Urteil des VG Gießen vom 03.11.1994

VG Gießen: aufenthaltserlaubnis, treu und glauben, geschiedene frau, arbeitserlaubnis, öffentliche ordnung, lebensgemeinschaft, arbeitsmarkt, eugh, firma, arbeitslosigkeit

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Gericht:
VG Gießen 7.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
7 E 1219/93
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 12 Abs 2 AuslG 1990, § 43
AuslG 1990, Art 6 Abs 1
EWGAssRBes 1/80, Art 6 Abs 2
EWGAssRBes 1/80
(Zur ordnungsgemäßen Beschäftigung iSd EWGAssRBes
1/80 Art 6 Abs 1; zum Widerruf einer Aufenthaltserlaubnis;
zum Beurteilungszeitpunkt)
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Versagung der Verlängerung seiner
Aufenthaltserlaubnis.
Der Kläger, der sich bereits Anfang der 80er Jahre zur Ausbildung in der
Bundesrepublik Deutschland aufgehalten hatte, reiste 1984 mit einem
Besuchervisum erneut in das Bundesgebiet ein und heiratete am 08.02.1985 eine
deutsche Staatsangehörige. Auf seinen Antrag vom 04.03.1985 hin erteilte ihm
die zuständige Ausländerbehörde am 05.11.1987 eine bis zum 04.11.1990 gültige
Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung.
Am 13.03.1985 hatte der Kläger bereits eine bis zum 04.03.1990 befristete,
unbeschränkte Arbeitserlaubnis erhalten, die, auf die Beschäftigung bei der Fa. S.
beschränkt, bis zum 04.03.1992 verlängert wurde. Seit dem 12.02.1992 ist der
Kläger im Besitz einer unbeschränkten und unbefristeten Arbeitserlaubnis. Er
arbeitete seit dem 05.09.1988 zumindest bis zum 05.01.1993 bei der F ... und ist
seit dem 01.06.1994 bei der F ... beschäftigt
Am 12.01.1988 wurde die Ehe des Klägers mit der deutschen Staatsangehörigen
geschieden. Die geschiedene Frau des Klägers gab im Scheidungstermin zu
Protokoll> eine eheliche Lebensgemeinschaft mit dem Kläger habe nie bestanden,
sie habe ihn nur geheiratet, damit er eine Aufenthaltserlaubnis habe erhalten
können.
Am 11.10.1990 beantragte der Kläger die Verlängerung seiner
Aufenthaltserlaubnis.
Mit Bescheid vom 22.01.1992 lehnte der Landrat des Verlängerung der
Aufenthaltserlaubnis ab> forderte den Kläger unter Fristsetzung zur Ausreise auf
und drohte ihm die Abschiebung an, falls er nicht freiwillig ausreise. Die ihm
gesetzte Frist wurde zuletzt bis zum 17.11.1993 verlängert Zur Begründung der
ablehnenden Entscheidung führte die Ausländerbehörde im wesentlichen aus, dem
Kläger stehe ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht zu, da er
nicht mehr in ehelicher Lebensgemeinschaft mit einer deutschen
Staatsangehörigen lebe und ein eigenständiges Aufenthaltsrecht aufgrund der
Scheinehe nicht habe erwerben können. Auch stehe, weil er sich die erste
Aufenthaltserlaubnis erschlichen habe, der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
entgegen, daß der Aufenthalt des Klägers öffentliche Interessen der
Bundesrepublik Deutschland beeinträchtige. Ein Anspruch aufgrund des
Assoziationsratsbeschlusses EWG /Türkei Nr. 1/80 stehe ihm nicht zu, da dieses
Abkommen unmittelbar kein Aufenthaltsrecht vermitteln könne. Wegen der
weiteren Einzelheiten wird auf den Wortlaut des Bescheides vom 22.01.1992 Bezug
genommen.
Den gegen diesen Bescheid eingelegten Widerspruch des Klägers wies das
Regierungspräsidium Darmstadt mit Bescheid vom 26.08.1993 zurück Die
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Regierungspräsidium Darmstadt mit Bescheid vom 26.08.1993 zurück Die
Widerspruchsbehörde führte zur Begründung aus> ein Anspruch auf Verlängerung
der Aufenthaltserlaubnis aufgrund des Assoziationsratsbeschlusses EWG /Türkei
Nr. 1/80 sei ausgeschlossen, da eine schutzwürdige Ehe des Klägers nie
bestanden habe und die ihm erteilte Aufenthaltserlaubnis gem. § 48 HVwVfG hätte
zurückgenommen werden können Außerdem habe er den Straftatbestand des §
92 Abs. 1 Nr. 7 AuslG erfüllt, da er sich durch falsche Angaben eine
Aufenthaltserlaubnis erschlichen habe, so daß auch ein Ausweisungsgrund
vorliege.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Wortlaut des
Widerspruchsbescheides vom 26.08.1993 Bezug genommen.
Mit Schriftsatz vom 03.09.1993 hat der Kläger am 06.09.1993 Klage erhoben.
Er behauptet, zwischen ihm und seiner geschiedenen Frau habe über ein Jahr eine
eheliche Lebensgemeinschaft bestanden Die Ehe sei auch nicht nur zum Schein
geschlossen worden. Die geschiedene Frau des Klägers habe dies nur zu Protokoll
gegeben, damit eine schnelle und billige Scheidung habe durchgeführt werden
können.
Er ist der Auffassung, ihm stehe aus Art 6 Abs. l des Assoziationsratsbeschlusses
EWG /Türkei Nr. 1/80 ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Landrates des Wetteraukreises vom 22.01.1992 in der Fassung
des Widerspruchsbescheides des Regierungspräsidiums Darmstadt vom
26.08.1993 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten> dem Kläger eine
Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen
Er bezieht sich zur Begründung auf die angefochtenen Entscheidungen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt
der Gerichtsakte und herbeigezogenen Behördenakte (l Hefter) Bezug
genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet, denn die Ablehnung der Verlängerung der
Aufenthaltserlaubnis des Klägers ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen
Rechten (§113 Abs. 5 VwGO). Der Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger erneut eine
Aufenthaltserlaubnis zu erteilen
Der Kläger hat einen Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis zwar
nicht aufgrund der Vorschriften des Ausländergesetzes (AuslG). Die
Ausländerbehörde ist aber verpflichtet, ihm eine Aufenthaltserlaubnis aufgrund der
Regelungen des Assoziationsratsbeschlusses zwischen der EG und der Türkei Nr.
1/80 (ARB 1/80) zu erteilen
Der Kläger erfüllt nicht die Voraussetzungen, nach denen ihm eine
Aufenthaltserlaubnis nach nationalem Recht erteilt werden könnte.
Eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis gemäß § 19 AuslG nach Aufhebung
der ehelichen Lebensgemeinschaft kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil
eine eheliche Lebensgemeinschaft des Klägers mit einer deutschen
Staatsangehörigen unstreitig keine drei Jahren bestanden hat und von daher
bereits die Mindestzeit von drei Jahren (§19 Abs. l S. l Nr. 2 AuslG) nicht erfüllt ist
Eine Aufenthaltserlaubnis ist dem Kläger auch nicht gemäß §§ 23 Abs. 1 Nr. 1, 17
AuslG zu erteilen> da die Ehe mit einer deutschen Staatsangehörigen bereits vor
Beantragung der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis geschieden worden
war.
Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur
Arbeitsaufnahme gemäß § 10 AuslG i.V.m. der Arbeitsaufenthalteverordnung
(AAV). Die Voraussetzungen, unter denen nach der AAV eine Aufenthaltserlaubnis
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(AAV). Die Voraussetzungen, unter denen nach der AAV eine Aufenthaltserlaubnis
zur Arbeitsaufnahme erteilt werden kann, liegen angesichts der von dem Kläger
ausgeübten Tätigkeit, die nicht den Tatbestand einer der in der AAV genannten
privilegierten Tätigkeiten erfüllt, nicht vor.
Entgegen den Ausführungen des Landrates ... Ausländerbehörde darüberhinaus
auch nicht eröffnet, gemäß § 7 AuslG nach freiem Ermessen über die
Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zu entscheiden. Sind für die im Fall des
Klägers aus nationalem Recht in Betracht kommenden Aufenthaltsgründe die
gesetzlichen Voraussetzungen, unter denen einem Ausländer ein Anspruch auf
Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung zusteht bzw. der Ausländerbehörde
erlaubt wird, dem Ausländer nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen eine
Aufenthaltsgenehmigung zu erteilen, nicht erfüllt, ist für eine vom Landrat des
Wetteraukreises für möglich gehaltene allgemeine Ermessensentscheidung
gemäß § 7 AuslG kein Raum mehr. Das AuslG legt die Bedingungen für die Einreise
und den Aufenthalt von Ausländern entsprechend dem jeweils angestrebten
Aufenthaltszweck genau fest und berücksichtigt z.B. allgemeine Härtefälle unter
den wiederum abschließenden Voraussetzungen der §§ 30 ff. AuslG. Eine wie vom
Landrat des Wetteraukreises getroffene Ermessensentscheidung kommt von
daher nur noch dann in Betracht, wenn das AuslG für den von dem Ausländer
angestrebten Aufenthaltszweck keine Regelung enthält, wie das z.B. bei
selbständig Erwerbstätigen der Fall ist (Hess.VGH, Beschluß vom 24.08.1992 - l3
TH 533/92-). Sind dagegen, wie im vorliegenden Fall, für den angestrebten
Aufenthaltszweck bzw. die sonstigen in Betracht kommenden Aufenthaltsgründe
des Ausländers die einschlägigen Voraussetzungen nicht erfüllt, ist die zuständige
Ausländerbehörde weder verpflichtet noch berechtigt, weitere
Ermessenserwägungen hinsichtlich der Erteilung bzw. Verlängerung einer
Aufenthaltsgenehmigung anzustellen (Hess. VG H, a.a.O.). Ermessen im Sinne
von § 7 AuslG ist somit nur dort auszuüben, wo Ermessensvorschriften bestehen.
Der Kläger hat jedoch Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund
der Regelung des Art 6 Abs. 11. Spiegelstrich ARB 1/80.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in zwei grundlegenden Urteilen ("Sevince-
Urteil" vom 20.09.1990, InfAuslR 1991, 2; "Kus-Urteil" vom 16.12.1992, InfAuslR
1993, 41) entschieden, daß die Regelungen des Art 6 Abs. l ARB 1/80 in den
Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft unmittelbare Wirkung haben und,
obwohl sie unmittelbar nur die beschäftigungsrechtliche Stellung der türkischen
Arbeitnehmer regeln, zwangsläufig implizieren, daß dem türkischen Arbeitnehmer
zumindest zu diesem Zeitpunkt ein Aufenthaltsrecht zusteht, weil andernfalls das
Recht, das sie den Arbeitnehmern zuerkennen, völlig wirkungslos wäre (EuGH,
a.a.O.). Der türkische Arbeitnehmer kann daher aus Art 6 Abs. l ARB 1/80 auch
einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis herleiten, selbst wenn der
Grund, aus dem ihm zuvor eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wurde> nicht mehr
fortbesteht
Der Kläger hat danach Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis.
Dabei legt die Kammer folgendes Verständnis vom Regelungsinhalt des Art 6 Abs.
1, 2 ARB 1/80 auch im Hinblick auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
zugrunde:
Nach Auffassung der Kammer stellt die Regelung in den drei Spiegelstrichen des
Art 6 Abs. 1 ARB 1/80 ein Stufenverhältnis dar, das die Position des türkischen
Arbeitnehmers auf dem Arbeitsmarkt eines EG-Mitgliedsstaates mit dem
Erreichen einer weiteren Stufe immer weiter festigt, bis mit dem Erreichen der
Voraussetzungen des 3. Spiegelstriches ein freier Zugang zum Arbeitsmarkt
erreicht ist Dabei ist vor allem zu berücksichtigen, daß die Regelung des Art 6 Abs.
1 ARB 1/80 grundsätzlich auch bei den Voraussetzungen des 1. Spiegelstriches
über das Merkmal der ordnungsgemäßen Beschäftigung an eine gesicherte und
nicht nur vorläufige Position des türkischen Arbeitnehmers auf dem Arbeitsmarkt
anknüpft (EuGH, U. v. 20.09.1990, a.a.O.; U. v. 16.12.1992, a.a.O.) und nach
Auffassung der Kammer diese auch weiterhin sichern will Daraus ergibt sich, daß
über den 1. Spiegelstrich dem türkischen Arbeitnehmer nur ein Anspruch auf
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für den Arbeitsplatz entsteht, bei dem er im
Zeitpunkt des Ablaufs seiner letzten Arbeitserlaubnis beschäftigt war. Ein
Anspruch auf Arbeitsplatzwechsel bzw. eine uneingeschränkte Arbeitserlaubnis ist
in diesem Stadium von der Regelung nicht gewollt, da die Position des
Arbeitnehmers weiter verfestigt werden soll, was grundsätzlich durch einen
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Arbeitnehmers weiter verfestigt werden soll, was grundsätzlich durch einen
ständigen Arbeitsplatzwechsel und kurzfristige Arbeitsverhältnisse nicht erreicht
wird. Erst nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung, wenn also der
türkische Arbeitnehmer bereits über eine gesicherte Position verfügt, ist die
Arbeitserlaubnis nicht mehr auf einen Arbeitsplatz beschränkt zu erteilen. Dabei ist
zu berücksichtigen, daß die Regelung des ARB 1/80 nur Mindeststandards festlegt
und nicht an die nationalen Regelungen anknüpft, die möglicherweise (zuvor)
weitergehende Ansprüche eingeräumt haben. Aus der Regelung in Art 6 Abs. 2
ARB 1/80 ergibt sich zudem im Umkehrschluß, daß bereits entstandene Ansprüche
durch verschuldete Arbeitslosigkeit wieder untergehen. Das bedeutet, daß ein
türkischer Arbeitnehmer, der über 4 Jahre ordnungsgemäß beschäftigt war und
dann sein Arbeitsverhältnis kündigt, sämtliche Ansprüche verliert und wieder bei
"Null" anfängt, d.h. er erwirbt erst nach einem weiteren Jahr ordnungsgemäßer
Beschäftigung erneut einen Anspruch aus Art 6 Abs. 11. Spiegelstrich ARB 1/80,
soweit die übrigen Voraussetzungen vorliegen. Die Regelung des Art 6 Abs. 2 ARB
1180 macht nach Auffassung der Kammer ebenfalls deutlich, daß über den
Assoziationsratsbeschluß nur dauerhafte Beschäftigungen türkischer
Arbeitnehmer gesichert werden sollen und kein uneingeschränkter Zugang zu den
Arbeitsmärkten der Mitgliedsstaaten gewollt ist
Daran orientiert ist auch zu prüfen, ob dem türkischen Arbeitnehmer aufgrund der
Regelungen des ARB 1/80 ein Anspruch auf Verlängerung einer
Aufenthaltserlaubnis zusteht Nur in dem Umfang, in dem er Anspruch auf
Verlängerung seiner Arbeitserlaubnis hätte, hat er auch Anspruch auf
Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis. Von Bedeutung ist daher z.B. nicht, daß
er nach dem nationalen Recht etwa über eine uneingeschränkte Arbeitserlaubnis
verfügt, die ihm auch schon nach einem recht kurzen Aufenthalt beliebige
Arbeitsplatzwechsel ermöglicht (vgl. §§ 2 Abs. 1 Nr. 1, 4 Abs. 2
Arbeitserlaubnisverordnung - AEVO-).
Mit dem Merkmal "ordnungsgemäße Beschäftigung knüpft die Regelung des Art 6
Abs. 1 ARB 1/80 an das jeweilige nationale Recht an, nach dem - mangels
konkreter Regelungen im ARB 1/80 - allein festgestellt werden kann, ob die Position
des türkischen Arbeitnehmers aufenthaltsrechtlich und arbeitsrechtlich gesichert
war. Dabei bedeutet "ordnungsgemäß", daß der türkische Arbeitnehmer sowohl
über eine Aufenthaltserlaubnis verfügte als auch daß seine Beschäftigung über
eine Arbeitserlaubnis erlaubt war.
Der Kläger, der seit dem 05.03.1985 ununterbrochen über eine Arbeitserlaubnis
verfügt, die nur vom 05.03.1990 bis zum 04.03.1992 auf eine Beschäftigung bei
der F... beschränkt war, war zum einen im Zeitpunkt des Ablaufes seiner
Aufenthaltserlaubnis mehr als ein Jahr und zudem ununterbrochen bei demselben
Arbeitgeber beschäftigt und verfügte zum anderen dort sowohl zu diesem
Zeitpunkt als auch im Zeitpunkt der Entscheidung der Ausländerbehörde über
seinen Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis über einen Arbeitsplatz.
Dem steht auch nicht entgegen, daß der Kläger im Zeitpunkt dieser gerichtlichen
Entscheidung nicht mehr bei dieser Firma, bei der er mittlerweile mehr als 4 Jahre
ununterbrochen gearbeitet hatte, über einen Arbeitsplatz verfügt, sondern
nunmehr bei einer anderen Firma arbeitet.
Nach Auffassung der Kammer ist - entgegen der bei Verpflichtungsklagen (auch
auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis) grundsätzlich maßgeblichen Sachlage
und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (BVerwG U. v.
18.08.1981, EZAR 104 Nr. 4) - für die Frage, ob die Voraussetzungen für die
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund des Art 6 Abs. 1 ARB 1/80 vorliegen,
zu berücksichtigen, daß dem türkischen Arbeitnehmer durch diese Regelungen
Rechtspositionen eingeräumt werden, die ihm nach spätestens vier Jahren
ordnungsgemäßer Beschäftigung den freien Zugang zum Arbeitsmarkt des
jeweiligen Mitgliedsstaates einräumen. Dieser Rechtspositionen geht der
Ausländer, das ergibt sich aus dem Umkehrschluß der Regelung in Art 6 Abs. 2
ARB 1/80, nur noch durch verschuldete Arbeitslosigkeit verlustig Dies verbietet es,
dem türkischen Arbeitnehmer das Risiko einer möglicherweise erst nach Jahren
rechtskräftigen Entscheidung über seinen Antrag aufzuerlegen und zu verlangen,
daß uneingeschränkt sämtliche Voraussetzungen insbesondere des 1.
Spiegelstriches auch im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch vorliegen.
So hat der EuGH in der Entscheidung vom 16.12.1992 ("Kus-Urteil", a.a.O.) darauf
hingewiesen> daß der Betroffene, dem endgültig ein Aufenthaltsrecht zuerkannt
wird, rückwirkend so zu behandeln ist, als habe er während des fraglichen
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wird, rückwirkend so zu behandeln ist, als habe er während des fraglichen
Zeitraums ein nicht nur vorläufiges sondern ein gesichertes Aufenthaltsrecht und
daher eine gesicherte Stellung auf dem Arbeitsmarkt besessen Von daher ist bei
der gerichtlichen Entscheidung zu berücksichtigen, ob der Kläger, hätte die
Ausländerbehörde unverzüglich über seinen Antrag entschieden, einen Anspruch
auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis gehabt hätte> ohne daß dieser
Anspruch aufgrund verschuldeter Arbeitslosigkeit oder aus anderen Gründen (Art
14 ARB 1/80) im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung wieder entfallen wäre.
Dabei ist dann auch zu berücksichtigen, daß ein türkischer Arbeitnehmer nach 3
Jahren in demselben Beruf den Arbeitgeber auch von sich aus wechseln darf und
nach 4 Jahren völlig frei in der Wahl seines Arbeitsplatzes ist Es ist nicht mit dem
Sinn dieser Vorschrift zu vereinbaren, daß ein türkischer Arbeitnehmer durch eine
verzögerliche und rechtswidrige Ablehnung seines Antrages durch die Behörde
aufgrund langer Verfahrensdauer eine Aufenthaltserlaubnis nicht erhält, weil er
zum Beispiel nicht mehr über den selben Arbeitsplatz verfügt wie bei der
Antragstellung, obwohl er, erhielte er sie, aufgrund der Rückwirkung sogar ad hoc
über eine noch verfestigtere Rechtsposition verfügen würde. Andererseits ist
jedoch zu berücksichtigen, ob im Zeitpunkt der endgültigen (gerichtlichen)
Entscheidung eventuell andere Gründe der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
entgegenstehen, denn es widerspricht dem deutschen Verwaltungsprozeßrecht,
eine Behörde zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu verpflichten> die diese
aus anderen> bisher nicht berücksichtigten Gründen sofort wieder befristen
könnte und dann auch nicht verpflichtet wäre, erneut zu erteilen.
Lediglich für die Frage, ob die Zeiten "ordnungsgemäßer" Beschäftigung erfüllt
waren, ist naturgemäß rückblickend auf den Zeitpunkt der Antragstellung bzw. des
Ablaufs der Aufenthaltserlaubnis abzustellen> da danach der türkische
Arbeitnehmer zwangsläufig nicht mehr über eine aufenthaltsrechtlich gesicherte
Position verfügen konnte, da ihm allenfalls noch ein vorläufiges Bleiberecht nach §
69 Abs. 2 oder 3 AuslG eingeräumt war.
Nach diesen Grundsätzen erfüllte der Kläger, erteilte man ihm heute die dann
nach der Rechtsprechung des EuGH rückwirkende Aufenthaltserlaubnis, durch
seine über 4-jährige durch seine Arbeitserlaubnis gedeckte Beschäftigung bei der
Firma S. und mangels verschuldeter Arbeitslosigkeit bereits die Voraussetzungen
des Art 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich ARB /1/80. Es schadet daher nicht, daß er heute
bei einer anderen Firma arbeitet als zum Zeitpunkt seiner Antragstellung.
Dabei kann offen bleiben, ob der Kläger, wovon die Ausländerbehörde
ausgegangen ist, mit seiner deutschen Ehefrau lediglich eine Scheinehe geführt
hat Eine "ordnungsgemäße Beschäftigung i.S.v. Art 6 Abs. l ARB 1/80 setzt nicht
voraus, daß die Aufenthaltserlaubnis, aufgrund der der Aufenthalt des Ausländers
erlaubt war, materiell rechtmäßig war. Das ergibt sich daraus, daß nach dem
nationalen Ausländerrecht, das für die Beurteilung der Ordnungsmäßigkeit der
Beschäftigung im Hinblick auf den Aufenthalt maßgebend ist, eine
Aufenthaltserlaubnis nicht rückwirkend zurückgenommen, sondern nur unter den
Voraussetzungen des § 43 AuslG widerrufen bzw. gemäß § l2 AuslG für die Zukunft
befristet werden kann. Angesichts dieser nach Auffassung der Kammer
abschließenden Regelungen im AuslG verbietet sich ein Rückgriff auf das
Verwaltungsverfahrensgesetz (§ 1 Abs. 1 HVwVfG). Kann also dem Ausländer der
formelle Status des rechtmäßigen Aufenthalts grundsätzlich nicht rückwirkend
genommen werden, kann ihm nach Auffassung der Kammer dieser Status auch
nicht über die Auslegung von Begriffen wie "ordnungsgemäßer" oder
"rechtmäßiger" Aufenthalt im Sinne von "materieller" Ordnungsmäßigkeit oder
Rechtmäßigkeit genommen werden. Dies würde den o.g. Regelungen des AuslG
widersprechen. Der Ausländerbehörde stehen nach dem AuslG ausreichend
Instrumentarien zur Beendigung des ordnungsmäßigen oder rechtmäßigen
Aufenthalts zur Verfügung, die sie ggf. zu nutzen hat, die aber, nutzt sie sie nicht,
nicht dem Ausländer zum Nachteil gereichen können
Nach Auffassung der Kammer kann dem Kläger auch nicht unter Hinweis auf den
Grundsatz von Treu und Glauben die Berufung auf seine einmal erlangte formelle
Rechtsposition verwehrt werden (so aber VGH Baden-Württemberg, Urteil vom
31.01.1994, 1 S 1053/93). Ein Rückgriff auf diesen Grundsatz verbietet sich schon
deshalb, weil das nationale Ausländerrecht der Behörde ausreichend Möglichkeiten
bietet, auf "unredliches" Verhalten zu reagieren. Unterläßt sie dies, kann dies nicht
durch einen Rückgriff auf den Grundsatz von Treu und Glauben unterlaufen
werden.
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Der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis stehen im Zeitpunkt der gerichtlichen
Entscheidung auch keine zwingenden Versagungsgründe entgegen.
Solche können sich, da ein Anspruch nach Art 6 Abs. 1 ARB 1/80 in Frage steht
allenfalls aus Art 14 Abs. 1 ARB 1/80 ergeben. Auch hierbei kann nach Auffassung
der Kammer offen bleiben, ob der Kläger eine Scheinehe geführt hat, da dies nicht
zur Versagung der Aufenthaltserlaubnis aufgrund von Art 14 Abs. 1 ARB 1/80
führen kann "Beschränkungen" i.S.v. Art 14 Abs. 1 ARB 1/80 sind die nach dem
nationalem Recht vorgesehenen Aufenthaltsbeschränkungen. Es handelt sich nach
Auffassung der Kammer also nicht um eine Generalklausel, die die Behörde
losgelöst von den nationalen Vorschriften ermächtigt, eine Aufenthaltserlaubnis zu
versagen oder Ausweisungen auszusprechen. Letztlich kommt es aber auf eine
Entscheidung dieser Rechtsfrage auch nicht entscheidend an, denn auch aufgrund
von Art 14 Abs. 1 ARB 1/80 unmittelbar ausgesprochene Beschränkungen lassen
sich jedenfalls im Einzelfall nur rechtfertigen, wenn in vergleichbaren Fällen auch
das nationale Recht dies rechtfertigen würde, weil sonst ein Verstoß gegen die
öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit nicht zu begründen wäre.
Nach diesen Grundsätzen stehen derzeit Gründe der öffentlichen Ordnung,
Sicherheit oder Gesundheit der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen.
Da über Art 6 Abs. 1 1. Spiegelstrich ARB 1/80 dem Kläger ein Anspruch auf
Erteilung der Aufenthaltserlaubnis eingeräumt wird, stünde allein das Vorliegen
eines Ausweisungsgrundes der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen
Das ergibt sich insbesondere aus §§ 7, 8 AuslG. Danach stellt allein das Vorliegen
eines Ausweisungsgrundes einen Regelversagungsgrund nur dar, wenn ein
Anspruch auf die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht besteht (§ 7 Abs. 1, 2 Nr.
1 AuslG). Besteht dagegen ein Anspruch auf die begehrte Aufenthaltserlaubnis,
kann diese nur versagt werden, wenn eine Ausweisung auch tatsächlich erfolgt ist
(§ 8 Abs. 2 S. 1 AuslG). Ausnahmen von diesem Grundsatz sind jeweils besonders
geregelt (vgl. § 17 Abs. 5 AuslG und die auf ihn ausdrücklich verweisenden
Normen, z.B. § 23 Abs. 3 AuslG). An einer derartigen Sonderregelung bzw. einer
Regelung für einen vergleichbaren Fall mangelt es hier jedoch, so daß allein das
Vorliegen eines Ausweisungsgrundes nicht ausreichte, dem Kläger die
Aufenthaltserlaubnis zu versagen.
Weitere Versagungsgründe, die es in einem vergleichbaren Fall nach dem
nationalen Recht rechtfertigen würden, dem Kläger die Aufenthaltserlaubnis zu
verweigern, liegen nicht vor.
Nach alledem steht dem Kläger ein Anspruch auf Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis nach Art 6 Abs. II. Spiegelstrich ARB 1/80 zu.
Da die Ablehnung des Antrages auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis
damit rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt, war sie
aufzuheben und, da der Kläger Anspruch auf Verlängerung seiner
Aufenthaltserlaubnis hat, die entsprechende Verpflichtung des Beklagten
auszusprechen.
Mit der Aufhebung des ablehnenden Bescheides bzw. der Erteilung der
Aufenthaltserlaubnis entfällt auch die Ausreisepflicht des Klägers und deren
Vollziehbarkeit gemäß § 42 Abs. 1, 2 S. 2 AuslG, so daß die in dem Bescheid vom
22.01.1992 enthaltene Abschiebungsandrohung ebenfalls rechtswidrig ist (§ 49
Abs. 1 AuslG) und deshalb aufzuheben war.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.