Urteil des VG Gießen vom 13.03.1997

VG Gießen: amnesty international, festnahme, eigenes verschulden, politische verfolgung, flüchtlingshilfe, gefahr, asylbewerber, anerkennung, anhörung, bundesamt

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Gericht:
VG Gießen 10.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
10 E 30179/94
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 16a GG , § 26a AsylVfG , §
51 Abs 1 AuslG , § 53 AuslG
Tatbestand
Der Kläger, türkischer Staatsangehöriger und nach eigenen Angaben kurdischer
Volkszugehörigkeit, wohnte zuletzt in Konya, bevor er auf der Ladefläche eines
Lkw's im August 1993 ausreiste und über einen unbekannten Grenzübergang in
die Bundesrepublik einreiste. Hier beantragte er seine Anerkennung als
Asylberechtigter. Während seiner Anhörung vor dem Bundesamt für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge im September 1993 begründete er den
Asylantrag im wesentlichen damit, daß sie in Konya eine Gruppe von ca. zehn
Personen gegründet hätten, um den Kurden zu helfen. Einer von ihnen, ein Türke,
habe sie angezeigt und sie seien festgenommen und zur Wache gebracht worden.
Vom Revier aus seien sie dem Gericht vorgeführt worden. Ihm seien Paß und
Nüfus abgenommen worden. Er habe sich noch einmal vor Gericht melden sollen.
Bei der Nüfus- Behörde habe er einen neuen Paß beantragen wollen. Er sei dabei
als Kurde beschimpft worden, woraufhin er aggressiv geworden sei. Er sei deshalb
erneut festgenommen und für drei Tage auf das Revier gebracht worden. Mit der
Gruppe hätten sie Geld in den Dörfern gesammelt. Dies sei im März und April
gewesen. Am 10. oder 15.05.93 sei er festgenommen worden. Sie seien in Yüknak
gewesen, weil sie einen Aufstand hätten organisieren wollen. Dort seien sie
festgenommen worden.
Auf Nachfrage des Anhörers erklärte der Kläger dann, sie seien im Taxi auf dem
Weg nach Yüknak gewesen, als sie in eine Ausweiskontrolle gekommen seien.
Dabei seien vier von ihnen festgenommen worden. Sie seien vier Tage lang
festgehalten worden, der Paß sei ihnen abgenommen worden und dann seien sie
freigelassen worden. Er hätte im November aber noch einmal vor Gericht
erscheinen müssen.
Den Termin habe ihm der Richter gegeben. Im 11. Monat hätte ein Urteil fallen
sollen. Aus Angst habe er dann die Türkei verlassen. Insgesamt sei er viermal
festgenommen worden und zweimal vor Gericht gestellt worden. Die genauen
Daten wisse er nicht mehr. Die zweite Festnahme sei ca. zehn bis fünfzehn Tage
nach der ersten gewesen. Die Festnahme im Nüfus-Büro sei im 3. oder 4. Monat
des Jahres 1993 gewesen.
Eine Frage des Anhörers, ob er nach der zweiten Festnahme noch einmal
festgenommen worden sei, beantwortete der Kläger mit nein.
Mit Bescheid vom 22.11.1993 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge den Asylantrag ab. Dieser Bescheid wurde ausweislich
einer in der Behördenakte befindlichen Postzustellungsurkunde am 05.01.1994
zugestellt und am 18.01.1994 hat der Kläger Klage erhoben. Nachdem der Kläger
das gerichtliche Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts nicht betrieben hat, ist
das Klageverfahren durch Beschluß des Gerichts vom 17.11.1995 gemäß § 81
AsylVfG eingestellt worden. Dagegen macht der Kläger geltend, sein früherer
Prozeßbevollmächtigter habe jegliche Tätigkeit für ihn unterlassen, er habe die
gerichtlichen Aufforderungen nicht mitgeteilt. Außerdem habe er dem früheren
Bevollmächtigten bereits Ende Dezember 1994 das Mandat entzogen.
Der Kläger beantragt,
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den Beschluß vom 17.11.1995 aufzuheben und das Klageverfahren
fortzuführen, den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge vom 22.11.1993 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den
Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen und festzustellen, daß die
Voraussetzungen der §§ 51 Abs.1 und 53 AuslG vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Im Termin der mündlichen Verhandlung vom 13.03.1997 ist der Kläger
informatorisch angehört worden. Wegen des Ergebnisses der Anhörung wird auf
die Verhandlungsniederschrift verwiesen.
Beigezogen und zum Gegenstand der Verhandlung wurden gemacht: die
Gerichtsakte, die Behördenakte des Bundesamtes sowie die Erkenntnisunterlagen
zur Türkei, über deren Inhalt die Verfahrensbeteiligten vorab durch Übersendung
einer Quellenliste informiert worden waren.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig.
Soweit der Kläger beantragt hat, den Beschluß des Gerichts vom 17.11.1995
aufzuheben und das Klageverfahren fortzuführen, ist die Klage auch begründet. Zu
Unrecht ist das Klageverfahren wegen Nichtbetreibens eingestellt worden. Der
Kläger hat ohne eigenes Verschulden das Klageverfahren nicht weiterbetrieben.
Analog § 60 Abs.1 VwGO ist das Verfahren fortzuführen. Denn das Klageverfahren
wurde allein aufgrund des rechtswidrigen und mißbräuchlichen Verhaltens des
früheren Verfahrensbevollmächtigten des Klägers nicht betrieben. Nach dem Inhalt
der Gerichtsakte hat der frühere Prozeßbevollmächtigte die Handakte hat
vorgelegen - den Kläger nicht über den Stand des Klageverfahrens informiert und
ihm gerichtliche Anfragen nicht weitergeleitet. Der Bevollmächtigte selbst ist
gegenüber dem Gericht nicht tätig geworden. Dieses Verhalten des früheren
Prozeßbevollmächtigten ist derart rechtsmißbräuchlich, daß es dem Kläger nicht
zugerechnet werden kann. Darüber hinaus spricht einiges dafür, daß das
Mandatsverhältnis zum früheren Bevollmächtigten des Klägers bereits beendet
war, als das Gericht die Betreibensaufforderung diesem Bevollmächtigten
zustellte. Da der frühere Bevollmächtigte nicht mehr Prozeßbevollmächtigter war,
konnte ihm auch die Betreibensaufforderung nicht rechtswirksam zugehen.
Die Klage ist aber im übrigen unbegründet.
Der Kläger hat keinen Rechtsanspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter nach
Art.16a GG oder auf die Feststellung, daß die Voraussetzungen des § 51 AuslG
vorliegen oder Abschiebungshindernisse im Sinne des § 53 AuslG bestehen. Der
angefochtene Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge vom 22.11.1993 ist im Ergebnis rechtmäßig; vgl. § 113 Abs.1 S.1, Abs.5
VwGO.
Eine Asylanerkennung des Klägers nach Art.16a Abs.1 GG kommt bereits deshalb
nicht in Betracht, weil der Kläger aus einem sicheren Drittstaat im Sinne des
Art.16a Abs.2 GG, § 26a AsylVfG eingereist ist. Der Kläger ist auf dem Landwege
(mit einem Lkw) in die Bundesrepublik eingereist. Er muß mithin über einen Staat
der Europäischen Gemeinschaft oder einen in Anlage I zu § 26a Abs.2 AsylVfG
genannten sicheren Staat eingereist sein. Nach der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts kann in
derartigen Fällen ein Asylbewerber sich nicht auf Art.16a Abs.1 GG berufen, da er
Verfolgungssicherheit bereits im sicheren Drittstaat hätte erlangen können, ohne
daß feststehen muß, über konkret welchen Drittstaat der Asylbewerber eingereist
ist (vgl. BVerfG, Urteile vom 14.05.1996, Az.: 2 BvR 1938/93 und 2315/93; BVerwG,
Urteil vom 07.11.1995, Az.: 9 C 73.95).
Es liegen aber auch die Voraussetzungen des § 51 Abs.1 AuslG nicht vor, so daß
der Kläger auch insoweit nicht Verfolgungsschutz erlangen kann. In der Türkei ist
das Leben oder die Freiheit des Klägers wegen seiner Rasse, Religion,
Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
oder wegen seiner politischen Überzeugung nicht bedroht. Zu dieser Überzeugung
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oder wegen seiner politischen Überzeugung nicht bedroht. Zu dieser Überzeugung
gelangt das Gericht unter Auswertung der Dokumente zur Lage in der Türkei und
unter Berücksichtigung der Angaben des Klägers im Laufe seines Verfahrens. Der
Kläger hat die Türkei nicht wegen politischer Verfolgung verlassen. Zu dieser
Einschätzung gelangt das Gericht bereits deshalb, weil die Angaben des Klägers zu
seinen Asylgründen nicht schlüssig sind. Es finden sich vielmehr zahlreiche nicht
aufklärbare Widersprüche. Bereits im Protokoll über die Anhörung vor dem
Bundesamt finden sich zahlreiche Widersprüche. Die Erklärung des Klägers dazu,
er sei bei der Anhörung seelisch sehr gestört gewesen, ist für das Gericht keine
plausible Begründung. Auch hat der Kläger nie im Laufe des Klageverfahrens die
Widersprüche klargestellt.
So hat der Kläger während der Anhörung vor dem Bundesamt behauptet, die
Festnahme im Nüfusbüro sei im 3. oder 4. Monat 1993 gewesen und die
Festnahme in Yüknak sei am 10. oder 15. Mai gewesen. Die Zeitangabe
widerspricht aber den sonstigen Erklärungen des Klägers. Denn er will erst
anläßlich der Festnahme im Mai vom Gericht aufgefordert worden sein, sich im
Nüfusbüro einen neuen Paß ausstellen zu lassen.
Dann hat der Kläger zunächst behauptet, eine Festnahme wäre in Yüknak
gewesen, nachdem sie dort einen Aufstand hatten organisieren wollen. Danach
aber hat der Kläger vorgetragen, sie seien bereits auf dem Weg nach Yüknak im
Taxi während einer polizeilichen Ausweiskontrolle festgenommen worden.
Schließlich hat der Kläger vor dem Bundesamt behauptet, insgesamt viermal
festgenommen und zweimal vor Gericht gestellt worden zu sein. Tatsächlich
schildert er nur zwei Festnahmen und nur ein Erscheinen vor Gericht.
Auch die Angaben des Klägers während seiner informatorischen Anhörung vor
Gericht haben keine Klarheit in seine Schilderungen gebracht. Hier behauptet der
Kläger nun erstmals, er sei einem Staatsanwalt und nicht einem Gericht vorgeführt
worden. An die Daten der Festnahmen kann er sich nicht mehr erinnern. Er will nur
noch wissen, daß es Anfang 1993 gewesen sei. Es ist für das Gericht nicht
nachzuvollziehen, daß derart erhebliche und einschneidende Ereignisse vom
Kläger ca. vier Jahre später nicht mehr zeitlich konkreter eingeordnet werden
können. Hinzu kommt, daß der Kläger vor Gericht eine dritte Festnahme erwähnt,
die in Konya stattgefunden haben soll, während sie Propaganda gemacht haben
wollen. Hierbei handelt es sich um einen neuen Vortrag. Diese Festnahme hatte
der Kläger bisher nicht erwähnt.
Nach alledem und unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der Kläger auch bei
gerichtlichen Nachfragen nur ausweichend und wenig substantiiert hat antworten
können, hat sich das Gericht nicht die Überzeugung bilden können, die vom Kläger
vorgetragenen Ereignisse seien wahrheitsgemäß.
Der Kläger ist auch bei einer Rückkehr in die Türkei hinreichend sicher vor
politischer Verfolgung. Das Gericht wendet diesen herabgestuften
Prognosemaßstab an, da nach seiner Auffassung in den derzeit zehn unter
Notstandsrecht stehenden Provinzen im Südosten der Türkei eine gegen Kurden
gerichtete Gruppenverfolgung stattfindet. Wenn in einem Teil des Staatsgebietes
unmittelbare oder vom Staat zu vertretende mittelbare Verfolgung stattfindet, so
erweist sich der Heimatstaat als ein Verfolgerstaat, wobei es ohne Bedeutung ist,
ob die politische Verfolgung in dem Gebiet, in dem der Ausländer vor seiner
Ausreise gelebt hat, oder außerhalb dieses Gebietes stattfindet (vgl. BVerwG,
Urteil vom 16.02.1993, EZAR 203 Nr.7).
Trotz einer Kurden in den Notstandsgebieten drohenden politischen Verfolgung ist
der Kläger jedenfalls deshalb bei einer Rückkehr sicher, weil ihm eine inländische
Fluchtalternative zur Seite steht.
Nach Überzeugung des Gerichts ist gegenwärtig und auf absehbare Zeit eine
inländische Fluchtalternative für Kurden in den westlichen Landesteilen der Türkei,
insbesondere in den dortigen Großstädten, wie etwa Istanbul, Izmir und Ankara,
gegeben. Nach den hier vorliegenden Erkenntnisquellen müssen Kurden dort nicht
begründete Furcht vor Übergriffen durch staatliche Stellen haben, jedenfalls dann
nicht, wenn sie sich in ihrer Heimatregion nicht aktiv und hervorgehoben für die
separatistischen Ziele, insbesondere der PKK, eingesetzt hatten. So geht das
Auswärtige Amt (AA) in zahlreichen Berichten und Stellungnahmen davon aus, daß
die Kurden im Westen der Türkei nicht allein aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit
staatlichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien (AA, Lagebericht vom
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staatlichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt seien (AA, Lagebericht vom
13.03.1995; AA, Lagebericht vom 07.12.1995; Lagebericht vom 13.08.1996). Auch
Rumpf kommt zu dem Ergebnis, daß eine gezielte Vorgehensweise türkischer
staatlicher Stellen gegen Kurden nur aufgrund deren ethnischer Zugehörigkeit
nicht festzustellen sei (Rumpf an VG Frankfurt/M. vom 30.06.1994), jedenfalls dann
nicht, wenn kein konkreter Verdacht der Unterstützung der PKK im Heimatgebiet
vorausgegangen sei (Rumpf an VG Köln vom 25.08.1994).
Für Personen, deren Herkunft aus den südöstlichen Regionen des Landes z.B.
anhand der Personalpapiere festgestellt werden kann ohne daß sie damit
notwendigerweise ethnisch als Kurden bezeichnet werden müßten (vgl. dazu
Rumpf an VG Köln vom 21.03.1995 und Rumpf an VG Aachen vom 01.10.1995) -
kann jedoch eher die Möglichkeit bestehen, in den Verdacht des "Separatismus"
zu geraten als für Personen anderer territorialer Herkunft (AA, Lagebericht vom
07.12.1995; Oberdiek an VG Köln vom 01.11.1994).
Denn die Aktivitäten der PKK, die in erster Linie mit dem in der Türkei strafrechtlich
sanktionierten separatistischen Gedankengut und dem Versuch, dieses gewaltsam
durchzusetzen, in Verbindung gebracht wird, haben ihren Ursprung im Südosten
der Türkei genommen und finden nach wie vor schwerpunktmäßig dort statt
(Sternberg-Spohr vor VG Düsseldorf am 19.08.1981; AA an VG Oldenburg vom
27.07.1990; Kaya an VG Köln vom 20.10.1993; AA, Lagebericht vom 13.03.1995;
AA, Lagebericht vom 07.12.1995).
In Einzelfällen kann auch die Gefahr bestehen, eingehenderen Verhören und
hierbei auch Mißhandlungen ausgesetzt zu sein. Soweit in diesem
Zusammenhang von Willkürmaßnahmen der Sicherheitskräfte berichtet wird
(Gesellschaft für bedrohte Völker an VG Frankfurt vom 23.09.1993; medico
international, "Innenansichten eines schmutzigen Krieges", März 1994; a.i. Bericht
vom Oktober 1995), fallen diese angesichts der Vielzahl der in der Westtürkei
lebenden Kurden nach Auffassung des Gerichts aber nicht derart ins Gewicht, daß
ernsthafte Zweifel (vgl. hierzu BVerwG vom 08.09.1992, 9 C 62/91, NVwZ 1993,
191) an der Sicherheit der Kurden vor politischer Verfolgung im Westen der Türkei
begründet wären.
Derzeit leben in Istanbul bei einer Einwohnerzahl von 8 bis 12 Millionen rund 3
Millionen Kurden, deren Zahl durch die ständigen Zuwanderungen - von Anfang
1992 bis Anfang 1995 etwa 1,5 Millionen (Kaya an VG Aachen vom 11.04.1995) -
weiter im Steigen begriffen ist (Rumpf an VG Frankfurt vom 30.06.1994; Oberdiek
an VG Köln vom 01.11.1994; AA, Lagebericht vom 07.12.1995), in Izmir leben bei
einer Einwohnerzahl von 3 Millionen etwa 800.000 Kurden, in Adana bei einer
Einwohnerzahl von rund 2 Millionen 700.000 Kurden (Oberdiek für Schweizerische
Flüchtlingshilfe vom 15.10.1994). Daher können die von Oberdiek (Gutachten für
Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 15.10.1994) genannten Zahlen (etwa 150
Verhaftungen in Izmir in einem Zeitraum von acht Monaten, 260 Verhaftungen in
Adana in einem Zeitraum von zwei Monaten) und die für den Zeitraum Oktober
1994 bis "erste Monate" 1995 geschilderten Verhaftungen (Oberdiek an VG
München vom 26.05.1995) ernsthafte Zweifel an der Sicherheit der Kurden vor
politischer Verfolgung im Westen der Türkei nicht begründen, selbst wenn man
davon ausginge, die Verhaftungen seien allein auf die kurdische
Volkszugehörigkeit der Betroffenen zurückzuführen gewesen. Für Letzteres fehlen
indes nach Überzeugung des Gerichts auch in den sonstigen, in verschiedenen
Gutachten geschilderten Fällen ausreichende Anhaltspunkte; hinzu kommt, daß
deren Zahl ohnehin als gering einzustufen ist, zumal die Einzelfallschilderungen
sich in verschiedenen Stellungnahmen wiederholen (vgl. amnesty international (ai)
vom November 1992; ai vom 10.12.1992; ai an VG Wiesbaden vom 05.02.1993; ai
an VG Frankfurt vom 20.04.1994; ai an VG Köln vom 03.03.1995; Gesellschaft für
bedrohte Völker an VG Frankfurt vom 23.09.1993; Oberdiek vom 03.03.1993).
Auch die Dokumentation des IHD Istanbul über 222 Folterfälle aus dem Jahr 1993
(Bestandteil des Berichts über die Delegationsreise vom März 1994) enthält
keinen Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen den dort erfaßten Übergriffen
und Volkszugehörigkeit oder politischer Zuordnung der Opfer; aus der Liste ist
nicht ersichtlich, ob es sich hierbei um Türken oder Kurden gehandelt hat.
Kurden droht in der Westtürkei auch nicht die Gefahr von dem Staat
zurechenbaren Übergriffen Dritter. Zwar kommt es hin und wieder zu - auch
tätlichen - Auseinandersetzungen zwischen Türken und Kurden (ai vom
21.08.1993; AA, Gesellschaft für bedrohte Völker an VG Frankfurt vom 23.09.1993;
Oberdiek an VG Köln vom 01.11.1994; Rumpf an VG Frankfurt vom 30.06.1994;
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Oberdiek an VG Köln vom 01.11.1994; Rumpf an VG Frankfurt vom 30.06.1994;
AA, Lagebericht vom 13.03.1995; Rumpf an VG Köln vom 21.03.1995), und nach
einer Reihe von Anschlägen war auch innerhalb der türkischen Bevölkerung eine
zunehmende Kurdenfeindlichkeit zu beobachten (Oberdiek für Schweizerische
Flüchtlingshilfe vom 15.10.1994; Rumpf an VG Köln vom 21.03.1995; Kaya an VG
Aachen vom 11.04.1995; Oberdiek an VG München vom 26.05.1995; AA,
Lagebericht vom 07.12.1995), aber auch 1994, 1995 und im ersten Halbjahr 1996
hat es keine größeren Unruhen zwischen Türken und Kurden gegeben (AA,
Lagebericht vom 07.12.1995; AA, Lagebericht vom 13.08.1996). Die geschilderten
Vorkommnisse haben jedenfalls nicht eine Quantität und Qualität erreicht, daß von
einem Verfolgungstatbestand auszugehen wäre, insbesondere kann von einer
Pogromstimmung im Land nach den hier vorliegenden Erkenntnisquellen nicht
gesprochen werden (Rumpf an VG Frankfurt vom 30.06.1994; AA, Lagebericht vom
13.03.1995). Zudem ist zumindest fraglich, inwieweit die geschilderten Vorfälle
dem türkischen Staat überhaupt zugerechnet werden können; es ist nämlich nicht
ersichtlich, daß der Staat Kurden insoweit bewußt schutzlos stellen würde.
Kurden drohen im Westen der Türkei schließlich auch keine sonstigen
Gefährdungen, die einer asylrelevanten Beeinträchtigung gleichkämen. Da die
Kurden fast ausschließlich dem islamischen Glauben und damit der in der Türkei
vorherrschenden Religion angehören, steht die Wahrung des religiösen
Existenzminimums außer Frage, und zwar auch für die ohnehin nicht auf Moscheen
und die sonstigen Rituale des Islams angewiesenen Aleviten (AA an VG Ansbach
vom 30.04.1990; AA an VG Wiesbaden vom 03.01.1994; Kaya an OVG Hamburg
vom 04.11.1994). Den kurdischen Volkszugehörigen ist darüber hinaus die
Wahrung des wirtschaftlichen Existenzminimums in den westlichen Landesteilen
der Türkei möglich. Sie finden dort insbesondere in vielfältigen wirtschaftlichen
Nischen nach wie vor die Möglichkeit, sich und ihren Familien ein - wenn auch
bescheidenes - Auskommen zu sichern (Rumpf an VG Bremen vom 15.09.1992;
Rumpf an VG Frankfurt vom 30.06.1994; AA, Lagebericht vom 07.12.1995; sowie
exemplarisch: Rumpf an VG Aachen vom 01.10.1995). Dabei ist zu
berücksichtigten, daß die wirtschaftliche Lage in der gesamten Türkei schlecht, die
Arbeitslosigkeit hoch und das Bruttosozialprodukt niedrig ist (Oberdiek an VG Köln
vom 01.11.1994; Kaya an VG Aachen vom 11.04.1995; AA, Lagebericht vom
07.12.1995;). Insbesondere ist hier ein starkes WestOst-Gefälle festzustellen, das
nach wie vor - und nicht nur wegen der bürgerkriegsähnlichen Zustände in den
Notstandsprovinzen, sondern auch aus rein wirtschaftlichen Gründen - eine
kontinuierliche Wanderungsbewegung der Menschen vom Osten in den Westen
bedingt (Rumpf an VG Frankfurt vom 30.06.1994; Oberdiek für Schweizerische
Flüchtlingshilfe vom 15.10.1994; Rumpf an VG Köln vom 21.03.1995; AA,
Lagebericht vom 07.12.1995). Die große Zahl von Zuwanderern (Rumpf an VG
Frankfurt vom 30.06.1994) trifft im Westen auf eine insgesamt angespannte
Arbeitsmarktlage, die jedoch die Nichtkurden genauso betrifft (AA, Lagebericht
vom 13.03.1995), so daß Kurden und Türken die gleichen Lebensverhältnisse in
der jeweiligen Region teilen (AA, Lagebericht vom 07.12.1995). Zwar gehen
mittlerweile einige Gutachter davon aus, daß Kurden die schlechte wirtschaftliche
Situation eher und deutlicher zu spüren bekämen als Nichtkurden und daher
immer mehr Kurden sogar am Rande oder unter dem Existenzminimum zu leben
hätten (Oberdiek für Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 15.10.1994; ai vom
17.11.1994; Oberdiek an VG München vom 26.05.1995). Indes ist angesichts der
zahlenmäßigen Stärke der Kurden und ihres engen familiären Zusammenhalts
davon auszugehen, daß die Kurden ihr Auskommen im Westen immer noch eher
als in dem ökonomisch schlechter gestellten Südosten zu finden in der Lage sind
(so im Ergebnis auch: Rumpf an VG Hamburg vom 31.10.1990; medico
international vom März 1994; ai an VG Frankfurt vom 20.04.1994), jedenfalls bei
den heutigen Bedingungen, unter denen im Südosten nicht einmal mehr die dort
überwiegend betriebene Landwirtschaft weitergeführt werden kann (Oberdiek für
Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 15.10.1994; AA, Lagebericht vom 13.03.1995).
Der zu einem anderen Ergebnis kommende Delegationsbericht vom März 1994 ist
demgegenüber nicht überzeugend, weil er lediglich auf der Befragung einzelner
Kurden beruht, im übrigen aber keine vergleichenden Zahlen und Angaben zur
Situation der türkischen Bevölkerung insgesamt enthält und die Angaben somit
nicht überprüfbar und nachvollziehbar sind. So räumt auch Oberdiek ein, daß
jedenfalls dann, wenn Verwandte im Westen bereits ansässig sind, Zuwanderer,
gleich, ob sie aus dem Osten des Landes oder dem Ausland hinzureisen, dort
Aufnahme, Unterschlupf und schließlich auch ein Auskommen finden können
(Oberdiek für Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 15.10.1994).
Für Kurden besteht etwa nach wie vor die Möglichkeit, Arbeit auf Baustellen, im
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Für Kurden besteht etwa nach wie vor die Möglichkeit, Arbeit auf Baustellen, im
Tourismussektor (Rumpf an VG Frankfurt vom 30.06.1994) oder als
Straßenhändler (ai an VG Frankfurt vom 20.04.1994) zu finden. Selbst wenn dies,
wie Rumpf meint (Rumpf an VG Köln vom 21.03.1995), zunehmend schwieriger
werden sollte, außerdem Straßenhändler vermehrt in ihrer Tätigkeit behindert
würden (so Oberdiek für Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 15.10.1994; ai an VG
Köln vom 03.03.1995; Oberdiek an VG München vom 26.05.1995), ist doch
angesichts der insoweit fehlenden, genügend hohen Zahlen oder anderweitiger
konkreter Anhaltspunkte zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht davon auszugehen,
daß dadurch Kurden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (vgl. dazu: BVerwG vom
16.06.1988, 9 C 1.88, InfAuslR 1989, 107; BVerfG vom 10.07.1989, 2 BvR 502/86
u.a. = BVerfGE 80, 315, 344f.) die Gefahr eines Lebens unter dem
Existenzminimum drohen würde (vgl. AA, Lagebericht vom 13.03.1995; AA,
Lagebericht vom 07.12.1995).
Diese Einschätzung des Gerichts zum Bestehen einer inländischen
Fluchtalternative für Kurden in den westlichen Landesteilen der Türkei entspricht im
übrigen der überwiegenden obergerichtlichen Rechtsprechung (Hess.VGH vom
24.01.1994, 12 UE 200/91; Hess.VGH vom 05.02.1996, 12 UE 4176/95; Hess.VGH
vom 16.09.1996, 12 UE 3033/95; Niedersächsisches OVG vom 23.11.1995, 11 L
6076/91; VGH Baden-Württemberg vom 14.12.1995, A 12 S 2279/93;
Hamburgisches OVG vom 23.08.1995, Bf V 88/89; OVG Nordrhein-Westfalen vom
11.03.1996, 25 A 5801/94; OVG Saarlouis vom 05.10.1994, 9 R 74/92).
Soweit das OVG Schleswig-Holstein für Kurden, die in letzter Zeit aus den
Notstandsgebieten , bestimmten hieran angrenzenden Provinzen oder den
sogenannten ursprünglichen kurdischen Siedlungsgebieten in den Westen
abgewandert sind, das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative verneint hat
(Urteile vom 26.04.1995, 4 L 18/95, und vom 22.06.1995, 4 L 30/94), ist dem nicht
zu folgen. Die angeführten Entscheidungen, die inzwischen vom
Bundesverwaltungsgericht aufgehoben wurden (BVerwG vom 30.04.1996, 9 C
170/95 - DVBl. 1996, 1257 = NVwZ 1996, 1110 und 9 C 171/95 -, DVBl. 1996,
1260 = NVwz 1996, 1113) entsprechen nicht den Grundsätzen der
höchstrichterlichen Rechtsprechung zur regionalbegrenzten staatlichen
Gruppenverfolgung (vgl. auch Hess.VGH vom 16.09.1996, 12 UE 3033/95).
Das Gericht ist überzeugt davon (vgl. BVerwG vom 08.09.1992, 9 C 62/91, NVwZ
1991, 191), daß kurdische Volkszugehörige ohne Gefahr asylrelevanter
Verfolgungsmaßnahmen die Westtürkei sicher erreichen können.
Ob bei Befragungen von zurückkehrenden Asylbewerbern an der Grenze oder am
Flughafen Folter angewandt wird, wird von den dem Gericht vorliegenden Quellen
stets nur vermutet. So legt Kaya (an Schleswig-Holsteinisches OVG vom
02.06.1993) dar, daß die Behandlung eines zurückkehrenden Asylbewerbers von
zahlreichen Faktoren abhänge. So sollen Kurden eher als Nichtkurden und
Personen aus den Ausnahmezustandsgebieten eher als solche aus der Westtürkei
in die Gefahr geraten, mit größerem Druck befragt zu werden. Konkrete Beispiele
für Folterungen werden jedoch nicht genannt. Die von amnesty international (ai)
(Bericht vom 21.08.1993) angeführten vier Beispiele von Folterungen aus dem
Zeitraum von Ende 1990 bis Frühjahr 1992 sind nur pauschal geschildert und es
fehlen Details, die Rückschlüsse auf die Wahrheit der aufgestellten Behauptungen
zuließen. In anderen Stellungnahmen (Rumpf an VG Düsseldorf vom 01.07.1992;
Kaya an VG Aachen vom 20.09.1993) wird eingeräumt, daß konkrete Fälle in
letzter Zeit nicht (Kaya a.a.O.) oder nur für weiter zurückliegende Zeiträume durch
vereinzelte Nachrichten aus der türkischen Presse (Rumpf a.a.O.) belegt werden
können. So ist Kaya nur eine Verhaftung im April 1993 ohne Informationen über
die Hintergründe bekannt geworden (Kaya a.a.O.). Amnesty international erwähnt
in der Stellungnahme vom 19.07.1996 namentlich vier Fälle von abgeschobenen
Kurden, die nach ihrer Abschiebung in der Türkei gefoltert oder mißhandelt worden
sein sollen (Riza Askin, Murat Fani, Abdurrahman Tekin und Ayhan Bugrahan). In
jüngeren Auskünften und Presseberichten wurden zuvor bereits verschiedene Fälle
von Rückkehrern geschildert, die bei der Einreise gefoltert worden seien. Jedoch
läßt sich in Anbetracht der geringen Anzahl der insgesamt vorgetragenen Fälle von
Mißhandlungen ("Lindauer Zeitung" vom 19.03.1994 (Fall Murat Fani); ai an VG
Frankfurt vom 20.04.1994 (6 Fälle); "Die Woche" vom 05.05.1994 und Auswärtiges
Amt an VG Gießen vom 15.06.1994 (Fall Cetin); Rumpf an VG Frankfurt vom
30.06.1994 und an VG Köln vom 25.08.1994 (8 Fälle)) und angesichts des
Umstandes, daß etwa allein 1994 über 3.500 Personen, darunter über 2.000
abgelehnte Asylbewerber (AA, Lagebericht vom 07.12.1995) und 1995 2.610
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abgelehnte Asylbewerber (AA, Lagebericht vom 07.12.1995) und 1995 2.610
Personen, darunter mindestens 1.234 abgelehnte Asylbewerber (AA, Lagebericht
vom 13.08.1996) von Deutschland aus in die Türkei abgeschoben wurden, nicht
der Schluß ziehen, daß zurückkehrende Asylbewerber routinemäßig inhaftiert und
asylrelevanter Folterung ausgesetzt würden.
Es ist davon auszugehen, daß Personen, die in die Türkei einreisen, an der Grenze
kontrolliert werden. Verfügen sie über keine gültigen Personalpapiere (mehr),
kommt es regelmäßig zu eingehenderen Befragungen; Anhaltspunkte dafür, daß
es hierbei regelmäßig auch zu Mißhandlungen kommt, gibt es nicht. Die Gefahr
von Mißhandlungen scheint vielmehr erst aufzutreten, wenn in der Person des
Rückkehrers Besonderheiten (insbesondere Mitgliedschaft oder Unterstützung der
PKK) vorliegen, so daß er der politischen Abteilung der türkischen Sicherheitskräfte
übergeben wird. Wenn indes nichts gegen die Person vorliegt, ist nach der
Feststellung ihrer Identität mit alsbaldiger Freilassung zu rechnen. Zu dieser
Einschätzung gelangen sowohl das Auswärtige Amt (AA) als auch Rumpf in
mehreren Stellungnahmen (vgl. AA, Lagebericht vom 13.08.1996; Rumpf an VG
Frankfurt vom 30.06.1994; Rumpf an VG Köln vom 25.08.1994).
Angesichts der dargestellten Erkenntnislage vermag die Auffassung des OVG
Rheinland-Pfalz (vgl. Urteil vom 02.09.1993, 13 A 10185/92, AuAS 1994, 7; vom
16.12.1994, 13 A 11579/94), das von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit von
Mißhandlungen bei der Einreise für zurückkehrende kurdische Asylbewerber
ausgeht, nicht zu überzeugen. So ist auch nach der Rechtsprechung der Mehrzahl
der Obergerichte davon auszugehen, daß - sofern keine Besonderheiten vorliegen
(vgl. hierzu jetzt auch: OVG Rheinland-Pfalz vom 04.12.1995, 10 A 12970/93) -
zurückkehrenden kurdischen Asylbewerbern nicht die Gefahr droht, an der Grenze
oder am Flughafen staatlichen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein (vgl.
Hess.VGH vom 05.02.1996, 12 UE 4176/95; VGH Baden-Württemberg vom
14.12.1995, A 12 S 227//93; Hamburgisches OVG vom 23.08.1995, OVG Bf V
88/89; OVG Nordrhein-Westfalen vom 11.03.1996, 25 A 5801/94).
Für den Kläger gelten zu den vorstehenden Feststellungen keine Besonderheiten.
Zum einen hat er schon nicht schlüssig und glaubhaft darlegen können, daß ihm
vor der Ausreise wegen Eintretens für kurdische Interessen asylerhebliche
Nachteile widerfahren sind, so daß ein Verfolgungsinteresse türkischer Behörden
gegenüber dem Kläger nicht ersichtlich ist. Zum anderen gibt es keinen Hinweis
darauf, daß die türkischen Behörden heute (noch) ein politisch motiviertes
Interesse an dem Kläger hegen könnten. Er ist nie durch gewalttätige oder
herausragende Aktionen für die Sache der Kurden in Erscheinung getreten. Selbst
wenn man die Sachverhaltsangaben des Klägers als wahr unterstellen will, dann
belegen sie kein politisches Verfolgungsinteresse der Behörden. Offenbar hat man
gegen den Kläger nichts in der Hand gehabt, denn er ist nach kurzfristigen
Festnahmen immer wieder freigelassen worden.
Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich auch, daß
Abschiebungshindernisse im Sinne des § 53 AuslG nicht vorliegen.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert.