Urteil des VG Gießen vom 19.07.1999

VG Gießen: befreiung, raumordnung, bebauungsplan, landesplanung, gemeinde, überwiegendes interesse, aufschiebende wirkung, grundstück, thüringen, rechtsschutz

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Gericht:
VG Gießen 1.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 G 817/99
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 2 Abs 2 BauGB, § 34 Abs 1
BauGB, § 80a Abs 3 VwGO
(Nachbarklage gegen Baugenehmigung auf dem Gebiet
einer Nachbargemeinde)
Tatbestand
I. Der Beigeladene ist Eigentümer des Grundstücks Flur ..., Flurstück ... in H. (L.-R.-
Straße ...), auf dem sich der N.-M.-Wohnmarkt befindet.
Das Grundstück liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. 4, 2. Änderung
"Südlich des Dorfes'' der Gemeinde H., für den das Regierungspräsidium Gießen
mit Verfügung vom 20.07.1994 feststellte, daß keine Verletzung von
Rechtsvorschriften geltend gemacht würde. Der Bebauungsplan weist für das
streitbefangene Grundstück ein Sondergebiet Möbelmarkt (2 Geschosse, GRZ
0,8/GFZ 1,2, Dachneigung 0 Grad bis 30 Grad) aus. In den textlichen
Festsetzungen heißt es hierzu unter 2.5
"2.5 Die Ausweisung des Sondergebietes "Möbelmarkt'' dient ausschließlich der
Einrichtung eines Möbelmarktes mit nachfolgenden Verkaufsflächen - und
Sortimentsbeschränkungen:
a) Die Verkaufsfläche wird auf insgesamt 8000 qm beschränkt.
Gebäudeerweiterungen für die Einrichtung weiterer Verkaufsfläche sind unzulässig.
Die Errichtung von Nebengebäuden zum Zweck der Lagerhaltung wird hiervon
nicht betroffen.
b.) Das Warenangebot (Sortiment) beschränkt sich ausschließlich auf Möbel,
Wohnaccessoires und Wohndekorationsartikel. Für Wohnaccessoires und
Wohndekorationsartikel sind max. 400 qm Verkaufsfläche zulässig.
Für Teppiche darf die Verkaufsfläche 700 qm nicht überschreiten.
Haushaltsgebrauchsgegenstände und Haushaltswaren des täglichen Bedarfs sind
von dieser Angebotspalette ausgeschlossen. Die Ausstellung und der Verkauf von
Elektrohaushaltsgeräten ist nur als Ausstellungsmuster in Verbindung mit
Küchenmöbeln i.S. eines Annexsortiments zulässig.''
Der Geltungsbereich des (Gesamt-) Bebauungsplanes grenzt an das Gebiet der
Antragstellerin, einer kreisfreien Stadt, die im regionalen Raumordnungsplan für
die Region Mittelhessen als Oberzentrum eingestuft ist. Ihre Bedenken und
Anregungen konnte sie im Planverfahren für den vorgenannten Bebauungsplan
nicht durchsetzen.
Auf seinen am 25.08.1998 beim Antragsgegner eingegangenen Bauantrag und
den Befreiungsantrag vom 22.09.1998 erhielt der Beigeladene mit Einvernehmen
der Gemeinde H. unter dem 29.04.1999 die Baugenehmigung zur "Umnutzung der
Lagerfläche im 1.OG in Verkaufsfläche''. Mit Befreiungsbescheid vom gleichen Tag
wurde "die Überschreitung der im Bebauungsplan festgesetzten Verkaufsfläche
um 2263 qm ... zugelassen''. Wegen der Einzelheiten wird auf die bei den
beigezogenen Behördenakten befindlichen Bauvorlagen Bezug genommen.
Mit Schreiben vom 04.05.1999 erhob die Antragstellerin Widerspruch gegen die
dem Beigeladene erteilte Baugenehmigung und am 10.05.1999 gegen den
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dem Beigeladene erteilte Baugenehmigung und am 10.05.1999 gegen den
Befreiungsbescheid. Über diese Widersprüche wurde bisher - soweit ersichtlich -
nicht entschieden.
Die Antragstellerin begehrt nunmehr mit am 18.05.1999 bei Gericht
eingegangenem Schriftsatz vorläufigen Rechtsschutz.
Zur Begründung trägt sie vor, die Baugenehmigung verstoße gegen § 31 Abs. 2
BauGB. Außerdem sei die planerische Abstimmungspflicht des § 2 Abs. 2 BauGB in
formeller und materieller Hinsicht umgangen worden. Der Antragsgegner hätte sie
nach § 69 Abs. 1 HBO am Genehmigungsverfahren beteiligen müssen. Die erteilte
Befreiung berühre die Grundzüge des einschlägigen Bebauungsplans, denn die
darin enthaltene Verkaufsflächenbeschränkung, die nachbarschützende Wirkung
habe, sei nicht nur raumordnerisch, sondern auch städtebaulich motiviert. Die
Erweiterung des Möbelmarktes widerspreche den Zielen der Raumordnung und
Landesplanung, wonach nur Ober- und Mittelzentren für großflächige
Einzelhandelsbetriebe in Betracht kämen. Durch die Maßnahmen der Gemeinde H.
werde sie in der Erfüllung ihrer Verpflichtungen aus dem Raumordnungsplan
behindert. Außerdem sei die Verkaufsflächenerweiterung städtebaulich nicht
vertretbar. Das Vorhaben hätte nicht geplant werden können, weil ihm § 1 Abs. 4
BauGB entgegenstehe. Die Baugenehmigung sei auch deshalb rechtswidrig, weil
bei der Befreiung kein Ermessen ausgeübt und die nachbarlichen Interessen der
Antragstellerin nicht gewürdigt worden seien. Dies könne durch die Weisung des
zuständigen Ministeriums nicht ersetzt werden. Im übrigen sei die
Baugenehmigung samt Befreiung rechtswidrig, weil der zugrundeliegende
Bebauungsplan wegen Abwägungsmängeln nichtig sei. Die verkehrliche
Erschließung sei nicht gesichert und beeinträchtigte die Straßenplanung der
Antragstellerin. Außerdem sei ihre Planungshoheit verletzt, wenn ein Sondergebiet
in einem Kleinzentrum ausgewiesen werde, denn dies verstoße gegen das Gebot
der materiellen Abstimmung nach § 2 Abs. 2 BauGB. Wegen der erheblichen und
irreversiblen Folgen des Vorhabens müsse dessen Verwirklichung zunächst
gestoppt werden.
Die Antragstellerin beantragt,
die aufschiebende Wirkung ihrer Widersprüche gegen die Bescheide des
Antragsgegners vom 29.04.1999, durch die auf dem Grundstück Flur ..., Flurstück
... in der Gemarkung H. die Umnutzung einer Lagerfläche in eine Verkaufsfläche im
Befreiungswege genehmigt wird, herzustellen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Der Antrag sei bereits mangels Sicherungsbedürfnis unzulässig, da das Vorhaben
ohne erheblichen Aufwand rückgängig gemacht werden könne. In baulicher
Hinsicht werde nämlich nur eine neue Treppe und eine neue Brandwand errichtet.
Der Antrag sei auch unbegründet, denn die Genehmigung verletze keine Rechte
der Antragstellerin. Abgesehen davon, daß zweifelhaft sei, ob diese überhaupt
einschlägige Fachplanungen habe, die beeinträchtigt werden könnten, sei sie jeden
konkreten Nachweis schuldig geblieben, inwieweit sich das streitbefangene
Vorhaben hierauf auswirken könne. Die Ziele der Raumordnung und
Landesplanung könnten von ihr nicht mit Erfolg ins Feld geführt werden. Von einer
Verletzung des interkommunalen Abstimmungsgebots könne mangels
hinreichender Darlegung nicht ausgegangen werden. Angesichts der konkreten
Umgebungssituation spreche vieles dafür, daß durch die Erweiterung nicht eine
Erhöhung des Marktanteils, sondern nur eine Behauptung der derzeitigen
Marktposition erfolge. Im übrigen liege die Erweiterung unterhalb der
Erheblichkeitsschwelle im Sinne einer gravierenden städtebaulichen Auswirkung.
Der Beigeladene beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
§ 69 Abs. 1 HBO schütze nur den Nachbarn im Sinne des Eigentums Privater und
nicht die Antragstellerin in ihrem hoheitlichen Aufgabenbereich. Die von ihr geltend
gemachten Ziele der Raumordnung und Landesplanung beinhalteten ebenfalls
keine abwehrfähigen Rechtspositionen einer Gemeinde, weil sie nicht den
Interessen einzelner Gemeinden, sondern übergeordneten Planungsinteressen
dienten. Die Verkaufsflächenerweiterung sei im Wege der Befreiung genehmigt
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dienten. Die Verkaufsflächenerweiterung sei im Wege der Befreiung genehmigt
worden, so daß § 2 Abs. 2 BauGB nicht tangiert sei. Die genehmigte Erweiterung
liege weit unterhalb der Erheblichkeitsschwelle und bewirke keinen Kaufkraftabfluß.
Hiernach scheide auch eine Verletzung der Planungshoheit aus Art. 28 GG aus,
zumal die Antragstellerin keine konkret beeinträchtigten Planungen substantiiert
vorgetragen habe. Im übrigen sei die Baugenehmigung nebst Befreiung
rechtmäßig, denn die Überschreitung der im Bebauungsplan festgesetzten
Verkaufsfläche um rund 2000 qm berühre die Grundzüge der Planung nicht, sei
städtebaulich vertretbar und auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit
den öffentlichen Belangen vereinbar. Durch die geplanten Änderungen werde die
Verkehrssituation im Bereich des Marktes verbessert, weil sich der Abholverkehr
von bisher 4 Lagern nunmehr auf ein Lager konzentrieren werde. Im übrigen sei
gerade landesplanerisch zugelassen worden, daß in zwei Kilometern Entfernung
ein bestehender Möbelmarkt um 12.000 qm erweitert werde.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend
Bezug genommen auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze und der
beigezogenen Behördenvorgänge (3 Bebauungspläne, 3 Ordner und 1 Hefter), die
Gegenstand der Beratung waren.
Entscheidungsgründe
II.
Der Antrag ist zulässig, im fehlt insbesondere nicht das notwendige
Sicherungsbedürfnis.
Wie der Antragsgegner zurecht ausführt, ist Voraussetzung für den Erfolg eines
Antrages auf gerichtlichen Rechtsschutz nach § 80 a Abs. 3 VwGO, daß die
erstrebte Maßnahme (noch) notwendig ist, um mögliche Rechte des Dritten zu
sichern, wozu auch der Schutz vor fortdauernden Rechtsbeeinträchtigungen
gehören kann. Ein Sicherungsbedürfnis besteht regelmäßig dann, wenn die
Vollendung eines Bauvorhabens die spätere Durchsetzung eines etwa
bestehenden Abwehrrechts gegen den Beigeladenen erschweren würde
(HessVGH, Beschluß vom 20.06.1991 - 4 TH 1094/91 -, HessVGRspr 1992, 31).
Dabei sind die rein bautechnische Möglichkeit zur Rückgängigmachung der
durchgeführten Maßnahmen und die finanziellen Interessen des Bauherrn, der im
Falle eines späteren Unterliegens nicht nur diesen Rückbau bezahlen, sondern ggf.
auch die nutzlos gewordenen Investitionen für das Vorhaben tragen müßte, zu
berücksichtigen. Sinn eines Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes
ist es nämlich in der Regel auch, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu
verhindern, deren Rückgängigmachung einem der Beteiligten unnötige
Belastungen auferlegen würde.
Bei der Beurteilung dieser Frage sind regelmäßig die Angaben zugrunde zu legen,
die der beigeladene Bauherr in seinen Bauvorlagen gemacht hat. Zwar steht im
vorliegenden Verfahren eine Nutzungsänderung zur Prüfung, die mit nur geringen
baulichen Umgestaltungen bewerkstelligt werden soll, doch hat der Beigeladene in
seinem Bauantrag die Baukosten mit 320.000,-- DM angegeben. Die Kammer ist
deshalb der Auffassung, daß schon die Höhe dieser Investition ein
Sicherungsbedürfnis in dem Sinne begründet, daß die - prozessuale - Möglichkeit
gegeben ist, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern und damit
gegebenenfalls unnötige Aufwendungen des Bauherrn zu vermeiden.
Der Antrag ist aber in der Sache nicht begründet.
Dem Antrag eines Dritten auf vorläufigen Rechtsschutz nach § 80 a Abs. 3 VwGO
ist stattzugeben, wenn die streitbefangene Baugenehmigung ihn offensichtlich in
seinen Rechten verletzt, denn in diesem Fall kann ein überwiegendes Interesse des
Bauherrn oder der Allgemeinheit an einer sofortigen Ausnutzung der
Baugenehmigung nicht bestehen. Umgekehrt ist der Antrag des Dritten auf
Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abzulehnen, wenn die Baugenehmigung
ihn offensichtlich nicht in eigenen Rechten verletzt. Ist der Ausgang des
Hauptsacheverfahrens über den Rechtsbehelf des Dritten offen, hat das Gericht
eine Abwägung der beteiligten privaten und öffentlichen Interessen vorzunehmen,
die für oder gegen eine sofortige Ausnutzung der Baugenehmigung sprechen. Bei
dieser Abwägung hat das Gericht zum einen das Gewicht der beteiligten
Interessen und das konkrete Ausmaß ihrer Betroffenheit zu berücksichtigten. Zum
anderen hat es zu würdigen, ob der Rechtsbehelf des Dritten - auch unter
Zugrundelegung des von ihm evtl. glaubhaft gemachten Tatsachenvorbringens -
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Zugrundelegung des von ihm evtl. glaubhaft gemachten Tatsachenvorbringens -
wahrscheinlich Erfolg haben wird (vgl. HessVGH, Beschluß vom 16.12.1991 - 4 TH
1814/91 -, ESVGH 42, 172 = DVBl. 1992, 780).
Ein Abwehrrecht des Dritten gegen eine dem Bauherrn erteilte Baugenehmigung
besteht nur, wenn
ein genehmigtes Vorhaben gegen Vorschriften des öffentlichen Rechts verstößt
und die Voraussetzungen für eine Ausnahme oder Befreiung nicht vorliegen und
die verletzten Vorschriften auch dem Schutz des Nachbarn zu dienen bestimmt,
also nachbarschützend sind und
durch das rechtswidrige Vorhaben eine tatsächliche Beeinträchtigung des
Nachbarn hinsichtlich der durch die Vorschriften geschützten nachbarlichen
Belange eintritt (HessVGH, Beschluß vom 01.08.1991 - 4 TG 1244/91).
Bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Baugenehmigung kann
offen bleiben, ob der Bebauungsplan Nr. 4, 2. Änderung " Südlich des Dorfes'' der
Gemeinde H. wirksam ist. Sofern von der Wirksamkeit ausgegangen wird, gilt
folgendes:
Die dem Beigeladenen vom Antragsteller erteilte Baugenehmigung vom
29.04.1999 zur "Umnutzung der Lagerfläche im 1. OG in Verkaufsfläche'' ist
offensichtlich rechtmäßig; sie steht insbesondere im Einklang mit dem
Bebauungsplan Nr. 4, 2. Änderung "Südlich des Dorfes'' der Gemeinde H.. Einer
Befreiung bedurfte es nicht.
Wenn es in Ziffer 2.5 a) der textlichen Festsetzungen des vorgenannten
Bebauungsplans heißt:
"Die Verkaufsfläche wird auf insgesamt 8000 qm beschränkt.
Gebäudeerweiterungen für die Einrichtung weiterer Verkaufsfläche sind
unzulässig.'',
so ist diese Regelung als Einheit zu verstehen. Indem von " weiterer
Verkaufsfläche'' gesprochen wird, geht die Festsetzung trotz der Formulierung im
Satz zuvor davon aus, daß weitere Verkaufsflächen möglich sein sollen. Die
Bedeutung des Wortes "weiterer'' erschließt sich nämlich nur dann, wenn klar wird,
worauf hiermit Bezug genommen wird ("weiter als was''). Dieser Bezug kann aber
nur in der im Satz zuvor genannten Größe liegen, d. h. in der
Verkaufsflächenbezifferung von 8000 qm. Andere Bezüge sind nicht denkbar, da
die textlichen Festsetzungen hierfür keinerlei Anhaltspunkt bieten. Der sich somit
zunächst scheinbar eröffnende Widerspruch zwischen der Beschränkung einerseits
und der Öffnung andererseits wird bei einer Gesamtbetrachtung der Regelung
aufgelöst. Wenn es nämlich heißt, "Gebäudeerweiterungen für die Einrichtung
weiterer Verkaufsflächen sind unzulässig'', so ergibt sich hieraus der Gegenschluß,
daß die Einrichtung weiterer Verkaufsflächen ohne Gebäudeerweiterung zulässig
ist.
Ein solches Verständnis der textlichen Festsetzung Nr. 2.5 a) drängt sich auch
deshalb auf, weil es bei einer absoluten Beschränkung der Verkaufsfläche auf 8000
qm überflüssig wäre, die Unzulässigkeit von Gebäudeerweiterungen für die
Einrichtung weiterer Verkaufsflächen nochmals besonders zu erwähnen. Diese
besondere Erwähnung macht nur dann Sinn, wenn sie als Abgrenzung von der
gerade nicht unzulässigen Verkaufsflächeneinrichtung ohne Gebäudeerweiterung
dienen soll.
Dem steht auch nicht entgegen, daß in der textlichen Festsetzung Nr. 2.5 a) die
Rede von insgesamt 8000 qm ist. Diese Wortwahl erklärt sich nämlich daraus, daß
das streitbefangene Gebäude - wie bei der Planaufstellung bekannt war - aus
verschieden Abschnitten besteht und klargestellt werden sollte, daß sich die
Verkaufsflächenbezifferung auf das Gesamtgebäude bezieht.
Stimmt das genehmigte Vorhaben aber mit den Festsetzungen des einschlägigen
Bebauungsplans überein, so bedurfte es der erteilten Befreiung nicht und die
hiergegen gerichteten Argumente der Antragstellerin gehen ins Leere.
An diesem Ergebnis würde sich aber auch dann nichts ändern, wenn für das
streitbefangene Vorhaben die erteilte Befreiung notwendig gewesen wäre, denn
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streitbefangene Vorhaben die erteilte Befreiung notwendig gewesen wäre, denn
die hiergegen gerichteten Argumente überzeugen nicht.
Wie bereits ausgeführt, besteht ein Abwehrrecht des Dritten gegen eine dem
Bauherrn erteilte Baugenehmigung nur, wenn das Vorhaben gegen Vorschriften
des öffentlichen Rechts verstößt und die Voraussetzungen für eine Ausnahme
oder Befreiung nicht vorliegen. Es kommt somit im gerichtlichen Verfahren nicht
darauf an, ob die Baugenehmigungsbehörde die Voraussetzungen der Befreiung
zutreffend erkannt, geprüft und in ihrem Bescheid gewürdigt hat, sondern nur
darauf, ob die Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung tatsächlich
vorliegen. Aus dem Abstellen auf die - tatbestandlichen - Voraussetzungen wird
zugleich deutlich, daß es auch nicht auf die Ermessensausübung ankommen kann.
Eine weitere Einschränkung ergibt sich daraus, daß der Dritte sich nur auf das
Fehlen solcher Tatbestandsvoraussetzungen berufen kann, die auch dem Schutz
seiner subjektiven Rechte zu dienen bestimmt sind. Im Rahmen von § 31 Abs. 2
BauGB haben diese Rechte ihren Niederschlag in dem Tatbestandsmerkmal "unter
Würdigung nachbarlicher Interessen'' gefunden.
Auch unter Würdigung der nachbarlichen Interessen der Antragstellerin durfte der
Antragsgegner dem Beigeladenen die streitbefangene Befreiung erteilen. Die
Antragstellerin kann sich nicht mit Erfolg auf die Nichtberücksichtigung der Ziele
der Raumordnung und Landesplanung, die bei der Bauleitplanung zu beachten
sind (vgl. § 1 Abs. 4 BauGB), berufen. Die Ziele der Raumordnung und
Landesplanung dienen nicht den Interessen einzelner Gemeinden, sondern
übergeordneten Planungsinteressen; die Gemeinden können deshalb die
Einhaltung dieser Ziele durch eine Nachbargemeinde oder die
Genehmigungsbehörde grundsätzlich nicht beanspruchen (vgl. OVG Thüringen,
Beschluß vom 23.04.1997 - 1 EO 241/97 -, DÖV 1997, 791ff.). Die Einstufung der
Antragstellerin als Oberzentrum stellt lediglich eine Konkretisierung der Ziele der
Raumordnung und Landesplanung dar, die aber keine Schutzwirkung zugunsten
der von den Auswirkungen der Planung oder einer Einzelgenehmigung betroffenen
Nachbargemeinde begründet. Insbesondere ist nicht der Antragstellerin als
Oberzentrum ein mittelzentraler Verflechtungsbereich als klar abgegrenzter
Abzugsbereich zugewiesen, dessen "Beeinträchtigung'' - etwa durch einen
Kaufkraftabzug - sie wehrfähige Rechte entgegensetzen könnte (vgl. OVG
Thüringen, Beschluß vom 23.04.1997, a.a.O.). Die funktionale Aufgabenverteilung
dient der Stabilisierung und zielgerichteten Weiterentwicklung der
Leistungsfähigkeit und Siedlungsstruktur, d. h. einem überörtlichen Belang, so daß
der Schluß nicht zulässig ist, mit der Funktionszuweisung werde der Gemeinde
nicht nur eine bestimmte Aufgabe übertragen, sondern etwa gleichzeitig auch das
Recht, Beeinträchtigungen in der Wahrnehmung dieser Aufgabe abzuwehren (vgl.
OVG Koblenz, Beschluß vom 08.01.1999 - 8 B 12650/98 -, NVwZ 1999, 435ff.).
Die streitbefangene Befreiung im Zusammenhang mit der Baugenehmigung
verstößt auch nicht gegen das interkommunale Abstimmungsgebot des § 2 Abs. 2
BauGB. Diese Vorschrift enthält vor dem Hintergrund der Planungshoheit der
Gemeinden, die ihrerseits verfassungsrechtlich auf die Selbstverwaltungsgarantie
des Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG zurückgeht, ein Abstimmungsgebot, wonach die
Bauleitpläne benachbarter Gemeinden aufeinander abzustimmen sind. Das
interkommunale Abstimmungsgebot, das nach dem Wortlaut der Bestimmung
zwar nur für die Aufstellung von Bauleitplänen gilt, kann für die Nachbargemeinde
aber auch ein Abwehrrecht unmittelbar gegen einzelne Vorhaben begründen,
wenn sie selbst hinreichend konkrete planerische Vorstellungen benennen kann,
deren Verwirklichung durch die von ihr angefochtene Baugenehmigung unmöglich
gemacht oder zumindest nachhaltig gestört werden würden oder wenn sonstige
unmittelbare Auswirkungen gewichtiger Art in Betracht kommen (vgl. OVG
Thüringen, Beschluß vom 23.04.1997, a.a.O.). § 2 Abs. 2 BauGB verbietet nicht
jegliche Auswirkung auf die städtebauliche Ordnung der Nachbargemeinde,
sondern nur gewichtige, auch unter Anerkennung des Interesses der
Standortgemeinde nicht zu rechtfertigende, schädliche Wirkungen (vgl. OVG
Koblenz, Beschluß vom 08.01.1999, a.a.O.).
Die Antragstellerin hat keine hinreichend konkreten planerischen Vorstellungen
benennen können, deren Verwirklichung durch die von ihr angefochtene
Baugenehmigung unmöglich gemacht oder zumindest nachhaltig gestört werden
würden. Zum einen reicht der lapidare Hinweis darauf, daß noch in diesem Jahr ein
Flächennutzungsplan beschlossen werden solle, nicht einmal aus, um von der
hinreichend substantiierten Darlegung einer konkreten planerischen Vorstellung
ausgehen zu können. Zum anderen hat sich die Antragstellerin auch überhaupt
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ausgehen zu können. Zum anderen hat sich die Antragstellerin auch überhaupt
nicht zu der Frage geäußert, inwiefern durch die geplante Umnutzung von ca. 2300
qm Lagerfläche in Verkaufsfläche ihre planerischen Vorstellungen unmöglich
gemacht oder zumindest nachhaltig gestört werden würden. Solch gravierende
Auswirkungen erscheinen auch - jedenfalls bei einer summarischen Prüfung im
Eilverfahren - nicht denkbar, da die städtebaulichen Auswirkungen der Umnutzung
auf die Bauleitplanung der Antragstellerin angesichts des unveränderten
Gebäudebestandes und der Sortimentsbeschränkung des Möbelmarktes sich in
einem vernachlässigbaren Umfang bewegen dürften.
Es sind auch keine sonstigen unmittelbaren Auswirkungen gewichtiger Art
erkennbar, die im Rahmen einer Prüfung nach § 31 Abs. 2 BauGB ein Abwehrrecht
der Antragstellerin begründen könnten. Ein solches Recht kann nicht aus der
Verkehrssituation abgeleitet werden. Die Antragstellerin hat nicht hinreichend
dargelegt, weshalb eine mögliche höhere Frequentierung des Möbelmarktes für sie
zu einem relevanten Nachteil führen kann. Dies erscheint unter Berücksichtigung
der konkreten Verkehrsanbindungssituation auch kaum vorstellbar. Nach der
Überzeugung des Gerichts bewegen sich die wesentlichen Ströme des
Kundenverkehrs zum Möbelmarkt auf dem Grundstück des Beigeladenen nämlich
aus westlicher Richtung über die Bundesstraße B49 bzw. die Kreisstraßen aus L.,
A., D. und All., während Kunden aus den übrigen Richtungen überwiegend den
sogenannten "Gießener-Ring'' (Bundesautobahn) benutzen werden. Allein die
Kunden, die aus der Stadt Gießen selbst kommen, werden Straßen im
Zuständigkeitsbereich der Antragstellerin nutzen. Auf diesen wird das
Verkehrsaufkommen aber durch die genehmigte Nutzungsänderung nicht in
einem Maße steigen, daß die Antragstellerin überhaupt gezwungen sein wird, tätig
zu werden. Insoweit kommen also keine relevanten, für die Antragstellerin
nachteiligen Auswirkungen in Betracht.
Die Antragstellerin kann sich auch nicht mit Erfolg auf einen befürchteten Abfluß
von Kaufkraft aus ihrem Bereich berufen. Der durch ein Vorhaben verursachte
Kaufkraftabfluß ist grundsätzlich kein taugliches Kriterium für die Beurteilung der
von ihm ausgehenden Auswirkungen gewichtiger Art für die Nachbargemeinde und
damit auch nicht für die Begründung der aus § 2 Abs. 2 BauGB herzuleitenden
Abstimmungspflicht. Diese Norm bezweckt keinen Wettbewerbsschutz etwa gegen
Einzelhandelseinrichtungen in Nachbargemeinden, die in Konkurrenz zu
Einzelhandelseinrichtungen im eigenen Gebiet treten (OVG Thüringen, Beschluß
vom 23.04.1997, a.a.O., m.w.N.). Daß beim Umfang der durch die angefochtene
Baugenehmigung erweiterten Verkaufsfläche im vorliegenden Fall etwas anderes
gelten könnte, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.
Der Antrag der Antragstellerin hat auch dann keinen Erfolg, wenn man ihrer
Argumentation folgt und den Bebauungsplan Nr. 4, 2. Änderung "Südlich des
Dorfes'' der Gemeinde H. für nichtig hält. Anders, als die Antragstellerin meint, ist
dann nämlich der Prüfung nicht die Fassung des Bebauungsplans in seiner ersten
Änderung und auch nicht der Bebauungsplan in seiner Ursprungsfassung
zugrunde zu legen, denn diese sind - jedenfalls für den streitbefangenen
Teilbereich - funktionslos geworden.
Eine bauplanerische Festsetzung tritt wegen Funktionslosigkeit außer Kraft, wenn
und soweit die Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen
Entwicklung einen Zustand erreicht habe, der eine Verwirklichung der Festsetzung
auf unabsehbare Zeit ausschließt und die Erkennbarkeit dieser Tatsache einen
Grad erreicht hat, der einem etwa dennoch in die Fortgeltung der Festsetzung
gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nimmt (BVerwG, Urteil vom 29.04.1977
- IV C 39.75 -, BVerwGE 54, 5ff.). Beide vorgenannten Bebauungspläne setzen für
das Grundstück des Beigeladenen ein Gewerbegebiet bzw. Fläche für die
Landwirtschaft fest. Tatsächlich befindet sich aber dort ein Möbelmarkt, der
aufgrund seiner Größe nur in einem ausgewiesenen Sondergebiet zulässig ist.
Somit ist für jeden Betrachter eindeutig erkennbar, daß in dem streitbefangenen
Bereich aufgrund der tatsächlichen Entwicklung ein Zustand eingetreten ist, der es
auf unabsehbare Zeit ausschließt, die Festsetzungen der genannten früheren
Fassungen des Bebauungsplans zu verwirklichen. Folgte man also der Ansicht der
Antragstellerin, daß der Bebauungsplan Nr. 4 "Südlich des Dorfes'' der Gemeinde
H. in der Fassung seiner 2. Änderung nichtig ist, so bestünde - jedenfalls für das
streitbefangene Grundstück des Beigeladenen - kein wirksamer Bebauungsplan
und der rechtlichen Prüfung wäre § 34 BauGB zugrunde zu legen, wobei sich auch
hier die Prüfung auf einer Verletzung subjektiver Rechte der Antragstellerin
beschränkt.
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Nach § 34 Abs. 1 BauGB ist ein Vorhaben innerhalb der im Zusammenhang
bebauten Ortsteile zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen
Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die
Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist. Die
Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse müssen gewahrt
bleiben; das Ortsbild darf nicht beeinträchtigt werden. § 34 BauGB erleichtert im
Vergleich mit § 34 BBauG die Zulassung von Vorhaben im unbeplanten
Innenbereich insofern, als in seinem Abs. 1 das Tatbestandsmerkmal "wenn
sonstige öffentliche Belange nicht entgegenstehen'' weggefallen ist. Somit kann
ein Vorhaben nicht mehr daran scheitern, daß ihm sonstige öffentliche Belange
entgegengehalten werden. Es bedarf deshalb keiner Prüfung, wie die Ziele der
Raumordnung und Landesplanung, auf die sich die Antragstellerin beruft, zu
qualifizieren sind. Auch als öffentlicher Belang würden sie sich gegenüber dem
Bauvorhaben des Beigeladenen nicht (mehr) durchzusetzen vermögen (vgl.
BVerwG, Urteil vom 11.02.1993 - 4 C 15/92 -, NVwZ 1994, 285ff.).
Die in § 34 Abs. 1 BauGB genannten Kriterien sind auch keiner Anreicherung um
Elemente zugänglich, die sich als zusätzliche Zulässigkeitshürden erwiesen. Dies
trifft nicht zuletzt für etwaige Zielvorgaben der Raumordnung zu (BVerwG, Urteil
vom 11.02.1993, a.a.O.). Wie bereits ausgeführt, kann sich die Antragstellerin nicht
mit Erfolg auf die Nichtberücksichtigung der Ziele der Raumordnung und
Landesplanung, die bei der Bauleitplanung zu beachten sind (vgl. § 1 Abs. 4
BauGB), berufen.
Auch die Eigenart der näheren Umgebung, die allein den nach § 34 Abs. 1 BauGB
maßgeblichen (kleinräumlichen) Bezugsrahmen bildet, kommt nicht als tauglicher
Anknüpfungspunkt dafür in Betracht, den Zielen der Raumordnung und
Landesplanung bei Vorhaben im unbeplanten Innenbereich Geltung zu
verschaffen. Aus dem Umstand, daß der Gesetzgeber das Erfordernis des
Einfügens auf den im Vergleich zum Ortsteil engeren Begriff der näherem
Umgebung bezieht, läßt sich folgern, daß die prägende Wirkung, die von diesen
Merkmalen einerseits in Richtung auf das Vorhaben und andererseits in Richtung
auf dessen räumliches Umfeld ausgeht, nicht über den Ortsteil hinausreicht und
erst recht nicht dem Fernwirkungen gleichzusetzen ist, auf die sich die Normen der
Raumordnung und Landesplanung beziehen. Die Eigenart der näheren Umgebung
äußert sich in Merkmalen, die nur der tatsächlich vorhandenen Bebauung
entnommen werden können. Grundstückseigenschaften, die in den optisch
wahrnehmbaren Gegebenheiten keinen Niederschlag gefunden haben, müssen
außer Betracht bleiben. Dies gilt auch für raumordnerische Standortfestlegungen,
die sich in überörtlich motivierten planerischen Aussagen erschöpfen. Ziele der
Raumordnung und Landesplanung enthalten keine unmittelbare Außenwirksamkeit
(BVerwG, Urteil vom 11.02.1993, a.a.O.).
Die streitbefangene Baugenehmigung verstößt auch nicht gegen das
interkommunale Abstimmungsgebot des § 2 Abs. 2 BauGB. Insoweit gilt bei der
Prüfung nach § 34 Abs. 1 BauGB nichts anderes als das bereits im Rahmen von §
31 Abs. 2 BauGB ausgeführte.
Nach alledem ist der Antrag der Antragstellerin mit der Kostenfolge nach § 154
Abs. 1 VwGO abzulehnen. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen sind
erstattungsfähig (§ 162 Abs. 3 VwGO), da er einen Antrag gestellt und sich somit
einem eigenen Kostenrisiko ausgesetzt hat (§ 154 Abs. 3 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 13 Abs. 1, 20 Abs. 3 GKG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.