglicher Ermessensbetätigung die Aufhebung des
angefochtenen Bescheides.
Dieser Befund gilt zugleich für die in der Hauptsache ebenfalls angefochtene
Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 AsylVfG in der hier
anzuwendenden Fassung des Art. 1 Nr. 27 des Gesetzes zur Umsetzung der
Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) vom 28. August 2013
(BGBl. I, S. 3474). Die Voraussetzungen des § 34a Abs. 1 AsylVfG liegen aus
den vorstehenden Gründen nicht vor, da die isolierte Abschiebung des Klägers
nach Polen aus rechtlichen Gründen derzeit unmöglich ist. Wegen der
weiteren Einzelheiten der Begründung nimmt der Einzelrichter insoweit Bezug
auf die Ausführungen in seinem Beschluss vom 2. Januar 2014 (a.a.O., Rn. 4
ff.). Das Bundesamt hat sich hierzu im Laufe des Klageverfahrens nicht
verhalten, sodass weitere Ausführungen derzeit nicht angezeigt sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden
gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in
§§ 167 Abs. 1 und 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11 Var. 2, 711 ZPO.