Urteil des VG Gießen vom 15.11.1999

VG Gießen: wichtiger grund, industrie, raumordnung, aus wichtigen gründen, landesplanung, ausweisung, bebauungsplan, befreiung, gemeinde, eingriff

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Gericht:
VG Gießen 1.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 E 1994/97
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 9 Abs 3 S 1 LPlG HE vom
29.11.1994, § 31 Abs 2 Nr 2
BauGB, Art 28 Abs 2 GG
(Zum Anspruch auf Ausnahme von Festlegungen im
Raumordnungsplan; hier: Lebensmitteldiscounter)
Tatbestand
Die Klägerin beantragte mit Schreiben vom 11.10.1996 beim Regierungspräsidium
Gießen (Obere Landesplanungsbehörde) die Zulassung einer Abweichung von dem
Regionalen Raumordnungsplan Mittelhessen 1995 (RROPM) - StAnz 1995, 1648 -
im Bereich der Kernstadt H. zur Ausweisung einer Sondergebietsfläche
Einzelhandel zur Ansiedlung eines Lebensmitteldiscounters mit einer Nutzfläche
von 600 qm auf einem 4.500 qm großen Grundstück im Bereich der südlich von H.
dargestellten Industrie- und Gewerbefläche.
Für den Bereich, in dem das für die Bebauung vorgesehene Grundstück liegt,
enthält der RROPM die Festlegung "Industrie- und Gewerbefläche-Zuwachs". In
dem RROPM ist unter dem Punkt 2.4 "Siedlungsstruktur", dem Unterpunkt 2.4.3
"Industrie- und Gewerbeflächen" und dort unter dem Punkt 2.4.3.7 (Z) als Ziel der
Landesplanung folgendes festgelegt: "Die Errichtung von Verkaufsflächen
innerhalb der "Industrie- und Gewerbeflächen-Bestand und Zuwachs" ist nur für die
Selbstvermarktung der in diesen Gebieten produzierenden und
weiterverarbeitenden Betriebe zulässig, wenn die Verkaufsfläche einen
untergeordneten Teil der durch das Betriebsgebäude überbauten Fläche
einnimmt." Die Begründung dazu lautet: "Bei abnehmenden Flächenreserven für
die gewerblich-industrielle Entwicklung und dem zunehmenden Flächenanspruch
des Groß- und Einzelhandels sind die noch geeigneten Flächen für die Ansiedlung
arbeitsplatzintensiver, produzierender und weiterverarbeitender Betriebe zu
sichern. In der jüngeren Vergangenheit hat der Einzelhandel mit der Konzentration
und Expansion der Verkaufseinrichtungen die traditionellen Versorgungsstandorte
in bzw. nahe den Wohnbereichen verlassen und mit großen, flächenintensiven
Einrichtungen die peripher gelegenen Industrie- und Gewerbeflächen belegt. Dieser
Fehlentwicklung in Teilbereichen soll entgegengewirkt werden."
Diese Industrie- und Gewerbefläche ist in dem am 29.02.1996 beschlossenen und
am 27.08.1996 in Kraft getretenen Bebauungsplan "Stadt H., Kerngebiet,
Gewerbegebiet H." der Klägerin als Industrie- und Gewerbegebiet ausgewiesen mit
der mit der Festsetzung gemäß Punkt 2.4.3.7 (Z) des RROPM inhaltsgleichen
textlichen Festsetzung (1), daß die Einrichtung von Einzelhandelsverkaufsflächen
nur für die Selbstvermarktung von produzierenden und weiterverarbeitenden
Betrieben zulässig ist, wenn die Verkaufsfläche einen untergeordneten Teil der
durch das Betriebsgebäude überbauten Betriebsfläche einnimmt. Nach der
Begründung dieses Bebauungsplans wurde mit der Ausweisung des
Gewerbegebietes das Ziel verfolgt, in den Ortslagen der Stadt ansässigen
Handwerksbetrieben und mittelständischen Unternehmen eine Expansion zu
ermöglichen und ein Mindestmaß an Angebotsflächen für gewerbliche
Neuansiedlungen zu schaffen.
Zur Begründung ihres Abweichungsantrages führte die Klägerin aus, daß auf dem
Standort in dem Gewerbegebiet zurückgegriffen werden müsse, da im Bereich der
Kernstadt keine vergleichbaren Alternativstandorte zur Verfügung stünden. Es
seien keine weiteren Flächen bauplanungsrechtlich als Misch- und Gewerbegebiet
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seien keine weiteren Flächen bauplanungsrechtlich als Misch- und Gewerbegebiet
bzw. als Sondergebiet ausgewiesen. Über einen Bebauungsplan abgedeckte
Bereiche für die Ansiedlung eines Lebensmitteldiscounters stünden nicht zur
Verfügung. Grund dafür seien fehlende Baulücken entlang der
Hauptverkehrsachsen, Standorte in Wohngebieten mit fehlender Infrastruktur und
Konfliktpotential (Fahrzeugaufkommen) und mangelnde Verkaufsbereitschaft von
Eigentümern eventuell in Frage kommender Grundstücke. Mit der Ausweisung
einer Sondergebietsfläche Einzelhandel werde der Verflechtungsbereich zwischen
H. und G. gestärkt, da die Unterzentren die Versorgungsaufgaben der
zugeordneten Qualitätsstufe in angemessener Erreichbarkeit übernehmen sollten.
Weiter wies die Klägerin darauf hin, daß in dem Geltungsbereich des vorgenannten
Bebauungsplanes 7,1 ha Gewerbefläche bebaut und 9,7 ha Gewerbefläche frei
seien. In dem RROPM sei darüber hinaus eine 10,5 ha große Erweiterungsfläche
vorgegeben. Angesichts von 20,2 ha freier bzw. potentieller Gewerbefläche nehme
die geplante Fläche für den Einzelhandel eine deutlich untergeordnete Rolle ein.
Nach ablehnender Stellungnahme der Träger öffentlicher Belange in der Oberen
Landesplanungsbehörde am 28.01.1997 und Anhörung der Klägerin unter dem
gleichen Datum ließ das Regierungspräsidium Gießen mit Bescheid vom
23.04.1997 die mit Schreiben vom 11.10.1996 beantragte Abweichung vom
RROPM nicht zu. Zur Begründung wurde ausgeführt, daß kein wichtiger Grund i. S.
v. § 8 Abs. 3 Hessisches Landesplanungsgesetz für die Abweichung vorliege. Da in
der mittelhessischen Region Mangel an Gewerbeflächen bestehe, sei das Ziel des
RROPM hochzuhalten und sollten diese Flächen nicht für Verkaufsflächen
verbraucht werden. Den Stellenwert dieses Zieles habe die Regionale
Planungsversammlung Mittelhessen mit Beschluß vom 14.04.1997 nochmals
betont. Daran vermöge die von der Klägerin vorgelegte Flächenbilanz nichts zu
ändern. Zudem sei der ins Auge gefaßte Standort nicht integriert und
ausschließlich individualverkehrsorientiert und widerspreche deshalb dem Gesetz
zur Weiterentwicklung des öffentlichen Personennahverkehrs in Hessen (ÖPNVG),
dem Hessischen Landesplanungsgesetz (HLPG) und den Erfordernissen der
Raumordnung und Landesplanung. Der Hinweis auf die mangelnde
Verkaufsbereitschaft von Eigentümern greife nicht, da die Grundversorgung der
Bevölkerung gesichert sei.
Die von der Klägerin mit Schreiben vom 05.06.1997 unter Wiederholung ihres
bisherigen Vortrags beantragte Entscheidung der Landesregierung wertete das
Regierungspräsidium Gießen nach der Abschaffung des Antrages auf Entscheidung
der Landesregierung als Widerspruch, den es mit Widerspruchsbescheid vom
19.11.1997 aus den Gründen des Bescheides vom 23.04.1997 als unbegründet
zurückwies.
Mit Schriftsatz vom 18.12.1997 hat die Klägerin Klage erhoben.
Zur Begründung führt die Klägerin aus, daß die Festlegung Nr. 2.4.3.7 (Z) in dem
RROPM nicht durch § 6 Abs. 3 Nrn. 1 bis 11 Hessisches Landesplanungsgesetz -
HLPG - gedeckt sei und gegen die in den §§ 1 und 2 HLPG normierten Aufgaben
der Raumordnung und Landesplanung verstoße. Zudem werde § 2 Abs. 3 S. 2
HLPG, wonach Raumordnung und Landesplanung die Eigenentwicklung der
Gemeinden ermöglichen solle, um den Bedarf der ortsansässigen Bevölkerung
und Wirtschaft in angemessenem Umfang befriedigen zu können, verletzt. Mit der
Nr. 2.4.3.7 (Z) sei in dem RROPM eine Regelung getroffen, die den Gemeinden
nach § 1 Abs. 5 und 9 Baunutzungsverordnung (BauNVO) in Bebauungsplänen
vorbehalten sei. Die Gründe für die Abweichung nach § 9 Abs. 3 HLPG seien in dem
Antragsverfahren detailliert dargelegt worden.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 23.04.1997 in der
Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19.11.1997 zu verpflichten, dem
Antrag auf Abweichung vom Regionalen Raumordnungsplan Mittelhessen
zuzustimmen,
hilfsweise
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 23.04.1997 in der Fassung
des Widerspruchsbescheides vom 19.11.1997 zu verpflichten, die Klägerin unter
Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Der Beklagte führt zur Begründung aus, daß die Planungshoheit der Gemeinden
außerhalb des Kernbereichs - dieser sei hier nicht tangiert - mittels der
Instrumentarien von Raumordnung und Landesplanung eingeschränkt werden
dürfe. Dazu dürften kleinräumige Planungsträger koordiniert und mit Anspruch auf
Verbindlichkeit im Interesse des Gemeinwohls der Region korrigiert werden. Hier
sei die Gebiets- und Funktionsschärfe der gerügten Ausweisung von der Sache her
gefordert und verlasse nicht die von dem regionalen Plangeber grundsätzlich zu
beachtende Ebene der Überörtlichkeit, denn Nr. 2.4.3.7 (Z) des RROPM betreffe
alle "Violett-Flächen" des RROPM, wofür es nachvollziehbare Gründe der regionalen
Flächenbewirtschaftung - Gewerbeflächenmangel in Mittelhessen - gebe. Die
Schlußfolgerung, daß den Gemeinden nach § 1 Abs. 5 und 9 BauNVO die
Möglichkeit von Einschränkungen in Bezug auf Baugebiete in Bebauungsplänen
eröffnet sei und daß deshalb der Regionalplan solche Vorgaben nicht enthalten
dürfe, sei unzulässig. Die Abweichungszulassung sei aus den in den Bescheiden
genannten Gründen zutreffend versagt worden; Ermessensfehler seien nicht
gegeben.
Wegen der weiteren Einzelheiten der Sach- und Rechtslage wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der von der Klägerin (in Kopie) vorgelegten Akte und des
vorgenannten Bebauungsplanes samt vier Ordnern Aufstellungsunterlagen sowie
des Regionalen Raumordnungsplanes Mittelhessen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist als Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung
) zulässig, da die begehrte Abweichungsentscheidung von dem
Regionalen Raumordnungsplan Mittelhessen Verwaltungsakt i. S. v. § 35 S. 1
Hessisches Verwaltungsverfahrensgesetz (HVwVfG) ist (vgl. VG Darmstadt, Urteil
vom 25.01.1995 - 2 E 1830/91(3) -, HSGZ 1996, 375).
Der Hauptantrag ist unbegründet, da die Klägerin keinen Anspruch auf die
begehrte Abweichungsentscheidung hat (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Verpflichtungsklage ist - soweit sich aus dem
anzuwendenden Recht oder aus der Natur der Sache nichts anderes ergibt - die
letzte mündliche Verhandlung, d.h. die Sach- und Rechtslage zu diesem Zeitpunkt
ist zu berücksichtigen (st. Rspr., vgl. z.B. BVerwG, Urteil vom 30.04.1998 - 1 C
12/96 -, AuAS 1998, 182; Urteil vom 24.01.1992 - 7 C 24/91 -, BVerwGE 89, 354 =
NVwZ 1992, 563; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 09.01.1990 - 10 A 1476/86
-, NJW 1990, 2216; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 30.09.1992 - 6 S 1181/91
-, VBlBW 1993, 148; Sächsisches OVG, Urteil vom 09.07.1996 - 1 S 54/96 -, ZfB
137, 24). Denn Streitgegenstand ist bei der Verpflichtungsklage der geltend
gemachte Anspruch (Vorliegen der Voraussetzungen der gesetzlichen
Anspruchsgrundlage und Rechtsfolge) und nicht seine Ablehnung (vgl. BVerwG,
Urteil vom 24.01.1992 , a.a.O.; Urteil vom 26.04.1968 - VI C 104.63 -, BVerwGE 29,
304).
Nach § 9 Abs. 3 S. 1 Hessisches Landesplanungsgesetz (HLPG) vom 29.11.1994
(GVBl. I S. 707), in Kraft getreten nach § 22 HLPG am 01.05.1997 - Teile des
Gesetzes traten nach § 22 HLPG bereits am 01.01.1996 in Kraft -, kann durch die
nach § 9 Abs. 2 S. 1 HLPG zuständige obere Landesplanungsbehörde - dies ist
nach § 16 Abs. 2 S. 1 HLPG das Regierungspräsidium - eine Abweichung von
verbindlichen Festlegungen des Regionalplans zugelassen werden, wenn sie unter
raumordnerischen Gesichtspunkten vertretbar ist und die Grundzüge des
Regionalplans nicht berührt werden.
Regionalplan (vgl. § 6 HLPG) ist hier der am 09.03.1995 von der Hessischen
Landesregierung beschlossene und am 26.04.1995 bekannt gemachte Regionale
Raumordnungsplan Mittelhessen (RROPM) (StAnz. 1995, 1648).
Der Antrag wurde noch unter Geltung des mit § 21 Abs. 1 HLPG aufgehobenen
Hessischen Landesplanungsgesetzes in der Fassung vom 01.06.1970 (GVBl. I S.
360), zuletzt geändert durch Gesetz vom 15.10.1980 (GVBl. I S. 377) - HLPG a.F. -
gestellt. Nach § 8 Abs. 3 S. 1 und 2 HLPG a.F. konnte die Abweichung aus
wichtigen Gründen von der obersten Landesplanungsbehörde oder der von ihr
bestimmten Stelle zugelassen werden. Aus Sinn und Zweck des Gesetzes folgte
als weitere Zulassungsvoraussetzung, daß die Abweichung mit den Erfordernissen
der Raumordnung und Landesplanung vereinbar ist und daß sie die Grundzüge des
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der Raumordnung und Landesplanung vereinbar ist und daß sie die Grundzüge des
Planes nicht berührt (vgl. auch den Erlaß des Hessischen Ministeriums des Innern
vom 21.08.1989 - VII A 2-93 b 02/05-509/89 - ).
Voraussetzung für die Zulassung der Abweichung ist, daß die Festsetzung, von der
abgewichen werden soll - hier Punkt 2.4.3.7 (Z) des RROPM -, wirksam ist. Dies ist
der Fall. Die diesbezüglichen Ausführungen des Beklagten in der Klageerwiderung
sind zutreffend; im einzelnen gilt folgendes:
Die einschlägige gesetzliche Regelung über die inhaltlichen Anforderungen an den
RROPM war § 4 HLPG a.F. Die von der Klägerin beigezogenen §§ 1, 2 Abs. 3 S. 2, 6
Abs. 3 Nrn. 1 bis 11 HLPG waren bei der Aufstellung des RROPM im Jahre 1995
noch nicht in Kraft (s.o.); es galt das HLPG a.F. Unter der Geltung des HLPG a.F.
festgestellte regionale Raumordnungspläne gelten nach § 20 HLPG fort. Eines
Eingehens auf die von der Klägerin beigezogenen Vorschriften des HLPG bedarf es
daher nicht.
Die Planung für eine den sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und ökologischen
Erfordernissen entsprechende Entwicklung und Raumordnung des Landes Hessen
erfolgt nach § 1 Abs. 1 HLPG a.F. nach Maßgabe dieses Gesetzes. Nach § 4 S. 1
HLPG a.F. dienen die regionalen Raumordnungspläne der sozialen, kulturellen,
wirtschaftlichen und ökologischen Entwicklung der Planungsregion.
Nach § 2 HLPG a.F. enthält das Landesraumordnungsprogramm die
raumpolitischen Grundsätze, die bei allen die Gesamtentwicklung des Landes
beeinflussenden Maßnahmen zu beachten sind, sowie die Bestimmungen, die für
die Aufstellung der regionalen Raumordnungspläne gelten. Das nach § 1
Hessisches Feststellungsgesetz ( HFestG ) vom 18.03.1970 (GVBl. I S. 265),
zuletzt geändert durch Gesetz vom 15.10.1980 (GVBl. I S. 377), festgestellte
Hessische Landesraumordnungsprogramm enthält in Teil A "auf lange Sicht
aufgestellte Ziele der Landesplanung und raumpolitische Grundsätze". § 8 des
Teiles A regelt die gewerbliche Wirtschaft. § 8 Abs. 1 lautet: "Der gewerblichen
Wirtschaft und den Dienstleistungen kommen bei der Verwirklichung der Ziele der
Landesplanung und der Raumordnung besondere Bedeutung zu. Durch
Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur ist bestehenden oder drohenden
Ungleichgewichten entgegenzuwirken. Es ist dafür zu sorgen, daß ungenügend
genutzte Produktionsfaktoren für das allgemeine Wirtschaftswachstum mobilisiert
werden." § 8 Abs. 4 lautet: "Vor allem in Entwicklungsgebieten sind geeignete
zentrale Orte als gewerbliche Schwerpunkte zu bestimmen. Durch eine verstärkte
Ansiedlung gewerblicher Unternehmen und entsprechende infrastrukturelle
Maßnahmen sollen sie dazu beitragen, die Wirtschaftskraft in ihrem
Verflechtungsbereich zu verbessern." § 8 Abs. 5 lautete: "In industriell einseitig
strukturierten Gebieten soll zur Sicherung der Vollbeschäftigung eine stärkere
branchenmäßige Streuung erreicht werden." § 8 Abs. 7 lautet: "Die Förderung der
gewerblichen Mittelschichten soll der Festigung der Wirtschaftsstruktur dienen."
Nach Nr. 1 Abs. 1 und Abs. 2 S. 2 Teil B des Hessischen
Raumordnungsprogramms ist die Planungsregion Mittelhessen eine der drei
hessischen Planungsregionen und umfaßt sie den Regierungsbezirk Gießen, der
nach § 2 Abs. 2 Gesetz über die Grenzen der Regierungsbezirke und den
Dienstsitz der Regierungspräsidenten vom 15.10.1980 (GVBl. I S. 377) die
Landkreise Gießen, Lahn-Dill-Kreis, Limburg-Weilburg, Marburg-Biedenkopf und
Vogelsbergkreis mit Dienstsitz in Gießen umfaßt.
Das Raumordnungsrecht generell und insbesondere die vorstehend
wiedergegebenen Regelungen lassen es somit zu, mit Hilfe von
Funktionsbestimmungen eine Nutzungsart gebietsweise zu privilegieren und eine
andere auszuschließen. Auf der Grundlage der vorstehend wiedergegebenen
raumordnungsrechtlichen Regelung des § 8 des Teiles A des Hessischen
Landesraumordnungsprogrammes und in Einklang mit dieser hat auf der Stufe der
regionalen Raumordnungsplanung eine überörtliche und überfachliche
gesamtplanerische Interessenabwägung und Konfliktklärung stattgefunden, wie
Punkt 2.4.3.7 (Z) des RROPM und die dazu gegebene Begründung zeigen. (vgl.
BVerwG, Beschluß vom 20.08.1992 - 4 NB 20.91 -, DÖV 1993, 118). Es ist
offensichtlich, daß die Festlegung in Punkt 2.4.3.7 (Z) des RROPM ausweislich der
dazu gegebenen Begründung diesen gesetzlichen Vorgaben entspricht deshalb
insoweit keinen Bedenken begegnet.
Die Festlegung in Punkt 2.4.3.7 (Z) des RROPM stellt auch keinen unzulässigen
Eingriff in die Planungshoheit der Klägerin dar.
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Der durch die Festlegung in Punkt 2.4.3.7 (Z) des RROPM vorgenommene Eingriff
in die Planungshoheit der Klägerin verletzt nicht Art. 28 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz
(GG). Planungshoheit meint hier die Bauleitplanungskompetenz, d.h. die
eigenverantwortliche gemeindliche Entscheidung über die Art und Weise der
Bodennutzung in der Gemeinde, die den Gemeinden nach § 1 Abs. 1 und 3
Baugesetzbuch (BauGB) nach Maßgabe des Baugesetzbuches dergestalt
zugewiesen, daß sie Bauleitpläne (Flächennutzungsplan und Bebauungspläne)
aufstellen können und ggfs. müssen. Die gemeindliche Bauleitplanung zählt zum
Umkreis der Angelegenheiten des örtlichen Wirkungskreises der Gemeinden. Offen
ist, ob die Bauleitplanungskompetenz zum Kernbereich der
Selbstverwaltungsgarantie gehört (vgl. BVerfG, Beschluß vom 23.06.1987 - 2 BvR
826/83 -, BVerfGE 76, 107 = DÖV 1988, 122). Die gemeindliche Bauleitplanung ist
jedenfalls die in das mehrstufige System räumlicher Gesamtplanung als der
Bundesraumordnung sowie der Landes- und Regionalplanung nachgeordnete
unterste Ebene der Planungshierarchie (vgl. BVerfG, Beschluß vom 09.12.1987 - 2
BvL 16/84 -, BVerfGE 77, 288; VerfGH Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 09.02.1993
- VerfGH 18/91, 2/92 -, DVBl. 1993, 428). Dies kommt insbesondere in § 1 Abs. 4
BauGB zum Ausdruck, wonach die Bauleitpläne den Zielen der Raumordnung
anzupassen sind, d.h. daß diese Ziele je nach ihrem Konkretisierungsgrad in die
Bauleitpläne zwingend zu übernehmen sind (vgl. BVerwG, Beschluß vom
20.08.1992, a.a.O.). Ein Bauleitplan, der der Anpassungspflicht nach § 1 Abs. 4
BauGB nicht entspricht, ist nichtig (vgl. Hess. VGH, Urteil vom 06.04.1979 - IV N
7/77 -, ESVGH 29, 132). Ein unzulässiger Eingriff in die Bauleitplanungskompetenz
der Gemeinde kann daher nur dann in Betracht kommen, wenn der Gemeinde
durch die höherstufige Planung eine Sonderbelastung auferlegt wird, die nicht
durch überörtliche Interessen von höherem Gewicht als der gemeindlichen
Bauleitplanungskompetenz erfordert wird (vgl. BVerfG, Beschluß vom 23.06.1987,
a.a.O.; Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, § 1 Rn. 59).
Eine solche Sonderbelastung ist hier nicht gegeben. Denn Punkt 2.4.3.7 (Z) des
RROPM gilt für alle in dem RROPM ausgewiesenen Industrie- und Gewerbeflächen
und nicht nur für die in dem Gebiet der Klägerin ausgewiesenen Industrie- und
Gewerbeflächen. Im übrigen spiegelt sich in dieser Festlegung eine Abwägung
zwischen den durch die Grundsätze nach § 1 Abs. 1 HLPG a.F. verkörperten
unterschiedlichen raumordnerischen Belangen wieder und hat auf der Stufe des
Regionalplanes bereits eine überörtliche und überfachliche gesamtplanerische
Interessenabwägung und Konfliktklärung stattgefunden (vgl. die §§ 5, 6 HLPG a.F.).
Deshalb greift auch der Hinweis der Kläger, daß nach § 1 Abs. 5 und 9
Baunutzungsverordnung (BauNVO) der Gemeinde die Herausnahme einzelner
Nutzungen aus Baugebieten vorbehalten sei, nicht. Zudem gelten die Regelungen
der Baunutzungsverordnung ausweislich des § 1 BauNVO nur für die
Bauleitplanung der Gemeinden und nicht für die Raumordnung und
Landesplanung. Städtebaurecht und Raumordnungsrecht sind eigenständige
Bereiche. Es bestehen unterschiedliche Gesetzgebungskompetenzen. Dem Bund
steht für das Recht der Raumordnung nach Art. 75 Nr. 4 GG nur die
Rahmenkompetenz (Raumordnungsgesetz) und nach Art. 75 Nr. 18 GG die
Gesetzgebungskompetenz für das Städtebaurecht (Baugesetzbuch,
Baunutzungsverordnung) zu. Das Raumordnungsrecht ist gegenüber dem
Städtebaurecht auf einer höheren Stufe angesiedelt (s.o.) und läßt generelle
Einschränkungen bestimmter Nutzungen in bestimmten Baugebieten, wie sie mit
Punkt 2.4.3.7 (z) in Bezug auf Industrie- und Gewerbeflächen vorgenommen
wurden, zu (s.o.).
Zusammenfassend ergibt sich, daß die Festlegung Punkt 2.4.3.7 (Z) in dem
RROPM wirksam ist.
Die Klägerin hatte (§ 8 Abs. 3 S. 1 u. 2 HLPG a.F.) und hat (§ 9 Abs. 3 S. 1 HLPG)
keinen Anspruch auf die beantragte Zulassung einer Abweichung von dieser
Festlegung; diese Abweichung wurde von dem Beklagten ermessensfehlerfrei (§
114 VwGO) versagt und eine Verdichtung des Ermessens im Sinne einer
Ermessensreduzierung auf Null im Hinblick auf die Abweichung besteht nicht (§
113 Abs. 5 S. 1 VwGO):
Die beantragte Zulassung einer Abweichung von einer verbindlichen Festlegung für
einen Lebensmitteldiscounter erfüllt bereits nicht die tatbestandlichen
Voraussetzungen des § 9 Abs. 3 S. 1 HLPG, denn sie ist unter raumordnerischen
Gesichtspunkten nicht vertretbar und berührt die Grundzüge des Regionalplans.
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Gesichtspunkten nicht vertretbar und berührt die Grundzüge des Regionalplans.
Da diese Abweichungsregelung große Ähnlichkeit mit der Regelung des § 31 Abs. 2
Nr. 2 BauGB über die Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans
enthält, wonach von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden kann,
wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden und die Abweichung
städtebaulich vertretbar ist, können die zu dieser Befreiungsvorschrift entwickelten
Grundsätze vorsichtig auf die Abweichungsregelung übertragen werden.
Bei der Festlegung in Punkt 2.4.3.7 (Z) handelt es sich um eine verbindliche
Festlegung. Diese Festlegung ist mit dem Zusatz "Z" versehen, d.h. nach den
Ausführungen zur Handhabung des RROPM ist dies die Festlegung eines Zieles der
Raumordnung der Landesplanung und löst dieses Ziel eine Anpassungspflicht
nach § 1 Abs. 4 BauGB aus, d.h. es handelt sich um eine verbindliche Festlegung.
Mit "G" in dem RROPM gekennzeichnete Grundsätze der Raumordnung und
Landesplanung sind hingegen lediglich bei der Abwägung z.B. nach § 1 Abs. 6
BauGB zu berücksichtigen.
Wie bei dem Kriterium "Grundzüge der Planung nicht berührt" in § 31 Abs. 2 Nr. 2
BauGB ist bei dem Kriterium "Grundzüge des Regionalplans nicht berührt" in § 9
Abs. 3 S. 1 HLPG anhand der Festsetzungen in dem Bebauungsplan bzw. der
Festlegungen in dem regionalen Raumordnungsplan die planerische
Grundkonzeption herauszuarbeiten, der der Bebauungsplan bzw. der regionale
Raumordnungsplan nach der Befreiung bzw. Abweichung noch entsprechen muß,
d.h. es kann sich nur um solche Änderungen handeln, die zwar für einzelne
Grundstücke bzw. einzelne Gemeinden von erheblicher Bedeutung sein können,
die aber die dem Bebauungsplan bzw. dem regionalen Raumordnungsplan
insgesamt zugrundeliegende planerische Konzeption nicht ändern (vgl.
Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 6. Aufl., § 13 Rn. 2 unter Hinweis auf BVerwG,
Urteil vom 09.03.1999 - -, NVwZ 1990, 873).
Gewerblicher Entwicklungsschwerpunkt ist nach dem unter Punkt 2.3.3.1 (G) in
dem RROPM formulierten Grundsatz vorrangig die Schaffung von Arbeitsplätzen.
Dazu wird in dem RROPM unter Punkt 2.4.3.2 (Z) hinsichtlich Industrie- und
Gewerbeflächen das Ziel verfolgt, mit der Ausweisung der "Industrie- und
Gewerbeflächen-Zuwachs" der Entwicklung bestehender Betriebe sowie der
Neuansiedlung von Industrie- und Gewerbebetrieben zu dienen. Mit dem Ziel unter
Punkt 2.4.3.7 (Z) in dem RROPM (s.o.) erfolgt ausweislich der Begründung zu
diesem Ziel (s.o.) eine Präzisierung dahingehend, daß diese Flächen für
arbeitsplatzintensive, produzierende und weiterverarbeitende Betrieben reserviert
sein sollen und nicht mit großen, flächenintensiven Verkaufseinrichtungen - wie
Lebensmitteldiscountern - belegt werden sollen; das Belegen von Industrie- und
Gewerbeflächen in der Vergangenheit wurde als Fehlentwicklung angesehen, der
mit dieser Festlegung entgegengewirkt werden soll. Dies ist die eindeutige
planerische Grundkonzeption des RROPM zur gewerblichen Entwicklung.
Die Abweichung für einen Lebensmitteldiscounter steht der verbindlichen
Festlegung in Punkt 2.4.3.7 (Z) diametral entgegen. Mit ihr würde diese eindeutige
planerische Grundkonzeption des RROPM verlassen und mithin geändert, d.h. die
Grundzüge des Regionalplans - RROPM - werden berührt. Dies hat die Regionale
Planungsversammlung Mittelhessen mit Beschluß vom 14.04.1997 zudem
nochmals bekräftigt.
Zudem ist die begehrte Abweichung unter raumordnerischen Gesichtspunkten
nicht vertretbar. Nach diesem Kriterium "unter raumordnerischen Gesichtspunkten
vertretbar" verbietet sich wie bei dem Kriterium "Abweichung städtebaulich
vertretbar" in § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB eine Abweichung bzw. eine Befreiung, wenn
die Raumordnungskonzeption bzw. die geordnete städtebauliche Entwicklung
beeinträchtigt bzw. nachteilig beeinflußt würde.
Durch dies Kriterien werden weniger die Grenzen der Befreiung bzw. Abweichung
als ihre inhaltliche Ausrichtung bestimmt; im Ergebnis sollen nur Randkorrekturen
der Planung erlaubt sein (Battis/Krautzberger/Löhr, a.a.O., § 31 Rn. 35 m.w.N.).
Durch die beantragte Abweichung wird keine Randkorrektur der
Raumordnungskonzeption vorgenommen, sondern dieselbe in ihrem Kernbereich -
der Fehlentwicklung der Ansiedlung von Lebensmitteldiscountern in Industrie- und
Gewerbegebieten soll entgegengewirkt werden (so.) - aufgegeben. Die Ausweisung
einer Sondergebietsfläche Einzelhandel für diesen Lebensmitteldiscounter
widerspricht im übrigen auch den in der Begründung dieses Bebauungsplanes
formulierten Zielen, Expansionsmöglichkeiten für ortsansässige
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formulierten Zielen, Expansionsmöglichkeiten für ortsansässige
Handwerksbetriebe und mittelständische Unternehmen sowie Angebotsflächen für
gewerbliche Neuansiedlungen zu schaffen
Da somit bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 9 Abs. 3 S. 1 HLPG
nicht vorliegen, kommt es auf Ermessenserwägungen ("kann") nicht mehr an. Das
Gericht folgt dazu den in den angegriffenen Bescheiden gemachten zutreffenden
Ausführungen zu der von der Klägerin gegebenen Begründung ihres
Abweichungsantrages und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der
Entscheidungsgründe ab (§ 117 Abs. 5 VwGO).
Zudem gilt insoweit folgendes: Wenn die Klägerin dazu in ihrem Antrag ausführt,
daß die Ansiedlung eines Lebensmitteldiscounters auf geeigneten Flächen in ihrem
Stadtgebiet an der mangelnden Verkaufsbereitschaft von Eigentümern scheitere,
so ist die Ausweisung einer Sondergebietsfläche Einzelhandel in ihrem durch ihren
vorgenannten Bebauungsplan beplanten Industrie- und Gewerbegebiet bereits
nicht nach § 1 Abs. 3 BauGB für die städtebauliche Ordnung und Entwicklung
erforderlich. Zudem hätte die Klägerin gegenüber einem nicht verkaufsbereiten
Grundstückseigentümer ein Baugebot (§ 176 BauGB) aussprechen und ihn ggfs.
enteignen können (§ 85 Abs. 1 Nr. 5 BauGB).
Sofern es nach den vorstehenden Ausführungen zu dem maßgeblichen Zeitpunkt
bei der Verpflichtungsklage überhaupt noch darauf ankommen sollte, gilt
jedenfalls, daß für die beantragte Zulassung der Abweichung für einen
Lebensmitteldiscounter kein wichtiger Grund i. S. v. § 8 Abs. 3 S. 1 und 2. HLPG
a.F. bestand und nach wie vor nicht besteht. Dies folgt daraus, daß § 8 Abs. 3 S. 1
und 2 HLPG a.F. sich inhaltlich nicht von § 9 Abs. 3 S. 1 HLPG unterscheidet und
mithin das Vorstehende gilt. Das Gericht sieht im übrigen insoweit von einer
Darstellung der Entscheidungsgründe ab und folgt den dazu gemachten
zutreffenden Ausführungen in dem angegriffenen Bescheiden (§ 117 Abs. 5
VwGO).
Aus dem Vorstehenden folgt zugleich, daß auch der hilfsweise gestellte
Bescheidungsantrag (§ 113 Abs. 5 S. 2 VwGO) mangels Vorliegens der
tatbestandlichen Voraussetzungen für die Zulassung einer Abweichung ohne
Erfolg bleiben muß.
Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin nach § 154 Abs. 1 VwGO zu tragen.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m.
den §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozeßordnung - ZPO -.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.