Urteil des VG Gießen vom 24.08.1995

VG Gießen: schutz des lebens, lehrfreiheit, aufschiebende wirkung, ratio legis, behörde, biologie, universität, kurs, film, ausbildung

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Gericht:
VG Gießen 7.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
7 E 1982/94
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
Art 5 Abs 3 GG, § 3 Abs 3 S 1
HRG, TierSchG
(Zur Lehrfreiheit von Hochschullehrern - hier: Untersagung
von Tierversuchen)
Tatbestand
Der Kläger ist Hochschullehrer im Fachbereich Biologie der .. - Universität in M. und
wendet sich mit seiner Klage gegen die behördliche Untersagung einer von ihm
durchgeführten Lehrveranstaltung mit Tierversuchen.
Der Kläger leitet an der Universität M. im Rahmen der Ausbildung der
Biologiestudenten mit der Fachrichtung Zoologie einen tierphysiologischen Kurs.
Dieser war zunächst Pflichtveranstaltung für alle Biologiestudenten und wurde
durch eine Änderung der Studienordnung ab dem Wintersemester 1991/92 vom
Grundstudium ins Hauptstudium verlegt, wodurch er nunmehr nur noch für
Studierende mit dem Studienpunkt Zoologie obligatorisch ist. Die früher im
Rahmen dieser Lehrveranstaltung üblichen Tierversuche wurden auf insgesamt
zwei reduziert. Es handelt sich dabei um eine Atmungsmessung an Goldfischen
und um einen in diesem Verfahren streitgegenständlichen Versuch an Ratten. In
den schriftlichen Anzeigen der Versuchsvorhaben, die der Fachbereich
Biologie/Zoologie der ..-Universität M. erstmals für das Wintersemester 1991/92
und zuletzt im September 1993 an das Staatliche Veterinäramt in M. und das
Regierungspräsidium in Gießen richtete, wurde die Zahl der am Ende des Versuchs
zu tötenden Ratten mit jeweils 36 pro Semester beziffert und als Zweck des
Versuchsvorhabens angegeben: "Lehrveranstaltung., Demonstration der
Nahrungsresorption (aktiver Transport von Hexosen) im Dünndarm." Der Ablauf
des Vorhabens wurde in den Anmeldungen wie folgt beschrieben:
"Tiefe Betäubung durch Ketanest/Rompun.
Öffnung des Abdomens und Füllen des Dünndarms in situ mit körperwarmer
Ringerlösung, die 1 mg/ml Glucose enthält. Unterteilung des Dünndarms in ca. 2
cm lange Abschnitte durch Ligaturen. Entnahme des Inhalts in definierten
Zeitabständen zur Messung des Glucosegehalts (in vitro).
Tötung der Tiere vor dem Erwachen durch Überdosis des Narkotikums."
Nachdem das Regierungspräsidium Gießen und das Hessische Ministerium für
Wissenschaft und Kunst bereits in den Vorsemestern aufgrund von
Studentenprotesten erfolglos versucht hatten, den Kläger zu einer Aufgabe der
Versuche an Ratten im Rahmen seines Kurses zu bewegen, untersagte ihm das
Regierungspräsidium Gießen mit Bescheid vom 12.10.1993, diese Versuche für die
Zukunft mit Beginn des laufenden Wintersemesters durchzuführen. Zur
Begründung berief sich die Behörde auf die §§ 8a Abs. 5, 10 Abs. 1 S. 2
Tierschutzgesetz (TierSchG) und vertrat die Ansicht, die Tötung von Ratten im
Rahmen der Lehrveranstaltung müsse künftig unterbleiben, weil der Zweck der
Tierversuche auf andere Weise, nämlich durch filmische Darstellung, erreicht
werden könne. Die Behörde verwies dabei auf eine 1991 im Fachbereich
Biologie/Zoologie erstellte filmische Dokumentation und eine der Behörde
vorliegende Begutachtung dieses Lehrfilms durch den Tierarzt und ehemaligen
Tierschutzbeauftragten der Universität Dr. G. vom 15.09.1993, die dem Bescheid
unter ausdrücklicher Bezugnahme als Anlage beigefügt wurde. Nach der
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unter ausdrücklicher Bezugnahme als Anlage beigefügt wurde. Nach der
Begutachtung handelt es sich bei dem Lehrfilm um einen Videofilm der
"Filmwerkstatt Bernd Nebeling" mit dem Titel " Gltlcoseresorption im Dünndarm
einer Laborratte" der eine Gesaiptspieldauer von 31 Minuten hat. Das Gutachten
stellt die einzelnen Szenen des Films mit teilweise kritischen Anmerkungen dar
und kommt insgesamt im wesentlichen zu der Einschätzung, daß der Film als
Unterrichtsfilm "gute Ansätze zu einem volltauglichen Lehrmittel" zeige und
"einzelne Schwächen" noch behoben werden könnten. Alle wichtigen Informationen
zum Verständnis der Unterrichtseinheit "Glucoseresorption" wurden angeboten,
der Film könne jedoch nicht das Erlernen manueller Präparierfähigkeiten ersetzen.
Nach Behebung der Mängel sei der Film geeignet, das angestrebte Lehrziel auch
ohne den Tod von Versuchstieren zu vermitteln. Bezüglich des Erlernens
präparatorischer Fähigkeiten müsse auf die Präparierübung verwiesen werden.
Gegen den Bescheid vom 12.10.1993 hat der Kläger durch den Präsidenten der ...-
Universität M. am 19.10.1993 Widerspruch eingelegt und zugleich beim
Verwaltungsgericht Gießen um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. In der
Begründung des Eilantrages wurde im wesentlichen ausgeführt, das angegriffene
Verbot sei ein Verstoß gegen die durch Art. 5 Abs. 3 GG geschätzte Lehrfreiheit.
Zwar unterliege auch dieses Grundrecht immanenten Schranken. Da aber der
Schutz des Lebens von Tieren keinen Verfassungsrang habe und Regelungen
unterhalb der Verfassungsebene die Lehrfreiheit nicht wirksam einschränken
könnten, fehle es an einer hinreichenden Ermächtigungsgrundlage für das Verbot.
Das Regierungspräsidium maße sich an, zu beurteilen, welche Lehrmethoden ein
Universitätsprofessor anzuwenden habe und stütze sich hierbei auf die
gutachterliche Stellungnahme eines erklärten Tierversuchsgegners. Der von der
Behörde als Alternativlehrmittel bezeichnete Videofilm erfülle nach der allein
maßgebenden Einschätzung des Klägers, der als Professor das Bestimmungsrecht
über seine Lehrveranstaltungen habe, nicht die Anforderungen, die an diese
Lehrveranstaltung zu stellen seien. Die Studenten müßten unter anderem den
praktischen Umgang mit lebenden Tieren beim Messen von Körperfunktionen
erlernen und, soweit es sich um Zoologen handele, auch Erfahrungen in der
Einleitung und Überwachung einer Narkose sammeln sowie chirurgische Techniken
am Tier erlernen. Diese erforderlichen direkten persönlichen Wahrnehmungen am
Tier könne ein Film nicht ersetzen, wobei dies im Licht der Lehrfreiheit der
alleinigen Beurteilung des zuständigen Professors unterliege. Für die Bewertung
der ethischen Vertretbarkeit des Tierversuchs sei von Bedeutung, daß die Ratten
dabei keinen Leiden ausgesetzt seien. Sie spürten keine Schmerzen. Jedes
Schlachttier leide unendlich mehr.
In der hierauf erfolgten Antragserwiderung des Beklagten berief sich dieser erneut
im wesentlichen darauf, daß - entgegen der Auffassung des Klägers - der
Tierversuch im Rahmen der laufenden Lehrveranstaltung durch andere Methoden,
insbesondere durch den im angegriffenen Bescheid erwähnten Lehrfilm, ersetzt
werden könne.
Mit Beschluß vom 12.11.1993 hat das Verwaltungsgericht Gießen die
aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen die Verfügung des
Regierungspräsidiums Gießen vom 12.10.1993 wiederhergestellt und in den
Gründen zum Ausdruck gebracht, daß zwar bei summarischer Prüfung der
Rechtslage weder eine offensichtliche Rechtmäßigkeit noch eine offensichtliche
Rechtswidrigkeit der angegriffenen Verfügung festgestellt werden könne, daß aber
im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung dem Interesse des Klägers unter
Berücksichtigung der ungesicherten Gutachtenlage und im Hinblick auf seine
durch Art. 5 Abs. 3 GG gesicherte verfassungsrechtliche Position der Vorrang
gegenüber dem öffentlichen Vollzugsinteresse einzuräumen sei.
Die hiergegen seitens des Beklagten eingelegte Beschwerde hat der Hess.VGH
mit Beschluß vom 29.12.1993 zurückgewiesen. In den Gründen dieser
Entscheidung wird im wesentlichen ausgeführt, die angefochtene Verfügung des
Beklagten vom 12.10.1993 sei offensichtlich rechtswidrig. Dabei sei bereits
zweifelhaft, ob der Zweck der Lehrveranstaltung durch den vorliegenden Videofilm
ebenfalls erreicht werden könne, da nach dem angefertigten Gutachten des
Sachverständigen Dr. G. der Film lediglich "gute Ansätze zu einem volltauglichen
Lehrmittel" zeige. Die Verbotsverfügung sei aber jedenfalls deshalb offensichtlich
rechtswidrig, weil der Beklagte bei der Bestimmung des zwecks der
Lehrveranstaltung i.S.d. § 10 Abs. 1 S. 2 TierSchG seine eigene Vorstellung und
nicht die des Klägers zugrundegelegt habe. Nach dessen Vorstellung diene der
Kurs nicht nur der Wahrnehmung des Verdauungsvorgangs bei Tieren, sondern
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Kurs nicht nur der Wahrnehmung des Verdauungsvorgangs bei Tieren, sondern
auch dem Erlernen des praktischen Umgangs mit lebenden Tieren und der
Sammlung von Erfahrungen in der Einleitung und Überwachung einer Narkose
sowie dem Erlernen chirurgischer Techniken am Tier. Im Hinblick auf das durch Art.
5 Abs. 3 S. 1 GG geschätzte Recht auf Lehrfreiheit sei § 10 Abs. 1 S. 1 TierSchG
einschränkend dahin auszulegen, daß allein der für die Lehrveranstaltung
zuständige Hochschullehrer deren Inhalt zu bestimmen und über die Geeignetheit
der in Betracht kommenden Lehrmethoden zu befinden habe. Zwar sei auch die
Lehrfreiheit nicht schrankenlos gewährleistet, jedoch könnten Einschränkungen nur
aus der Verfassung selbst hergeleitet werden. Da der Tierschutz in Deutschland
keinen Verfassungsrang habe, könne dieser somit die Wissenschaftsfreiheit auch
nicht einschränken. § 10 Abs. 1 S. 2 i.V.m. §§ 8a Abs. 5, 10 Abs. 2 TierSchG seien
daher verfassungskonform dahin auszulegen, daß die Entscheidung über den
Zweck universitärer Lehrveranstaltungen und die Zweckgeeignetheit alternativen
Lehrmethoden ausschließlich bei dem zuständigen Hochschullehrer liege und ein
Verbot von Eingriffen an Tieren nur dann in Betracht komme, wenn auch nach
Einschätzung des zuständigen Hochschullehrers alternative Lehrmethoden den
von ihm vorgegebenen Zweck der Lehrveranstaltung ebenso erreichen würden.
Im Rahmen des behördlichen Widerspruchsverfahrens wurden daraufhin seitens
des Beklagten zu der streitgegenständlichen Thematik weitere Gutachten
sachverständiger Stellen eingeholt. So teilte der Arbeitskreis der
Tierschutzbeauftragten in Bayern dem Beklagten in seiner Stellungnahme vom
26.10.1993 mit, daß der zur Begutachtung übersandte Videofilm erhebliche
inhaltliche und formale Mängel aufweise. Sofern der Zweck der Lehrveranstaltung
ausschließlich sei, die physiologischen Grundlagen des Glucosetransports im
Dünndarm zu demonstrieren, könne dieser Lehrinhalt in einer spannenden
Vorlesung sicher besser als in einem Videofilm oder durch einen Eingriff am
lebenden Tier vermittelt werden. Sofern aber Zweck der Veranstaltung sei, die
Studenten neben dem eigentlichen Kursthema auch in der Einleitung, Dosierung
und Überwachung einer Narkose, in den Techniken der Blutentnahme, der
Freipräparation von Organen, in chirurgischen Schneid-, Näh- und
Abbindetechniken und in der tierschutzgerechten Tötung eines Versuchstieres zu
unterweisen, könne auch ein exzellenter Videofilm die experimentelle Tätigkeit am
lebenden Gesamtorganismus nicht ersetzen. Insbesondere angehenden Zoologen
solle nicht verwehrt sein, zumindest einmal die Gelegenheit zu haben, unter
fachkundiger Anleitung ein physiologisches Präparat am lebenden Organismus in
einer tierschutzgerechten Weise herzustellen. Der Arbeitskreis empfehle daher, die
angezeigten Eingriffe unter der Voraussetzung zu "genehmigen", daß der Zweck
des Eingriffs die praktische Tätigkeit am Tier beinhalte und daß pro Tier maximal
vier Studenten arbeiten dürften.
In einer Stellungnahme des Bundesinstituts für gesundheitlichen
Verbraucherschutz und Veterinärmedizin (bgvv) führt der dortige Gutachter Dr. S.
im wesentlichen aus, daß für die Demonstration der physiologischen Grundlagen
des Glucosetransports im Dünndarm ein Eingriff am lebenden Tier nicht
erforderlich, der vorliegende Videofilm aber nur bedingt zur Vermittlung des
Lerninhalts geeignet sei. Die über den eigentlichen Kursinhalt hinaus zu
vermittelnden Lerninhalte wie Organpräparationen, chirurgische Techniken,
Freipräparation eines Organes usw. seien aus Sicht des bgvv keinesfalls
ausreichend, um Studenten die gemäß § 9 Abs. 1 S. 1 TierSchG erforderlichen
Fachkenntnisse zur eigenverantwortlichen Durchführung von Tierversuchen zu
vermitteln.
Mit Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums Gießen vom "November
1994" wies der Beklagte daraufhin den Widerspruch des Klägers mit der Maßgabe
zurück, daß dem Kläger ab Bestandskraft des Bescheides untersagt wurde, die
von ihm angezeigten Eingriffe und Behandlungen an Ratten zur Ausbildung von
Studierenden im Rahmen seiner Lehrveranstaltung im Fachbereich Biologie/
Zoologie durchzuführen. In der Begründung wird im wesentlichen ausgeführt, daß
nach der "ratio legis" des § 10 Abs. 1 S. 2 TierSchG der zuständigen Behörde ein
Prüfungs- und Entscheidungsrecht zugestanden werden müsse, um verhindern zu
können, daß Tieren zu Lehrzwecken "ohne vernünftigen Grund" Schmerzen oder
Schäden zugefügt würden. Im Hinblick auf einen effektiven Tierschutz müsse die
Tierschutzbehörde zumindest das Recht zu einer "qualifizierten
Plausibilitätskontrolle" haben, die das Recht umfasse, zu prüfen, ob Eingriffe oder
Behandlungen an Tieren durch alternative Lehrmethoden ersetzt werden könnten
und gegebenenfalls Tierversuche zu untersagen, wenn sich diese als willkürlicher
Verzicht auf die Verwendung alternativen Lehrmittel erweisen würden. Der "extrem
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Verzicht auf die Verwendung alternativen Lehrmittel erweisen würden. Der "extrem
restriktiven" Interpretation des § 10 Abs. 1 S. 2 TierSchG durch den Hess.VGH in
seinem Beschluß vom 29.12.1993 könne nicht gefolgt werden, da dies zu der im
Rechtssystem der Bundesrepublik Deutschland einzigartigen Konsequenz führen
würde, daß eine für die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften verantwortliche Person
selbst darüber entscheiden durfte, ob sie diese übertreten und damit eine
Ordnungswidrigkeit begangen habe oder nicht. Im übrigen wären bei
Tierexperimenten zu Lehrzwecken die Tierschutzbehörden damit weitgehend
funktionslos, was dem hiesigen System staatlichen Tierschutzes widersprechen
würde.
Letztlich hätten auch die Gutachten ergeben, daß der Lehrinhalt der
Glucoseresorption auch im Wege einer Vorlesung oder eines überarbeiteten
Videofilms vermittelt werden könnte, so daß die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1
S. 2 TierSchG vorlägen und damit die beabsichtigten Tierversuche nicht mehr
vorgenommen werden durften.
Gegen diesen am 02.12.1994 zugestellten Bescheid hat der Kläger durch seinen
Prozeßbevollmächtigten am 27.12.1994 Klage erhoben.
In der Klagebegründung vom 22.08.1995 bezieht sich der Prozeßbevollmächtigte
des Klägers im wesentlichen auf die Ausführungen im vorausgegangenen
Eilverfahren 7 G 1421/93 sowie auf eine schriftliche Stellungnahme des Klägers, die
dem Klagebegründungsschriftsatz beigefügt war. In dieser führt der Kläger im
wesentlichen aus, daß das Studium der Zoologie zum Ziel habe, den Studenten
eine eigene Kompetenz im Verständnis wissenschaftlicher Zusammenhänge und
die Befähigung zur eigenen wissenschaftlichen Arbeit zu vermitteln und daher
Tierpräparationen einen unverzichtbaren Bestandteil des Studiums bildeten. Die
eigene praktische Erfahrung der realen Natur könne weder durch Filme noch durch
andere Medien ersetzt werden. § 10 TierSchG könne sich daher nur auf
Vorlesungen bzw. Demonstrationen beziehen, in denen theoretisches Wissen
vermittelt und Praktika vorbereitet würden. Auf Kurse und Praktika selbst könne die
Vorschrift nicht angewandt werden.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Regierungspräsidiums Gießen vom. 12.10.1993 in der
Fassung des Widerspruchsbescheides des Regierungspräsidiums Gießen vom
November 1994 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung wird im wesentlichen auf die Ausführungen im
Widerspruchsbescheid vom November 1994 Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt
der Gerichtsakte sowie den der beigezogenen Behördenakten (2 Ordner) Bezug
genommen. Diese Unterlagen waren auch Gegenstand der mündlichen
Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet.
Der angefochtene Bescheid des Regierungspräsidiums Gießen vom 12.10.1993 in
der Fassung des Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Gießen vom
November 1994 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113
Abs. 1 S. 1 VwG0.
Als Rechtsgrundlage für die Untersagungsverfügung des Beklagten kommt allein §
8 a Abs. 5 i.V.m. §§ 10 Abs. 1 S. 2, 10 Abs. 2 S. 1 TierSchG (i.d.F. vom 17.02.1993)
in Betracht.
Nach diesen Vorschriften ist auf Eingriffe oder Behandlungen zur Aus-, Fort- oder
Weiterbildung § 8 a TierSchG entsprechend anzuwenden, wonach die zuständige
Behörde Tierversuche zu untersagen hat, wenn Tatsachen die Annahme
rechtfertigen, daß die Einhaltung bestimmter tierschutzrechtlicher Bestimmungen
nicht sichergestellt ist. § 10 Abs. 1 S. 2 TierSchG legt fest, daß zur Aus-, Fort- oder
Weiterbildung Eingriffe oder Behandlungen an Tieren, die mit Schmerzen, Leiden
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Weiterbildung Eingriffe oder Behandlungen an Tieren, die mit Schmerzen, Leiden
oder Schäden verbunden sind, nur vorgenommen werden dürfen, soweit ihr Zweck
nicht auf andere weise, insbesondere durch filmische Darstellungen, erreicht
werden kann.
Die von den Verfahrensbeteiligten in diesem Zusammenhang aufgeworfenen
Fragen, ob § 8 a Abs. 5 TierSchG auch auf § 10 Abs. 1 S. 2,TierSchG Bezug nimmt
und die behördliche Ermächtigungsnorm für die Untersagung von Tierversuchen
im Hinblick auf die in Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG schrankenlos gewährleistete
Wissenschafts- und Lehrfreiheit verfassungsgemäß ist bzw. wie diese Vorschriften
des Tierschutzgesetzes verfassungskonform. ausgelegt werden können, bedürfen
im vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung, da bereits ein Verstoß gegen die
tierschutzrechtliche Bestimmung des § 10 Abs. 1 S. 2 TierSchG und damit auch
die Voraussetzung für ein Einschreiten der Behörde nach § 10 Abs. 2 S. 1 i.V.m. §
8 a Abs. 5 TierSchG nicht gegeben ist.
Ein Verstoß gegen § 10 Abs. 1 S. 2 TierSchG läge - unabhängig von der Frage,
welche Konsequenzen sich daraus ergeben könnten - nur dann vor, wenn der
Zweck des von der Behörde untersagten Tierversuchs auch auf andere Weise,
insbesondere durch filmische Darstellungen, erreicht werden könnte.
Um dies beurteilen zu können, bedarf es denknotwendigerweise zunächst der
Feststellung, welcher Zweck mit dem Eingriff an den Versuchstieren erreicht
werden soll.
Wie bereits der Hessische Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluß im
vorausgegangenen Eilverfahren vom 29.12.1993 (Aktenzeichen: 11 TH 2796/93)
ausgeführt hat, wird die Frage, wer den Zweck von Lehrveranstaltungen mit
Eingriffen an Tieren zu bestimmen hat, vom Gesetz nicht ausdrücklich geregelt.
Nach Auffassung der Kammer folgt indessen aus dem durch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG
geschätzten Recht auf Lehrfreiheit zwingend, daß allein der für die Ausbildung
verantwortliche Hochschullehrer im Rahmen der von ihm zu erfüllenden
Lehraufgaben den Inhalt und das Ausbildungsziel seiner Lehrveranstaltung
festzulegen hat. Diese Auffassung, die auch mit § 3 Abs. 3 S. 1
Hochschulrahmengesetz (HRG) korrespondiert, wonach die Freiheit der Lehre
insbesondere die inhaltliche und methodische Gestaltung von Lehrveranstaltungen
umfaßt, entspricht auch der überwiegenden Meinung in der Kommentarliteratur
und Rechtsprechung. Danach gehört zu der durch Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG
geschätzten Freiheit der Lehre insbesondere die Bestimmung von Inhalt,
Methoden und Ablauf von Lehrveranstaltungen oder deren Problemstellung (von
Münch, Grundgesetzkommentar, 4. Aufl., Art. 5 Rdnr. 105; ebenso Jarass/Pieroth,
Grundgesetzkommentar, 3. Aufl., Art. 5 Rdnr. 77 a). Auch das
Bundesverfassungsgericht fährt aus, daß die Freiheit der Lehre insbesondere
deren Inhalt und den methodischen Ansatz umfasse (BVerfGE 35, S. 113 f.), und
daß die Gestaltung von Lehrveranstaltungen grundsätzlich in der Hand des
Hochschullehrers liege (BVerfGE 55, S. 37 ff. [68]).
Unter Berücksichtigung dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben kann daher der
Zweck des streitgegenständlichen Tierversuchs - also das damit angestrebte
Ausbildungsziel - allein von dem. jeweiligen Hochschullehrer festgelegt werden,
jedenfalls soweit sich dieser damit im Rahmen der von ihm zu erfüllenden
Lehraufgaben bewegt.
In seiner Versuchsanzeige gegenüber dem Regierungspräsidium Gießen vom
20.09.1993 hat der Kläger zunächst den Zweck des Versuchsvorhabens mit
"Lehrveranstaltung; Demonstration der Nahrungsresorption (aktiver Transport von
Hexosen) im Dünndarm" bezeichnet und diesen dann in den darauffolgenden
Schriftwechseln mit dem Regierungspräsidium weiter konkretisiert. So wird
beispielsweise in dem Schreiben vom 03.08.1993 ausgeführt, daß im Vordergrund
des festgelegten Versuches die eigenen Erfahrungen der Studenten bei dem
Messen von Körperfunktionen in einem lebenden Komplexsystem stunden
(Aktenseite 53 der Behördenakte I). Weiter heißt es in einem Schreiben vom
01.10.1993, daß die Studenten neben dem eigentlichen Kursthema Verdauung
auch eine ausführliche Unterweisung in die Einleitung, Dosierung und
Überwachung einer Narkose, Technik der Blutentnahme, Laparotomie,
Freipräparation eines Organes ohne Blutgefäße zu zerstören und chirurgische
Schneid-, Näh- und Abbindetechniken erhalten sollen (Aktenseite 92 der
Behördenakte). Letztlich wird auch in der Klagebegründungsschrift vorm.
22.08.1995 ausgeführt, daß den Studenten im Kurs Tierphysiologie neben den
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22.08.1995 ausgeführt, daß den Studenten im Kurs Tierphysiologie neben den
fachlichen Inhalten auch Grundkenntnisse in tierexperimenteller Arbeit vermittelt
werden sollen.
Dieses von dem Kläger für seine Lehrveranstaltung festgelegte Ausbildungsziel
hält sich auch im Rahmen der von dem Kläger im Hinblick auf den Studiengang
Biologie - Fachrichtung Zoologie - zu erfüllenden Lehraufgaben. Dies ergibt sich
nach Auffassung der Kammer bereits aus dem Tierschutzgesetz selbst, wonach
gem. § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 TierSchG Tierversuche mit operativen Eingriffen an
Wirbeltieren nur von Personen mit abgeschlossenem Hochschulstudium der
Biologie - Fachrichtung Zoologie - durchgeführt werden dürfen, wenn diese
Personen an Hochschulen oder anderen wissenschaftlichen Einrichtungen tätig
sind. Auch der Gesetzgeber geht demzufolge davon aus, daß die Studenten dieser
Fachrichtung während ihres Studiums auch mit operativen Techniken und
praktischen Fähigkeiten vertraut gemacht wurden und am Ende ihrer Ausbildung
zur eigenverantwortlichen Durchführung von bestimmten Tierversuchen befähigt
sind. Dem Einwand des Beklagten, daß die von dem Kläger durchgeführte
Lehrveranstaltung die vom Gesetz in § 9 Abs. 1 TierSchG vorausgesetzten
Fähigkeiten der Studenten nicht vermitteln könnte, kann insoweit keine Bedeutung
beigemessen werden, da der streitgegenständliche Kurs nicht isoliert betrachtet
werden kann, sondern als Teil einer in Grund- und Hauptstudium untergliederten
und aufeinander aufbauenden Gesamtausbildung der Biologie-/Zoologie-
Studenten anzusehen ist und dem Kurs insofern gerade im Hinblick auf die von § 9
Abs. 1 TierSchG vorausgesetzten praktischen Kenntnisse der
Hochschulabsolventen durchaus eine (Teil-) Bedeutung zukommt.
Der somit zulässigerweise von dem Kläger mit seiner Lehrveranstaltung verfolgte
Zweck, neben dem eigentlichen Kursthema Verdauung den Studenten auch
operative Techniken und manuelle Präparierfähigkeiten zu vermitteln, kann auch
nicht auf andere Weise, insbesondere durch filmische Darstellungen, erreicht
werden, so daß dahingestellt bleiben kann, inwieweit die Feststellung der
Geeignetheit von Ersatzmethoden im Hinblick auf Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG einer
behördlicher Kontrolle zugänglich ist.
Denn die seitens des Beklagten im Rahmen des bisherigen Verfahrens eingeholten
Sachverständigengutachten gehen bezüglich dieser Frage übereinstimmend
davon aus, daß die Vermittlung manueller Fertigkeiten durch theoretische
Ausbildungsmethoden nicht ersetzbar ist. So führt das Gutachten Dr. G. vom.
16.09.1993 in seiner abschließenden Bewertung aus, daß der begutachtete
Unterrichtsfilm das Erlernen manueller Präparierfähigkeiten "natürlich nicht
ersetzen" könne und daß auf die Präparierübungen verwiesen werden müsse,
wenn zum Unterrichtszweck auch das Erlernen präparatorischer Fähigkeiten
gezählt werde (Aktenseite 61 C der Behördenakte I). In dem Gutachten des
Arbeitskreises der Tierschutzbeauftragten in Bayern vorm. 26.10.1993 heißt es,
daß selbst ein exzellenter Videofilm die experimentelle Tätigkeit am lebenden
Gesamtorganismus per definitionem nicht ersetzen könne und daß der
tierschutzgerechte Umgang mit Versuchstieren, das Herstellen eines
physiologischen Präparates und die technische Durchführung eines
physiologischen Versuchs für Zoologen unabdingbar erscheine und nicht durch
andere Methoden (filmische Darstellungen, Simulationen, Computerprogramme)
ersetzt werden könne (Aktenseite 134 der Behördenakte I). Letztlich erwähnt auch
das Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin
in seinem Gutachten vom 12.09.1994, daß man sich die für die operative Tätigkeit
erforderlichen praktischen Erfahrungen nicht aus einem exzellenten Videofilm
aneignen könne (Aktenseite 163 der Behördenakte II.).
Kann nach alledem der Zweck der von dem Kläger im Rahmen seiner
Lehrveranstaltung durchgeführten Eingriffe an den Ratten, nämlich u.a. den
Studenten auch präparatorische Fähigkeiten und operative Techniken zu
vermitteln, nicht auf andere Weise erreicht werden, fehlt es bereits an einer
Verletzung der tierschutzrechtlichen Vorschrift des § 10 Abs. 1 S. 2 TierSchG und
damit an einem Tatbestandsmerkmal der behördlichen Ermächtigungsgrundlage
des § 10 Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 8 a Abs. 5 TierSchG, mit der Folge, daß der
angefochtene Bescheid bereits aus diesem Grunde rechtswidrig ist.
Da der Kläger durch die Untersagung seiner Lehrveranstaltung auch in seinem
Recht aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG verletzt ist, war der angefochtene Bescheid gem. §
113 Abs. 1 S. 1 VwG0 mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwG0 aufzuheben.
38 Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwG0, §§
708 Nr. 11, 711 ZPO.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.