Urteil des VG Gießen vom 20.04.2004

VG Gießen: vorläufiger rechtsschutz, feststellungsklage, stadt, bad, ausschluss, hessen, gefahr, einspruch, klageart, unterlassen

1
2
3
4
5
6
7
Gericht:
VG Gießen 8.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
8 G 1769/04
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 123 VwGO, § 43 VwGO
(Vorbeugendes Feststellungsbegehren im einstweiligen
Rechtsschutzverfahren (hier: Kommunalverfassungsrecht))
Gründe
Der am 13.04.2004 bei Gericht eingegangene Antrag,
vorläufig bis zur Entscheidung über die noch zu erhebende vorbeugende
Feststellungsklage festzustellen, dass die Antragstellerin nicht von der Mitwirkung
an der bevorstehenden Entscheidung der Stadtverordnetenversammlung der
Stadt A-Stadt über die Gültigkeit der Bürgermeisterwahl vom 7. März 2004
(einschließlich der Entscheidung über den gegen diese Wahl erhobenen Einspruch)
ausgeschlossen ist,
bleibt ohne Erfolg.
Im vorliegenden Fall sind die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen
Anordnung nicht erfüllt.
Nach § 123 Abs. 1 S. 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung
erlassen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden
Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder
wesentlich erschwert werden könnte und gemäß § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO kann eine
einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein
streitiges Rechtsverhältnis getroffen werden, wenn diese Regelung zur Vermeidung
wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Erforderlich ist, dass ein
Anordnungsgrund, die Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Entscheidung, und ein
Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht werden (§ 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2
ZPO).
Mit ihrem Antrag begehrt die Antragstellerin in der Sache eine vorbeugende
Feststellung, für die im Hauptsacheverfahren die Feststellungsklage als
zutreffende Klageart in Betracht kommt und die auch vermittelst einer
einstweiligen Anordnung nach Maßgabe des § 123 Abs. 1 VwGO grundsätzlich
gesichert zu werden vermag (vgl. z. B. Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz
im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Aufl. 1998, Rdnr. 28 m.w.N.; Redeker/von
Oertzen, VwGO, 13. Aufl. 2000, Rdnr. 9 zu § 123).
Notwendig für die Zulässigkeit vorläufigen Rechtsschutzes zur Sicherung eines im
Hauptsacheverfahren durch vorbeugende Feststellungsklage zu verfolgenden
Anspruchs ist aber, dass die vorbeugende Feststellungsklage selbst zulässig wäre
(vgl. VGH Bad.-Württ., B.v. 10.06.1987 - 6 S 3334/86 -, VBlBW 1988, 74). Hier
gebricht es an einem feststellungsfähigen Rechtsverhältnis im Sinne des § 43 Abs.
1 VwGO. Ein solches liegt nur dann vor, wenn sich die rechtlichen Beziehungen
zwischen den Verfahrensbeteiligten dergestalt verdichtet haben, dass die
Anwendung einer bestimmten Norm des öffentlichen Rechts auf einen bereits
übersehbaren Sachverhalt streitig ist (st.Rspr., z.B. BVerwG, U.v. 26.01.1996 - 8 C
19.94 -, BVerwGE 100, 262, 265; U.v. 30.09.1999 - 3 C 39.98 -, DVBl. 2000, 636).
Ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis setzt daher voraus, dass zwischen den
Beteiligten des Rechtsverhältnisses ein Meinungsstreit besteht, aus dem heraus
sich eine Seite berühmt, ein bestimmtes Tun oder Unterlassen der anderen Seite
8
9
10
sich eine Seite berühmt, ein bestimmtes Tun oder Unterlassen der anderen Seite
verlangen zu können (BVerwG, U.v. 23.01.1992 - 3 C 50.89 -, BVerwGE 98, 327,
330). Es ist nämlich nicht Aufgabe der Verwaltungsgerichte, die Beantwortung
abstrakter Rechtsfragen vorzunehmen (BVerwG, U.v. 30.09.1999, a.a.O.; U.v.
07.05.1987 - 3 C 58.85 -, BVerwGE 77, 207, 211).
Um ein in diesem Sinne konkretes streitiges Rechtsverhältnis geht es vorliegend
jedoch nicht. Die Antragstellerin hat ausgeführt, sie befürchte an einer
Entscheidung über die Gültigkeit der Wahl in der Stadtverordnetenversammlung
nicht teilnehmen zu dürfen. Sie hat aber weder vorgetragen noch glaubhaft
gemacht, dass die Stadtverordnetenversammlung in ihrem Falle überhaupt ein
Widerstreit der Interessen festzustellen beabsichtigt. Eine entsprechende
ankündigende Erklärung des Stadtverordnetenvorstehers hat die Antragstellerin
nicht dargetan. Ebenso wenig hat sie einen entsprechenden Antrag von
Mitgliedern der Stadtverordnetenversammlung glaubhaft gemacht. Etwas anderes
folgt auch nicht aus dem von der Antragstellerin vorgelegten Zeitungsbericht.
Abgesehen davon, dass die Frage, ob die Antragstellerin mit abstimmen darf, in
diesem Bericht lediglich als ungeklärtes Problem aufgeworfen und kein Mitglied der
Stadtverordnetenversammlung zitiert wird, ein Widerstreit läge im Falle der
Antragstellerin vor, kann auch nicht die in dem Presseausschnitt angegebene
Erklärung des Stadtrates D. AG., CDU und Grüne wollten in der Sondersitzung der
Stadtverordnetenversammlung, in der es um die Gültigkeit der Wahl gehe, “auf
jeden Fall alle Stadtverordneten an Bord haben..., sonst brauchen wir die Sitzung
erst gar nicht einberufen” in dem Sinne gedeutet werden, dass überhaupt ein
Ausschluss der Antragstellerin geplant sei. Den insoweit in der Antragsschrift (S.
2/3) gemachten Ausführungen, diese Erklärung belege den beabsichtigten
Ausschluss der Antragstellerin von der Sitzung der Stadtverordnetenversammlung
über die Gültigkeit der Wahl, vermag die Kammer nicht zu folgen, da dies nicht
Inhalt der Äußerung ist. Im Übrigen ist es legitim, für eine vollzählige Mitgliederzahl
Sorge zu tragen, da die Feststellung der Gültigkeit der Wahl von großer Bedeutung
für die Kommune ist.
Der Antragstellerin fehlt es darüber hinaus am Rechtsschutzbedürfnis. Bei
vorbeugenden Feststellungsklagen und bei entsprechenden Anträgen nach § 123
Abs. 1 VwGO ist ein qualifiziertes, nämlich auf die Inanspruchnahme gerade
vorbeugenden Rechtsschutzes gerichtetes Rechtsschutzinteresse erforderlich.
Dieses ist gegeben, wenn schon die kurzfristige Hinnahme der befürchteten
Handlungsweise geeignet ist, den Betroffenen in seinen Rechten in besonders
schwerwiegender Weise zu beeinträchtigen und zu befürchten ist, dass sonst
vollendete, nicht mehr ohne weiteres rückgängig zu machende Tatsachen
geschaffen werden, oder ein nicht wieder gut zu machender Schaden entsteht
(vgl. z.B. OVG Nordrhein-Westfalen, B.v. 02.03.2001 - 5 B 273/01 -, DVBl. 2001,
839; Finkelnburg/Jank, a.a.O., Rdnr. 28). Für einen vorbeugenden Rechtsschutz ist
demnach kein Raum, wenn und soweit der Betroffene in zumutbarer Weise auf den
von der VwGO als grundsätzlich angemessenen und ausreichend angesehenen
nachträglichen Rechtsschutz verwiesen werden kann (BVerwG, B.v. 20.09.1989 - 9
B 165.89 -, Juris; VGH Bad.-Württ., B.v. 06.07.1993 - 5 S 1112/93 -, NVwZ 1994,
801, 802).
Im Streitfall wäre es der Antragstellerin gegebenenfalls zuzumuten, eine
Entscheidung der Stadtverordnetenversammlung über ihren Ausschluss
abzuwarten und nachträglich Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen. Stellte die
Stadtverordnetenversammlung nämlich im Falle der Antragstellerin fest, dass ein
Widerstreit der Interessen nach § 25 HGO vorläge und nähme die Antragstellerin
daraufhin an der Beschlussfassung über die Gültigkeit der Wahl aufgrund eines
möglicherweise fehlerhaften Beschlusses der Stadtverordnetenversammlung nach
§ 25 Abs. 3 HGO nicht teil, wäre ein Fall des § 25 Abs. 6 S. 1 HGO gegeben. Nach
dieser Norm sind Beschlüsse, die unter Verletzung des Absatz 1 bis 4 gefasst
worden sind, unwirksam und die Wirksamkeit tritt nicht gegenüber demjenigen ein,
der vor Ablauf der in § 25 Abs. 6 S. 2 HGO genannten 6-Monats-Frist ein
Rechtsmittel einlegt und ein gerichtliches Verfahren anhängig gemacht hat, wenn
im Verfahren der Mangel festgestellt wird (§ 25 Abs. 6 S. 3 HGO). Der
Antragstellerin wäre es zumutbar, diesen Weg zu beschreiten. Dies gilt umso mehr
unter Berücksichtigung der sonstigen Eigentümlichkeiten eines
Kommunalverfassungsstreits. Grundsätzlich ist es nämlich Aufgabe der
Stadtverordnetenversammlung, über die Angelegenheit der Stadt zu befinden.
Zwar ist die Stadtverordnetenversammlung kein Parlament (BVerfG, B. v.
21.06.1988, 2 BvR 975/83 -, BVerfGE 78, 344, 348; BVerwG, B. v. 07.09.1992 - 7
NB 2.92 -, BVerwGE 90, 359, 362; VGH Bad. Württ., B. v. 22.03.1990, - 1 S 429/90 -
11
12
13
NB 2.92 -, BVerwGE 90, 359, 362; VGH Bad. Württ., B. v. 22.03.1990, - 1 S 429/90 -
, VBlBW 1990, 346) und genießt daher auch keinen entsprechenden Schutz vor
Eingriffen. Als Repräsentation der Bürgerschaft kann sie sich aber auf die den
Gemeinden verfassungsrechtlich gewährleistete Selbstverwaltungsgarantie gemäß
Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG berufen. Vorbeugender Rechtsschutz mit dem Ziel, die
Wahrnehmung ihrer Rechte als Stadtverordnete bereits im Vorfeld einer noch
durchzuführenden Sitzung der Stadtverordnetenversammlung einzuengen, kann
daher nicht in Betracht kommen, wenn das Kommunalrecht - wie hier - die
Möglichkeit bietet, die Unwirksamkeit des von der Antragstellerin schon jetzt
bekämpften, aber noch nicht absehbaren Beschlusses der
Stadtverordnetenversammlung ohne Probleme später feststellen zu lassen. Es
liegt auf der Hand, dass im Falle eines zu Unrecht vorgenommenen Ausschlusses
auch der Beschluss über die Gültigkeit der Wahl selbst unwirksam ist (vgl. Unger, in
Kommunalverfassungsrecht Hessen, Band 1, Stand 2003, Rdnr. 108 zu § 25 HGO).
Für den vorliegenden Rechtsstreit kommt es nach alledem nicht darauf an, ob § 26
Abs. 2 KWG, wonach an der Beratung und Beschlussfassung über die Gültigkeit der
Wahl die Mitglieder der Vertretungskörperschaft auch dann mitwirken können,
wenn sie durch die Entscheidung betroffen werden, die Frage regelt, inwieweit die
Antragstellerin an einem Beschluss über die Gültigkeit der Wahl tatsächlich
mitwirken darf.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Der Streitwert beruht auf §§ 13, 20 GKG und berücksichtigt die Vorwegnahme der
Hauptsache.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.