Urteil des VG Gießen vom 19.06.1997

VG Gießen: behinderung, erwerb, erblindung, gerichtsakte, epilepsie, beurlaubung, staatsexamen, computer, universität, sozialhilfe

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Gericht:
VG Gießen 3.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
3 G 266/97
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
§ 15 Abs 3 Nr 1 BAföG , § 15
Abs 3a BAföG
Leitsatz
In Fällen dauernder und besonders schwerwiegender Behinderung - etwa bei Erblindung
oder Epilepsie - geht das Gericht davon aus, daß eine Studienverzögerung im Umfang
von 2 Semestern zugrunde zu legen ist. Infolge des im Verhältnis zum
vorangegangenen Studium erheblich wachsenden Arbeitsaufwandes im Vorfeld der
juristischen Examina kann eine Verzögerung auch im Umfang von 2 Semestern
durchaus erst nach Erwerb der letzten Übungsscheine eintreten, ohne daß der
vorherige fristgemäße Erwerb der Scheine und die Vorlage der Bescheinigung nach § 48
BAföG einen gegenteiligen Anhaltspunkt bietet.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt die Verpflichtung des Antragsgegners, ihm über die
Förderungshöchstdauer hinaus Ausbildungsförderung nach dem
Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Der Antragsteller studiert im 11. Fachsemester Rechtswissenschaften an der
Universität G.. Am 17.9.1996 beantragte er Ausbildungsförderung über die
Förderungshöchstdauer hinaus für den Bewilligungszeitraum Oktober 1996 bis
September 1997 (10./11. Fachsemester). Als Grund für die Überschreitung der
Förderungshöchstdauer führte er an, er sei in seinem 17. Lebensjahr erblindet. Da
er die Punktschrift erst im vergleichsweise fortgeschrittenen Lebensalter erlernt
habe, stelle diese für ihn kein vollwertiges Arbeitsmittel dar. Er sei auf
Toncassetten und den Computer angewiesen. Das Erstellen geeigneter
Lernvorlagen erfordere daher einen erheblichen zeitlichen Mehraufwand
gegenüber einem Sehenden. Dieser Umstand habe sich erst im Rahmen der
Examensvorbereitung wegen der dort gleichzeitig zu bewältigenden Stofffülle
besonders nachhaltig ausgewirkt. Er werde sich im Mai 1997 zum Staatsexamen
melden und die Prüfung voraussichtlich im Februar 1998 abschließen.
Mit Bescheid vom 28.11.1996 lehnte der Antragsgegner den Förderungsantrag ab.
Eine Weiterförderung von 3 Semestern aufgrund der Sehbehinderung des
Antragstellers komme nicht in Betracht. Wie in anderen Fällen dauernder
Erkrankung sei es dem Antragsteller zuzumuten, vor dem Ende der
Förderungshöchstdauer eine krankheitsbedingte Beurlaubung in Betracht zu
ziehen und während dieser Zeit den versäumten Lehrstoff nachzuarbeiten. Soweit
er während der Beurlaubung seines Lebensunterhalt nicht anderweitig bestreiten
könne, müsse er Sozialhilfe beantragen.
Der Antragsteller legte am 23.12.1996 hiergegen Widerspruch ein. Ergänzend
weist er darauf hin, dass im Fach Rechtswissenschaften schon die
durchschnittliche Studienzeit 11 Semester betrage.
Mit Bescheid vom 14.1.1997 wies der Antragsgegner den Widerspruch zurück. Auf
die durchschnittliche Studiendauer komme es nicht an.
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Am 5.2.1997 hat der Antragsteller hiergegen Klage erhoben, am 27.2.1997 hat er
den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Er befinde sich in großer
finanzieller Bedrängnis. Das Amt für Ausbildungsförderung habe behauptet, dass
die Weiterförderung nach dem 9. Fachsemester problemlos sei. Der Antragsteller
legte eine Bescheinigung des Justizprüfungsamtes vom 27.5.1997 vor, wonach er
am 10.7.1997 zur Prüfung zugelassen und diese voraussichtlich im Februar 1998
abschließen wird.
Er beantragt sinngemäß,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm
ab Antragstellung weiterhin Ausbildungsförderung nach dem BAföG in gesetzlicher
Höhe zu gewähren.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Zur Begründung bezieht er sich im wesentlichen auf die Begründung des
Ablehnungs- und des Widerspruchsbescheides.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt
dieser Gerichtsakte, der Gerichtsakte des Hauptsacheverfahrens (3 E 164/97) und
der beigezogenen Behördenakte (1 Hefter) Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist zulässig und begründet.
Der Antragsteller hat die Voraussetzungen des hierfür gemäß § 123 Abs.3 VwGO
i.V.m. § 920 Abs.2 ZPO erforderlichen Anordnungsanspruchs und
Anordnungsgrundes glaubhaft gemacht. Er hat - nach der im einstweiligen
Anordnungsverfahren nur möglichen und erforderlichen summarischen Prüfung -
einen Anspruch auf Förderung seines Studiums über den 31.9.1996 hinaus gemäß
§ 15 Abs. 3 Nr.1, Abs. 3a BAföG.
Der Antragssteller hat gem. § 15 Abs. 3 Nr. 1 BAföG einen Förderungsanspruch
von zwei Semestern über die Förderungshöchstdauer hinaus, da er die
Förderungshöchstdauer in diesem Umfang aus schwerwiegenden Gründen
überschritten hat.
Die Förderungshöchstdauer endete für den Antragsteller mit Ablauf des
Sommersemesters 1996 am 30.9.1996, nachdem er sein Studium zum
Sommersemester 1992 aufnahm und die Förderungshöchstdauer für das Studium
der Rechtswissenschaften gemäß § 15 Abs. 4 BAföG i.V.m. § 5 Abs. 1 Nr. 80
Förderungshöchstdauerverordnung 9 Semester beträgt.
Der Antragsteller kann sich für die Überschreitung der Förderungshöchstdauer im
Umfang von 2 Semestern auf schwerwiegende Gründe i.S.v. § 15 Abs.2 Nr.1 BAföG
berufen. Bei seiner Erblindung handelt es sich um eine Behinderung, die für eine
Verzögerung seiner Ausbildung ursächlich war. Der Antragsteller hat den
erheblichen Lernmehraufwand infolge seiner erst zum Ende seiner
Schulausbildung eingetretenen Erblindung nachvollziehbar geschildert. Der Eintritt
einer Studienverzögerung infolge der Behinderung des Antragstellers wird auch
vom Antragsgegner ausweislich seines Widerspruchsbescheides nicht
grundsätzlich in Abrede gestellt. Umstritten ist insoweit nur deren Umfang. In
Fällen dauernder und besonders schwerwiegender Behinderung geht das Gericht
davon aus, dass eine Studienverzögerung im Umfang von 2 Semestern zugrunde
zu legen ist (Vgl. z.B. bei Epilepsie VG Gießen, Gerichtsbescheid v. 14.5.1993, III/1
E 1116/91). Aus der unmittelbaren Kenntnis juristischer Examensvorbereitung
erscheint es auch plausibel, dass die Behinderung des Antragstellers sich gerade
in der Phase der unmittelbaren Examensvorbereitung wegen der dort zu
bewältigenden Stofffülle tatsächlich studienverzögernd ausgewirkt hat. Infolge des
im Verhältnis zum vorangegangenen Studium erheblich wachsenden
Arbeitsaufwandes im Vorfeld der juristischen Examina kann eine Verzögerung auch
im Umfang von 2 Semestern durchaus erst nach Erwerb der letzten
Übungsscheine eintreten, ohne dass der vorherige fristgemäße Erwerb der
Scheine und die Vorlage der Bescheinigung nach § 48 BAföG einen gegenteiligen
Anhaltspunkt bietet.
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Ob der Kläger sich auf eine Studienverzögerung im Umfang von einem weiteren
Semester, insgesamt also 3 Semestern, als Folge seiner Behinderung berufen
kann, wird vom Antragsgegner in Frage gestellt und kann im Rahmen der
vorliegenden Entscheidung letztlich offen bleiben. Zwar ist nach der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (z.B. BVerwGE 57, 75) die
Weiterförderung ausgeschlossen, wenn der Auszubildende die Ausbildung
innerhalb der verlängerten Förderungszeit nicht berufsqualifizierend abschließen
kann.
Dieser Ausschlussgrund liegt nach den im gegenwärtigen Zeitpunkt absehbaren
Umständen beim Antragsteller jedoch nicht vor. Er wird – wie das Justizprüfungamt
mit Schreiben vom 27.5.1997 bescheinigt – am 10.7.1997 zur Prüfung zugelassen
werden und diese voraussichtlich im Februar 1998 abschließen. Zwar ist der
Ausbildungsabschluss bis zum Ende des Verlängerungszeitraums von 2
Semestern, also bis zum 30.9.1997, für ihn damit nicht möglich. Jedoch ist bei der
Prognose zu berücksichtigen, dass der Antragsteller nach den gegenwärtig
absehbaren Umständen nach dem Ende des Verlängerungszeitraums gem. § 15
Abs.3 Nr.1 BAföG zusätzlich einen Anspruch auf Studienabschlussförderung gem.
§ 15 Abs. 3a BAföG i.d.F.d. Gesetzes v. 17.7.1996 (BGBl. I 1006) wird geltend
machen können. Nach dieser Vorschrift steht ihm auf entsprechenden Antrag über
die verlängerte Förderungsdauer nach § 15 Abs.3 Nr.1 BAföG hinaus, also ab
1.10.1997, weitere Förderung für die Dauer von höchstens 12 Monaten zu, wenn er
bis 30.9.1997 zur Abschlussprüfung zugelassen worden ist und ihm die
Prüfungsstelle bescheinigt, dass er die Ausbildung bis spätestens 30.9.1998
abschließen kann. Die Erfüllung dieser Voraussetzungen ist dem Antragsteller
nach der gegenwärtig absehbaren Entwicklung und der Bescheinigung des
Justizprüfungsamtes vom 27.5.1997 möglich.
Über den Anspruch nach § 15 Abs. 3a BAföG selbst ist im Rahmen dieses
Verfahrens nicht zu entscheiden, da dessen Voraussetzungen vom Antragsteller
zwar erfüllt werden können, aber derzeit noch nicht erfüllt sind.
Der Antragsteller hat für die Zeit ab Antragstellung auch einen Anordnungsgrund
glaubhaft gemacht. Die Entscheidung ist dringlich, nachdem er über andere
Einkunftsquellen zur Sicherung seiner Ausbildung nicht verfügt. Der Zeitraum vor
Stellung des Eilantrages bleibt der Entscheidung in der Hauptsache vorbehalten.
Der Antragsgegner hat als unterliegende Partei gemäß § 154 Abs.1 VwGO die
Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden gemäß § 188 S.2 VwGO
nicht erhoben.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert.