Urteil des VG Gießen vom 31.03.2008

VG Gießen: öffentliche sicherheit, ablauf der frist, kontrolle, anbau, allgemeiner rechtsgrundsatz, materielles recht, unbestimmter rechtsbegriff, wand, form, breite

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Gericht:
VG Gießen 1.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
1 K 99/08.GI, 1 K
99/08
Dokumenttyp:
Urteil
Quelle:
Normen:
§ 53 Abs 2 S 2 BauO HE 2002,
§ 54 BauO HE 2002, § 57 Abs
1 BauO HE 2002, § 63 Abs 1
BauO HE 2002, § 65 Abs 1
BauO HE 2002
(Verbot der Anbringung einer Werbeanlage - Abgrenzung
der präventiven von der repressiven bauaufsichtlichen
Kontrolle)
Tenor
1. Der Bescheid der Beklagten vom 09.11.2007 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 14.01.2008 wird
aufgehoben.
2. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Die
Hinzuziehung eines Bevollmächtigten durch die Klägerin im
Vorverfahren war notwendig.
3. Das Urteil ist im Kostenausspruch vorläufig vollstreckbar. Der
Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder
Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn
nicht der Kostengläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher
Höhe leistet.
Tatbestand
Die Klägerin ist ein Unternehmen der Außenwerbung.
Mit bei der Beklagten (Untere Bauaufsichtsbehörde) am 31.08.2007
eingegangenem vollständigem Bauantrag vom 29.08.2007 begehrte sie bei dieser
die Baugenehmigung zur Errichtung einer beleuchteten Großflächenwerbeanlage
in einer Größe von 3,6 m x 2,6 m auf dem Grundstück Flur C, Flurstück D (E-
Straße) in der Gemarkung Gießen (Baugrundstück) im unbeplanten Innenbereich.
Das Baugrundstück ist mit dem Hotel F bebaut. Das schmucklose, mit einem
bräunlichen Verputz versehene und architektonisch beliebige Hauptgebäude auf
dem nordwestlichen Grundstücksbereich weist ein Kellergeschoss, drei
Vollgeschosse und unter einem Walmdach ein ausgebautes Dachgeschoss auf. In
südwestlicher Richtung ist an das Hauptgebäude ein schuhkartonförmiger Anbau
errichtet, in dessen Kellergeschoss sich eine Garage und auf dessen erstem
Geschoss sich eine von dem Hauptgebäude aus erreichbare Dachterrasse mit
einer etwa 0,90 m hohem Umwehrung aus braunem Plexiglas befinden. Im
südöstlichen Grundstücksbereich weist der Anbau ein weiteres Geschoss auf und
wirkt aufgrund seines Flachdaches wie ein doppelter Schuhkarton. In einer Breite
von etwa 2,50 m ist der Anbau im Zweiten Geschoss vor der südwestlichen Wand
des Haupthauses errichtet. Der in gleicher Farbe wie das Hauptgebäude
angestrichene Anbau ist völlig schmucklos und zur Südwestseite hin mit
Eternitplatten verkleidet; er vermittelt den Eindruck eines überdimensionierten
Containers. Das Wohnhaus weist in der südwestlichen, dem Anbau zugewandten
Wand im dritten Geschoss etwa in der Mitte der Wand ein dreiflügeliges Fenster
und im zweiten Geschoss darunterliegend zwei Dachterrassenzugangstüren auf. In
der der Terrasse zugewandten Dachgaube sind ebenfalls etwa mittig drei Fenster
mit zusammen einer größeren Breite als das vorgenannte dreiflügeligen Fenster
im dritten Geschoss eingebaut. Im westlichen Teil der südwestlichen Wand des
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im dritten Geschoss eingebaut. Im westlichen Teil der südwestlichen Wand des
Anbaus zum Nachbargrundstück Flurstück G (Betriebsgelände Firma H) sind im
ersten Geschoss im westlichen Bereich unterhalb der Umwehrung zwei Fenster
und im östlichen Bereich zwei Glasbaustein-„Fenster“ eingebaut; diese Fenster
und Glasbaustein-„Fenster“ nehmen die Symmetrie der vorgenannten beiden
Türen und des dreiflügeligen Fensters in der Südwestwand des Haupthauses und in
der Südwestgaube nicht auf.
Die zur Genehmigung gestellte Werbeanlage soll an der südwestlichem Hauswand
des Haupthauses in Höhe des zweiten und dritten Geschosses zwischen der
Gebäudevorderkante und dem vorgenannten dreiflügeligen Fenster im dritten
Geschoss und mit ihrer Oberkante in Höhe der Oberkante dieses Fensters
errichtet werden. Der Lampenkörper soll fast an die Dachtraufe reichen. Wegen
der Einzelheiten des Vorhabens wird auf die bei den beigezogenen Behördenakten
befindlichen Bauvorlagen und die in der Gerichtsakte befindlichen Fotos Bezug
genommen.
Mit Schreiben vom 09.11.2007 hörte die Beklagte die Klägerin zum Erlass eines
beabsichtigten Anbringungsverbotes an; sie führte unter näherer Darlegung aus,
dass die Werbeanlage das Wohnhaus verunstalte.
Dagegen wandte sich die Klägerin mit anwaltlichem Schreiben vom 14.11.2007
und trug unter näherer Darlegung vor, dass eine Verunstaltung nicht gegeben sei;
sie bat um Erteilung der Baugenehmigung.
Mit der Klägerin am 28.11.2007 zugestelltem Bescheid vom 09.11.2007
untersagte die Beklagte der Klägerin die Anbringung der Werbeanlage. Zur
Begründung führte sie aus:
„Die Anbringung der geplanten Werbeanlage war zu untersagen, da das
Bauvorhaben öffentlich-rechtlichen Vorschriften widerspricht.
Die Bauaufsichtsbehörden haben gem. § 52 Abs. 2 Satz 2 der Hess.
Bauordnung (HBO) die nach pflichtgemäßen Ermessen erforderlichen Maßnahmen
zu treffen, um bei baulichen Anlagen für die Einhaltung der öffentlich-rechtlichen
Vorschriften und der aufgrund dieser Vorschriften erlassenen Anordnungen zu
sorgen.
Diese umfassende Befugnis umfasst auch die Ermächtigung, bereits
vorbeugend zur Verhinderung eines sonst in Zukunft mit hinreichender
Wahrscheinlichkeit eintretenden rechtswidrigen Zustandes einzuschreiten (VGH
Kassel, Beschl. v. 25.0.5.2001, BRS 64 Nr. 194).
Nach § 54 Abs. 2 HBO müssen bauliche Anlagen auch den öffentlich-
rechtlichen Vorschriften entsprechen, die nicht zum Prüfungsumfang im
vorliegenden Baugenehmigungsverfahren gehören. Dies ist hier nicht der Fall, da
das Bauvorhaben gegen das Verunstaltungsverbot des § 9 Abs. 1 HBO verstößt.
Die geplante Werbeanlage unterliegt gem. § 54 Abs. 1 HBO der
Baugenehmigungspflicht. Insbesondere gehört die Werbeanlage aufgrund Ihrer
Größe nicht zu den durch Abschnitt I Nr. 10.1.1. der Anlage zu § 55 HBO von der
Baugenehmigungspflicht freigestellten Vorhaben.
Der Bauantrag ist im Verfahren nach § 57 HBO zu prüfen, da das
Bauvorhaben nicht im Geltungsbereich eines rechtswirksamen und qualifizierten
Bebauungsplanes liegt und daher nicht in den Anwendungsbereich des § 56 HBO
fällt.
Von dem Wahlrecht des § 78 Abs. 10 HBO, wonach die Bauherrschaft bis
zum 31.12.2010 bei Bauvorhaben, die dem vereinfachten
Baugenehmigungsverfahren (§ 57 HBO) unterfallen, die Durchführung eines
Baugenehmigungsverfahrens nach § 58 HBO verlangen kann, wurde kein
Gebrauch gemacht.
Die bauaufsichtliche Prüfung umfasst im sog. vereinfachten
Genehmigungsverfahren nach § 57 HBO die Zulässigkeit des Bauvorhabens nach
bauplanungsrechtlichen Vorschriften, von Abweichungen von
bauordnungsrechtlichen Vorschriften nach Maßgabe des § 63 HBO sowie nach
anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften, soweit wegen der Baugenehmigung
eine Entscheidung nach diesen Vorschriften entfällt oder ersetzt wird.
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Da jedenfalls ein Antrag nach § 63 Abs. 1 HBO auf Zulassung einer
Abweichung von § 9 Abs. 1 HBO nicht gestellt worden ist, kann dahingestellt
bleiben, ob dieses überhaupt einer Abweichung zugänglich ist. Daran bestehen
erhebliche Zweifel, weil das Verunstaltungsverbot zu den baurechtlichen
Grundanforderungen gehört (Allgeier/v. Lutzau, Das Baurecht für Hessen, 7. Aufl.,
§ 9 Anm. 9) und das damit verfolgte Ziel, Verunstaltungen abzuwehren (vgl. dazu
BVerwG, Beschl. v. 27.06.1991, BauR 1991, 727), nur bei seiner Beachtung
erreicht werden kann.
Nach § 9 Abs. 1 HBO müssen bauliche Anlagen u.a. der Form und dem
Verhältnis der Baumassen und Bauteile zueinander so gestaltet sein, dass sie
nicht verunstaltet wirken. Werbeanlagen gelten gem. § 2 Abs. 1 Satz 3 Nr. 7 HBO
als bauliche Anlagen.
Eine Verunstaltung liegt vor, wenn ein hässlicher Zustand geschaffen wird,
der das ästhetische Empfinden eines fachlich nicht vorgebildeten, für ästhetische
Eindrücke jedoch aufgeschlossenen Durchschnittsbetrachters verletzt oder als
verletzend oder Unlust erregend empfunden wird (BVerwG, Urt. v. 28.06.1955, I C
146.53 – juris; VGH Kassel, Beschl. v. 24.05.1985, HVGRspr. 1985, S. 67; Beschl. v.
05.10.1995, BRS 57 Nr. 179). Da Werbeanlagen Auswirkungen auf das
Erscheinungsbild des Anbringungsortes haben, kann sich eine Verunstaltung auch
aus einem gestalterischen Widerspruch zu dem Bauwerk ergeben, vor oder an der
die Werbeanlage angebracht werden soll (VGH Kassel, Urt. v. 18.11.1983, BRS 40
Nr. 155).
Die geplante Werbeanlage nimmt die oberhalb der Dachterrasse und der
Dachtraufe sowie der Gebäudevorderkante und den etwa in Wandmitte
befindlichen, übereinander angeordneten Fensterelementen vorhandene freie
Fläche fast vollständig in Anspruch, so dass dieser eine wuchtige, die südwestliche
Außenwand dominierende Wirkung zukommt. Diese Wirkung wird durch den
besonders augenfälligen Größenunterschied zu den daneben liegenden
Fensterelementen und der auf dieser Gebäudeseite ebenfalls vorhandenen
Dachgaube verstärkt. Dadurch wird die Symmetrie der Außenwand empfindlich
gestört. Es kommt hinzu, dass die auch auf dieser Gebäudeseite durch den
vorhandenen Anbau und das Fenster erkennbare Unterteilung der Geschosse
durch die sich über zwei Geschosse erstreckende Werbeanlage aufgehoben wird.
Außerdem wird der negative Kontrast zu dem Gebäude, an dem die Werbeanlage
angebracht werden soll, je nach farblicher Gestaltung der Plakate und des
Bildinhaltes noch gesteigert. Das Gebäude erhält dadurch einen unangemessenen
optischen Schwerpunkt in den oberen Geschossen, der das Gebäude auf dieser
Seite beherrscht. Mit der Werbeanlage wird daher eine gestalterische Unruhe
erzeugt, die bei einem Betrachter ein großes Unlustgefühl hervorruft.“
Dagegen legte die Klägerin mit anwaltlichem Schreiben vom 28.11.2007 unter
Wiederholung ihrer Ausführungen aus dem Schreiben vom 14.11.2007
Widerspruch ein.
Den Widerspruch wies die Beklagte mit der Klägerin am 21.01.2008 zugestelltem
Widerspruchsbescheid vom 14.01.2008 unter Aufrechterhaltung ihrer Auffassung
aus dem Bescheid vom 09.11.2007 zurück.
Mit bei Gericht am 23.01.2008 eingegangenem anwaltlichem Schreiben vom
22.01.2008 hat die Klägerin unter Wiederholung ihres bisherigen Vorbringens Klage
erhoben.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 09.11.2007 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 14.01.2008 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt unter Verteidigung ihrer Bescheide,
die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten der Sach- und Rechtslage wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der vorgelegten Behördenakten der Beklagten (ein Hefter)
Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -
) ist begründet, da der Bescheid der Beklagten vom 09.11.2007 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 14.01.2008 rechtswidrig ist und die
Klägerin in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Zunächst ist mit dem insoweit zutreffenden Widerspruchsbescheid festzustellen,
dass das nach § 54 Hessische Bauordnung - HBO - i.V.m. § 57 HBO im
vereinfachten Baugenehmigungsverfahren genehmigungspflichtige und mit bei der
Beklagten am 31.08.2007 eingegangenem vollständigem Bauantrag vom
29.08.2007 zur Genehmigung gestellte Werbetafel-Vorhaben nach § 57 Abs. 2
Satz 3 HBO als genehmigt gilt. Mithin kann diesem Vorhaben bis zu einer
Rücknahme dieser fiktiven Baugenehmigung nach § 48 Hessisches
Verwaltungsverfahrensgesetz - HVwVfG - nicht die Verletzung von nach § 57 Abs.
1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 HBO zu prüfendem Recht entgegen gehalten werden.
Das mit dem Bescheid der Beklagten vom 09.11.2007 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 14.01.2008 verfügte Verbot der
Anbringung der Werbeanlage an dem Hotel-Hauptgebäude erweist sich aus jedem
der nachgenannten Gründe als rechtswidrig.
Als Befugnisnorm für das ausgesprochene Anbringungsverbot führt die Beklagte in
ihrem Bescheid vom 09.11.2007 § 52 Abs. 2 Satz 2 HBO an und korrigiert dies
auch nicht in ihrem Widerspruchsbescheid vom 14.01.2008. Da es jedoch keinen §
52 Abs. 2 Satz 2 HBO gibt und repressive bauaufsichtsbehördlichen Befugnisse
sämtlich in das Ermessen der Bauaufsichtsbehörde gestellt sind und die Beklagte
auch ausgeführt hat, dass die ihr eingeräumte Befugnis in ihr Ermessen gestellt
sei, liegt wegen des Ausgehens von falschen rechtlichen Voraussetzungen – die
Behörde hat zunächst die einschlägige Ermessensnorm heranzuziehen und
sodann zu prüfen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen derselben gegeben
sind - ein gerichtlicher Kontrolle nach § 114 Satz 1 VwGO unterfallender
Ermessensfehler in Gestalt eines Erwägungsdefizits vor (vgl. BVerwG, Urteil vom
18.05.1990 - 8 C 48.88 -, BVerwGE 85, 163; Redeker/von Oertzen,
Verwaltungsgerichtsordnung, 14. Aufl. 2004, § 114 Rn. 9a u.10; Rennert in
Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 11. Aufl. 2000, § 114 Rn. 24).
Anhand des in dem Bescheid vom 09.11.2007 wiedergegebenen Wortlautes der
von der Beklagten für einschlägig gehaltenen Befugnisnorm erschließt sich, dass
sie das Anbringungsverbot auf die bauordnungsrechtliche Generalklausel des § 53
Abs. 2 Satz 2 HBO stützen wollte. Nach dieser Bestimmung haben die
Bauaufsichtsbehörden ihn Wahrnehmung der ihnen in § 53 Abs. 2 Satz 1 HBO
zugewiesenen Aufgabe, bei baulichen Anlagen für die Einhaltung der öffentlich-
rechtlichen Vorschriften und der aufgrund dieser Vorschriften erlassenen
Anordnungen zu sorgen, die nach pflichtgemäßem Ermessen erforderlichen
Maßnahmen zu treffen; dies gilt auch soweit eine präventive bauaufsichtliche
Prüfung entfällt.
Die Norm ist nicht einschlägig, ihre tatbestandlichen Voraussetzungen liegen nicht
vor und die Maßnahme ist ermessensfehlerhaft ergangen.
In § 53 Abs. 2 Satz 2 HBO sowie insbesondere auch in den §§ 71 und 72 HBO sind
den Bauaufsichtsbehörden Befugnisse eingeräumt, im Rahmen der repressiven
Kontrolle des Baugeschehens Eingriffsmaßnahmen zu erlassen (vgl. z.B.
Finkelnburg/Ortloff, Öffentliches Baurecht, Band II, 5. Aufl. 2005, S. 180 f.).
Hingegen ist die präventive Kontrolle durch das Genehmigungsverfahren in den §§
54 bis 65 HBO abschließend geregelt. Mit dem ausgesprochenen
Anbringungsverbot verfolgt die Beklagte das Ziel, die Klägerin faktisch so zu
stellen, als sei sie nicht im Besitz einer Baugenehmigung und unterliege dem
Regime des § 65 Abs. 1 HBO, wonach vor Zugang der Baugenehmigung oder vor
Ablauf der Frist des § 57 Abs. 2 Satz 3 HBO mit der Ausführung nicht begonnen
werden darf. Denn sie führt zur Begründung einen Verstoß gegen das
bauordnungsrechtliche Verunstaltungsverbot des § 9 Abs. 1 HBO an, der jedoch
wie das gesamte Bauordnungsrecht – ausgenommen § 63 HBO – nicht nach § 57
Abs. 1 HBO zum Prüfprogramm im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren
zählt, weshalb es insoweit einzig der Bauherrschaft obliegt, für die Einhaltung des
Bauordnungsrechts Sorge zu tragen. Denn mit dem vereinfachten
Baugenehmigungsverfahren hat der Gesetzgeber den Umfang der präventiven
bauaufsichtlichen Kontrolle auf diejenigen Prüfungspunkte reduziert, die in seinen
Augen wegen der gefahrenrechtlichen Komplexität einer baulichen Anlage
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Augen wegen der gefahrenrechtlichen Komplexität einer baulichen Anlage
unverzichtbar sind. Die Herausnahme des Bauordnungsrechts aus dem Prüf- und
Entscheidungsprogramm des vereinfachten Baugenehmigungsverfahrens –
ausgenommen § 63 HBO - ist eine bewusste und gewollte gesetzgeberische
Entscheidung. Denn als Maßnahme zur Erleichterung des formellen Rechts und zur
Beschleunigung der Baugenehmigungsverfahren sowie des Abbaus präventiver
staatlicher Kontrolltätigkeit unter gleichzeitiger Stärkung der Verantwortlichkeit der
Bauherrschaft und der anderen am Bau Beteiligten hat der Gesetzgeber mit der
Hessischen Bauordnung vom 18.06.2002 (GVBl. I S. 274) in § 57 HBO das
vereinfachte Baugenehmigungsverfahren gegenüber der Vorläufervorschrift § 67
HBO 1993 im Anwendungsbereich erheblich erweitert und hinsichtlich der
bauaufsichtlichen Prüfung deutlich eingeschränkt (vgl. Reg.-Begr., LT-Drucks.
15/3635, S. 150; VG Gießen, Urteil vom 16.04.2007 - 1 E 18/07 -, LKRZ 2007, 314).
Dies zeigt auch § 65 Abs. 1 HBO, der die Baufreigabe gerade nicht unter das
zusätzliche Erfordernis der Einhaltung des nicht nach § 57 Abs. 1 HBO zu
prüfenden materiellen Bauordnungsrechts stellt. In diesen Fällen des von der
Bauaufsichtsbehörde angenommenen Verstoßes gegen materielles
Bauordnungsrecht ist sie somit darauf beschränkt (vgl. Reichel/Schulte, Handbuch
Bauordnungsrecht, § 14 Rn. 25), entweder die Baugenehmigung wie beantragt zu
erteilen respektive - wie hier - über die Genehmigungsfiktion des § 57 Abs. 2 Satz
3 HBO als erteilt gelten zu lassen, oder die Baugenehmigung unter dem Hinweis
zu erteilen, dass das Vorhaben gegen materielles Bauordnungsrecht verstoße und
repressive bauordnungsrechtliche Maßnahmen drohen, oder - dies ist nur unter
engsten Voraussetzungen zulässig (vgl. Reichel/Schulte, a.a.O., § 14 Rn. 37) und in
dem hier gegebenen Fall der (angeblichen) Verunstaltung i.S.d. § 9 Abs. 1 HBO
ausgeschlossen (vgl. VG Gießen, Urteil vom 16.04.2007, a.a.O, m.w.N.) - die
Baugenehmigung wegen fehlendem Sachbescheidungsinteresse zu versagen. In
diesen Fällen der Nichteinhaltung des materiellen Bauordnungsrechts ist, wie auch
der zweite Halbsatz des § 53 Abs. 2 Satz 2 HBO zeigt, die Bauaufsichtsbehörde
auf repressive Maßnahmen beschränkt. Eine Ausweitung der abschließenden, dem
Bereich präventiver Kontrolle zuzurechnenden gesetzlichen Regelung des § 65
Abs. 1 HBO über die Baufreigabe mittels der dem Bereich der repressiven
Kontrolle zuzurechnenden Bestimmung des § 53 Abs. 2 Satz 2 HBO widerspricht
der eindeutigen Trennung zwischen repressiver und präventiver Kontrolle in der
Hessischen Bauordnung und ist unzulässig.
Zudem knüpft die Befugnisgeneralklausel des § 53 Abs. 2 Satz 2 HBO hinsichtlich
der tatbestandlichen Voraussetzungen mit der Formulierung "in Wahrnehmung
dieser Aufgaben" an die Aufgabengeneralklausel des § 53 Abs. 2 Satz 1 HBO an.
Tatbestandliche Voraussetzung ist somit - auch soweit eine präventive
bauaufsichtliche Prüfung entfällt - die Nichteinhaltung der öffentlich-rechtlichen
Vorschriften bei baulichen Anlagen sowie anderen Anlagen und Einrichtungen nach
§ 1 Abs. 1 Satz 2 HBO. Erforderlich ist (wie bei der polizeilichen Generalklausel des
§ 11 Hessisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung - HSOG -)
eine konkrete Gefahr; eine abstrakte Gefahr (zu den Begriffen vgl. T., Hessisches
Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG), Kommentar, § 11 Rn.
23 u. 25 m.w.N.) reicht nicht aus (vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 18.10.1999 - 4
TG 3007/97 -, NVwZ-RR 2000, 581 = HessVGRspr. 2000, 58 = BauR 2000, 553 =
BRS 62 Nr. 144; T., Hessische Bauordnung (HBO), Kommentar, § 53 Rn. 83). Die
Bauaufsichtsbehörden haben somit die nach pflichtgemäßem Ermessen
erforderlichen repressiven Maßnahmen zu treffen, um bei der betreffenden Anlage
den Verstoß gegen die für sie maßgeblichen öffentlich-rechtlichen Vorschriften,
z.B. § 3 Abs. 1 HBO, gänzlich abzustellen und ordnungsgemäße Zustände
wiederherzustellen. So kann gestützt auf § 53 Abs. 2 Satz 2 HBO durch die
Bauaufsichtsbehörde etwa angeordnet werden, eine unzulässige Öffnung in einer
Brandwand zu schließen oder eine Dacheindeckung mit der erforderlichen
Feuerbeständigkeit auszubilden, eine schadhafte Treppe zu reparieren oder eine
Jauchegrube ordnungsgemäß zu verschließen (vgl. T. HBO, a.a.O., § 53 Rn. 86
m.w.N.). § 53 Abs. 2 Satz 2 HBO als repressiver Befugnisnorm unterfallen somit
generell keine vorbeugenden Maßnahmen, wie sie hier die Beklagte angeordnet
hat, sondern nur nachträgliche Maßnahmen zur Wiederherstellung rechtmäßiger
Zustände. Unrechtmäßige Zustände sind hier aber gerade noch nicht eingetreten.
Die Klägerin ist ihrer Pflicht, einen Bauantrag im vereinfachten
Baugenehmigungsverfahren zu stellen, nachgekommen, und die Beklagte hat die
Genehmigungsfiktion nach § 57 Abs. 2 Satz 3 HBO eintreten lassen, also keinen
Verstoß gegen nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 3 HBO im vereinfachten
Baugenehmigungsverfahren zu prüfendes materielles Recht angenommen -
Anhaltspunkte für einen solchen sind überdies nicht ersichtlich (vgl. zu der
vergleichbaren Regelung des Art. 60 Abs. 2 Satz 2 Bayerische Bauordnung
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vergleichbaren Regelung des Art. 60 Abs. 2 Satz 2 Bayerische Bauordnung
Jäde/Dirnberger/Bauer/Weiss, Bayerische Bauordnung, Loseblatt-Kommentar, Art.
60 Rn. 54 ff.) - und der Klägerin damit die Rechtsposition der Baufreigabe nach §
65 Abs. 1 HBO gewährt.
Auch trägt die Bezugnahme der Beklagten auf den zu der Vorläufervorschrift des §
61 Abs. 2 HBO a.F. ergangenen Beschluss des Hessischen
Verwaltungsgerichtshofs vom 25.05.2001 - 4 TG 764/01 -, NVwZ-RR 2002, 489 =
BauR 2002, 611 = BRS 64 Nr. 194) das in dem Bescheid vom 09.11.2007
angeordnete Anbringungsverbot nicht. In dieser Entscheidung hat der Hessische
Verwaltungsgerichtshof es für zulässig erachtet, einer Bauherrschaft, die einen
fahrbaren Anhänger mit zwei darauf montierten Werbetafeln ohne die erforderliche
Baugenehmigung aufgestellt hatte und auf das ihr wiederholt aufgegebene
Entfernen dieses Anhängers (Beseitigungsanordnung mit
Zwangsgeldandrohungen) unter zusätzlicher Verhängung von Bußgeldern dadurch
reagiert hatte, dass sie diesen Anhänger an einem anderen Standort erneut ohne
Baugenehmigung aufstellte, aufzugeben, das erneute Aufstellen dieses Anhängers
an einem Standort im Kreisgebiet zu unterlassen. Es erscheint bereits fraglich, ob
eine solchermaßen systemwidrige Ausdehnung des § 53 Abs. 2 Satz 2 HBO
erforderlich war. Denn unter Beachtung des das Gefahrenabwehrrecht
bestimmenden Grundsatzes der Effektivität der Gefahrenabwehr (vgl. z.B. T.
HSOG, a.a.O., § 2 Rn. 3 u. § 6 Rn. 36) wäre die Einziehung des Anhängers nach §
76 Abs. 4 HBO (früher: § 82 Abs. 4 HBO a.F.) i.V.m. § 22
Ordnungswidrigkeitengesetz - OWiG - oder, da die Beseitigungsanordnung, die sich
auf eine leicht abbaubare bauliche Anlage wie einen solchen Anhänger bezieht,
zugleich das Verbot der Wiedererrichtung an im Wesentlichen selben Standort
enthält (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 28.03.2007 - 8 S 159/07 -,
BauR 2007, 1220 = DÖV 2007, 571 = VBlBW 2007, 356; Hess. VGH, Beschluss
vom 22.08.1986 - 3 TH 2137/86 -, NVwZ 1987, 427 = BRS 46 Nr. 136), die
zwangsweise Durchsetzung der Unterlassungspflicht durch Wegnahme des
Anhängers nach § 75 Hessisches Verwaltungsvollstreckungsgesetz - HVwVG - die
die Gefahr definitiv beseitigende Maßnahmen gewesen. Dies bedarf keiner
abschließenden Klärung, da hier kein dem durch den Hessischen
Verwaltungsgerichtshof entschiedenen Fall vergleichbarer Fall vorliegt. Denn in
jenem Fall handelte ein notorischer Gesetzesbrecher, während hier die Klägerin –
wie ausgeführt - gesetzestreu das einschlägige vereinfachte
Baugenehmigungsverfahren durchlaufen und aufgrund der Genehmigungsfiktion
nach § 57 Abs. 2 Satz 3 HBO, die die Beklagte hat eintreten lassen, rechtmäßig
nach § 65 Abs. 1 HBO die Baufreigabe erlangt hat. Bereits die tatbestandlichen
Voraussetzungen liegen deshalb nicht vor. Jedenfalls hätte angesichts der
Annahme eines Ausnahmetatbestandes eine sorgfältige Ermessensbetätigung
erfolgen müssen. Der Bescheid der Beklagten vom 09.11.2007 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 14.01.2008 enthält jedoch einen
vollständigen Ermessensausfall und ist deshalb rechtswidrig (§ 114 Satz 1 VwGO).
Ein Nachschieben von Ermessenserwägungen nach § 114 Satz 2 VwGO ist daher
ausgeschlossen.
Entgegen der Auffassung der Beklagten liegen schließlich die tatbestandlichen
Voraussetzungen des § 53 Abs. 2 Satz 2 HBO i.V.m. § 9 Abs. 1 HBO deshalb nicht
vor, da keine Verunstaltung i.S.d. § 9 Abs. 1 HBO gegeben ist. Nach dieser
Vorschrift müssen bauliche Anlagen – als solche gelten nach § 2 Abs. 1 Satz 3 Nr.
7 HBO Werbeanlagen - nach Form, Maßstab, Verhältnis der Baumassen und
Bauteile zueinander, Werkstoff und Farbe so gestaltet sein, dass sie nicht
verunstaltet wirken.
Insoweit ist zunächst dem Umstand Rechnung zu tragen, dass einer Gemeinde zur
bodenrechtlichen Ortsbildgestaltung der in § 9 Abs. 1 BauGB abschließend
umschriebene Festsetzungskatalog für Bebauungspläne zur Verfügung steht,
daneben das Städtebaurecht einen Beitrag zur Gestaltung des Ortsbildes leistet
(vgl. die §§ 1 Abs. 5 Satz 2, 34 Abs. 1 Satz 2 und 35 Abs. 3 BauGB) - Bedenken im
Hinblick auf § 34 Abs. 1 Satz 2 BauGB (Ortsbildbeeinträchtigung) hat die Beklagte
aufgrund des Eintritts der Genehmigungsfiktion nach § 57 Abs. 2 Satz 3 HBO nicht
gesehen -, und über § 9 Abs. 1 BauGB hinausgehende Gestaltungsvorschriften, die
den Grund und Boden nicht unmittelbar zum Gegenstand rechtlicher Ordnung
haben, dem landesrechtlichen Bauordnungsrecht offen stehen, d.h. in diesem
Rahmen die Gemeinden nach Maßgabe des § 81 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2
HBO über örtliche Bauvorschriften (Gestaltungssatzungen) baugestalterische
Absichten verwirklichen können. Von diesem Instrumentarium hat die Beklagte
jedenfalls für den hier maßgeblichen Bereich keinen Gebrauch gemacht, was in der
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jedenfalls für den hier maßgeblichen Bereich keinen Gebrauch gemacht, was in der
E-Straße, einer stark befahrenen vierspurigen Einfallstraße vom Giessener Ring
(Autobahn) zur Innenstadt ins Auge springt, da diese Straße eine unorganische
Bebauung mit unterschiedlichsten, teilweise ausgesprochen hässlichen Gebäuden,
die überwiegend und vornehmlich im Erdgeschoss gewerblich genutzt werden,
aufweist.
Vor diesem Hintergrund ist zu beachten, dass es in erster Linie Aufgabe des § 9
HBO ist, bauliche Auswüchse zu unterbinden, nicht aber bestimmte ästhetische
Wertvorstellungen zur Stadtbildgestaltung, wofür der Gemeinde - wie dargestellt -
und nicht der Bauaufsichtsbehörde die Kompetenzen zustehen, zu verwirklichen.
Wegen der schwierigen Bestimmbarkeit des Rechtsbegriffs der Verunstaltung hat
eine Beschränkung der Freiheit der Baugestaltung mit großer Zurückhaltung unter
Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (§§ 3 Abs. 1 Satz 3,
HSOG) zu erfolgen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27.06.1991 - 4 B 138.90 -, NVwZ
1991, 983). Dabei ist der Begriff der Verunstaltung ein unbestimmter
Rechtsbegriff. Insbesondere ist mit der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes
(Art. 14 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz - GG -) ein Geschmacksdiktat der Behörden
nicht vereinbar (vgl. Degenhart/Tegeler, Sächsische Bauordnung, Loseblatt-
Kommentar, § 12 Rn. 5 m.w.N.). Er lässt kein Ermessen zu und unterliegt der
uneingeschränkten gerichtlichen Nachprüfung (vgl. OVG Berlin, Urteil vom
19.02.1971 - II B 102/68 -, BRS 24 Nr. 119). Begriffsgegenstand der Verunstaltung
sind nicht Fragen der positiven Baugestaltungspflege wie Geschmack, Schönheit
und architektonische oder sonstige Harmonie, vielmehr die Verhinderung und
Abwehr nicht mehr hinnehmbarer Gestaltungen und Zustände baulicher Anlagen
mit den Mitteln der Bauordnungsrechts (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom
06.02.1992 - 11 A 2235/89 -, NVwZ 1993, 89). Diese Zielrichtung beeinflusst
maßgeblich die Konkretisierung des Begriffs der Verunstaltung i.S.d. § 9 HBO
durch die Rechtsprechung. Unter Verunstaltung ist ein hässlicher, das ästhetische
Empfinden des Beschauers nicht bloß beeinträchtigender, sondern verletzender
Zustand anzusehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 28.06.1955 - I C 146.53 -, BVerwGE
2, 172 = NJW 1955, 1647; ihm folgend Hess. VGH, Urteil vom 19.05.1978 - IV OE
126/76 -, HessVGRspr. 1978, 90 = BRS 33 Nr. 123; Beschluss vom 24.05.1985 - 3
UE 658/85 -, HessVGRspr. 1985, 67; HessVGRspr. 1996, 44 = BRS 57 Nr. 179;
Urteil vom 19.03.1996 - 4 UE 2461/94 -, NVwZ-RR 1997, 11 = HessVGRspr. 1996,
84 = BRS 58 Nr. 126). Es muss also auf einen gebildeten ästhetischen Eindrücken
offenen Durchschnittsbetrachter ankommen (vgl. Bayerischer VGH, Urteil vom
09.06.2000 - 2 B 96.2571 -, BayVBl. 2001, 211) und es muss bei einem nicht
unbeträchtlichen, in durchschnittlichem Maße für ästhetische Eindrücke
aufgeschlossenen Teil der Betrachter nachdrücklich Protest ausgelöst werden (vgl.
BVerwG, Beschluss vom 13.04.1995 - 4 B 70.95 -, NJW 1995, 2648; insgesamt zu
dem Vorstehenden vgl. T. HBO, a.a.O., § 9 Rn. 4 ff.).
In § 9 Abs. 1 HBO ist unter Form das äußere Erscheinungsbild (äußere Gestalt) zu
verstehen, d.h. jeder Gesichtspunkt wie Symmetrie, Gestaltung eines Bauteils
(z.B. einer Dachgaube), Lage eines Bauteils (z.B. der Fenster in der Außenwand),
der für die Beurteilung des äußeren Erscheinungsbildes maßgeblich ist. Die
übrigen vier Kriterien sind weitgehend Teilaspekte der Form. Maßstab der
baulichen Anlage meint deren Maßstäblichkeit/Proportionalität. Ein Teilaspekt der
Maßstäblichkeit ist das Verhältnis der Baumassen und Bauteile (Erker,
Wintergarten, Gaube, Kamin pp. als hervortretende Bauteile; Dacheinschnitt als
zurücktretender Bauteil) zueinander. Darunter sind die Beziehungen nach
horizontaler und vertikaler Lage, Größe (Breite, Höhe, Tiefe), Proportion und Form
zu verstehen.
Hinsichtlich Form, Werkstoff und Farbe des Hotelkomplexes ist festzustellen, dass
es sich um ein architektonisch beliebiges schmuckloses Anwesen mit bräunlichem
Anstrich von Putz und – dies betrifft die südwestliche Wand des Anbaus –
Eternitplatten und brauner Plastikumwehrung der Dachterrasse auf dem Anbau
handelt. Selbstverständlich wird diese „Monotonie“ durch die geplante
Werbeanlage, je nach farblicher Gestaltung der Plakate und des Bildinhaltes, mehr
oder weniger deutlich unterbrochen. Ein derartiger „Farbtupfer“ auf einer
schmucklosen Wand löst aber keinesfalls bei einem gebildeten ästhetischen
Eindrücken offenen Durchschnittsbetrachter nachdrücklich Protest aus. Es tritt
gerade noch keine gestalterische Unruhe eintritt, die bei einem solchen Betrachter
ein großes Unlustgefühl hervorruft.
Hinsichtlich des Maßstabes ergibt sich, dass an das Hauptgebäude mit Walmdach
ein schuhkartonförmiger, äußerst klobig und das Hauptgebäude aus südwestlicher
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ein schuhkartonförmiger, äußerst klobig und das Hauptgebäude aus südwestlicher
Sicht fast erschlagenden Flachdachanbau angebaut ist. Die symmetrisch in der
Südwestwand im dritten und zweiten Geschoss übereinander angeordneten beiden
Türen und das dreiflügelige Fenster wird bereits in der darüberliegenden
Dachgaube wieder verlassen, da die drei dort eingebauten Fenster eine deutlich
größere Breite aufweisen. Ebenso wird sie nicht durch die beiden Fenster und die
beiden Glasbaustein-„Fenster“ in der Südwestwand des Anbaus aufgenommen.
Schließlich wird sie vollends zerstört durch den Anbau mit einer größeren Breite als
der des Haupthauses und dadurch, dass der Anbau im südöstlichen
Grundstücksbereich ein weiteres Geschoss aufweist und aufgrund seines
Flachdaches wie ein doppelter Schuhkarton wirkt sowie in einer Breite von etwa
2,50 m im zweiten Geschoss vor der südwestliche Wand des Haupthauses
errichtet ist. Angesichts dieser Uneinheitlichkeit der Südwestfront des
Hotelkomplexes (vgl. Bayerischer VGH, Urteil vom 30.07.1979 - Nr. 89 XIV 78 -,
BayVBl. 1980, 19) bringt die Anbringung der Werbetafel keine gravierende
maßstäbliche Veränderung und beeinträchtigt allenfalls diese Hausfront, erzeugt
aber keineswegs einen verletzenden Zustand.
Endlich erweist sich das Anbringungsverbot unter einem weiteren Gesichtspunkt
als ermessensfehlerhaft. § 53 Abs. 2 Satz 2 HBO befugt die Bauaufsichtsbehörden
zu den in der Vorschrift genannten repressiven Eingriffsmaßnahmen nach
pflichtgemäßem Ermessen. Nach § 40 Hessisches Verwaltungsverfahrensgesetz –
HVwVfG - hat die Bauaufsichtsbehörde das ihr eingeräumte Ermessen
entsprechend dem Zweck der Ermächtigung (Befugnisnorm) auszuüben und die
gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Die Ermessensentscheidung
muss sachlich richtig sein (vgl. allgemein für das Gefahrenabwehrrecht
Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, Allgemeines Polizeirecht
(Ordnungsrecht) des Bundes und der Länder, 9. Aufl. 1986, S. 381). Sachlichkeit
bedeutet für die Behörde neben dem Ausklammern persönlicher Gesichtspunkte
das Verbot, sich die Durchführung der Arbeit zu erleichtern (vgl. BVerwG,
Beschluss vom 03.05.1999 - 3 B 48.99 -, BayVBl. 2000, 380; Hess. VGH, Urteil
vom 24.04.1963 - OS II 81/62 -, DÖV 1964, 61; VGH Baden-Württemberg, VBlBW
1965, 143; Drews/Wacke/Vogel/Martens, a.a.O., S. 415 f. Rachor in
Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 4. Aufl., 2007, Rn. F 233 ff.; T.
HSOG, a.a.O., § 5 Rn. 14) und Arbeit oder Kosten zu sparen, wie es in § 6 Abs. 2
HSOG 1972 noch ausdrücklich normiert war und heute als allgemeiner
Rechtsgrundsatz gilt. Die Erleichterung polizeilicher Aufgaben macht auch als
Nebenmotiv/-zweck eine Maßnahme fehlerhaft (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom
06.02.1969 - VI OVG A 100/67 -, OVGE 25, 411). Hier will die Beklagte sich die ihr
nach § 53 Abs. 2 Satz 1 HBO zugewiesene repressive Aufgabe, bei baulichen
Anlagen für die Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften und der aufgrund
dieser Vorschriften erlassenen Anordnungen zu sorgen, dadurch erleichtern, dass
sie die Anbringung der Werbeanlage vorsorglich untersagt und so die Kontrolle der
Anbringung der Werbeanlage und die Prüfung der Voraussetzungen für nach der
Hessischen Bauordnung hier einzig im Rahmen der repressiven Kontrolle des
Baugeschehens zulässiger Maßnahmen, nämlich der Baueinstellung nach § 71
Satz 1 HBO und der Beseitigungsanordnung nach § 72 Abs. 1 Satz 1 HBO, und
ggfs. die Anordnung derselben vermeidet. Derartige Verfügungen auf Vorrat sind
unzulässig.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO sowie auf § 162 Abs. 2 Satz
2 VwGO. Notwendig ist die Zuziehung eines Bevollmächtigten dann, wenn es dem
Widerspruchsführer nach seinen persönlichen Verhältnissen und wegen der
Schwierigkeit der Sache nicht zuzumuten ist, das Vorverfahren selbst zu führen
(st. Rspr., vgl. BVerwG, Urteil vom 26.01.1996 - 8 C 15.95 -, BayVBl. 1996, 571,
m.w.N.; VG Gießen, Urteil vom 27.02.2007 - 1 E 72/07 -). Dies war hier angesichts
insbesondere der zahlreichen aufgeworfenen nicht einfachen Rechtsfragen der Fall.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m.
den §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung - ZPO -.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.