Urteil des VG Gießen vom 31.10.2002

VG Gießen: feststellung des tatbestandes, verschlechterung des gesundheitszustandes, bulgarien, innere medizin, anerkennung, gefahr, abschiebung, behandlung, rechtsschutz, leib

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Gericht:
VG Gießen 6.
Kammer
Entscheidungsdatum:
Aktenzeichen:
6 G 3998/02.A
Dokumenttyp:
Beschluss
Quelle:
Normen:
Art 19 Abs 4 GG, § 80 Abs 5
VwGO, § 86 Abs 3 VwGO, § 88
VwGO, § 123 Abs 1 S 2 VwGO
(Einstweiliger Rechtsschutz wegen möglichem
krankheitsbedingten Abschiebungshindernis)
Leitsatz
Aufgrund eines Abschiebungshindernisses wegen Erkrankung eines Asylantragstellers
kommt vorläufiger Rechtschutz im Wege der Anordnung der aufschiebenden Wirkung
der Klage gegen die vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
erlassene Abschiebungsandrohung nicht in Betracht.
Zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes erweist sich in diesem Fall ein im Wege
der einstweiligen Anordnung auf die vorläufige Feststellung des Vorliegens der
Voraussetzungen des § 53 Abs 6 S 1 AuslG gerichtetes Begehren als zulässig.
Gründe
Der zur Niederschrift der Urkundsbeamtin des Gerichts ausdrücklich gestellte
Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5
VwGO gegen den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge vom 04.10.2002 bleibt ohne Erfolg. Das dem Antrag der Antragsteller
im Wege der Auslegung weiterhin zu entnehmende Begehren, die Antragsgegnerin
im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, vorläufig
festzustellen, dass in der Person des Antragstellers zu 2) die Voraussetzungen des
§ 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG hinsichtlich Bulgarien vorliegen, ist hingegen zulässig und
begründet.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die in
dem Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
vom 04.10.2002 enthaltende Abschiebungsandrohung ist zulässig, §§ 80 Abs. 5,
80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i. V. m. §§ 75, 36, 34 Abs. 1 AsylVfG. Er ist jedoch nicht
begründet. Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der
angegriffenen Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung (§ 36 Abs. 4
Satz 1 AsylVfG). Denn zum gegenwärtigen Zeitpunkt - siehe zum maßgeblichen
Zeitpunkt für die Sach- und Rechtslage § 77 Abs. 1 AsylVfG - hat das Bundesamt
für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zutreffend die Asylanträge der
Antragsteller gem. § 29 a Abs. 1 AsylVfG als offensichtlich unbegründet abgelehnt
und ihnen nach den §§ 34 Abs. 1, 36 Abs. 1 AsylVfG unter Fristsetzung von einer
Woche die Abschiebung nach Bulgarien angedroht.
Die der Abschiebungsandrohung zugrunde liegende Ablehnung der Asylanträge
der Antragsteller als offensichtlich unbegründet ist nicht zu beanstanden. Aufgrund
der politischen Situation in Bulgarien sowie aufgrund der von den Antragstellern zu
1) und 2) gemachten Angaben besteht kein vernünftiger Zweifel daran, dass die
Antragsteller sich nicht auf das Grundrecht aus Artikel 16 a GG berufen können
und ebenso die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG offensichtlich und
Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 1 bis 4 AuslG nicht vorliegen. Hierzu wird
gem. § 77 Abs. 2 AsylVfG auf die zutreffenden Ausführungen in dem
angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge vom 04.10.2002 Bezug genommen.
Hervorzuheben ist lediglich, dass ein Abschiebungshindernis bezüglich des
Antragstellers zu 2) wegen dessen Erkrankung die Rechtmäßigkeit der
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Antragstellers zu 2) wegen dessen Erkrankung die Rechtmäßigkeit der
Abschiebungsandrohung nicht berührt, weil in § 41 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2
AsylVfG die Rechtsfolgen der Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach §
53 Abs. 6 Satz 1 AuslG ausdrücklich und abschließend geregelt sind. Deshalb ist
jedenfalls bei einer auf asylverfahrensrechtlicher Grundlage getroffenen
Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung für eine erweiternde Auslegung
des § 50 Abs. 3 Satz 2 AuslG keinen Raum. Sofern eine Feststellung des
Bundesamtes zum Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 6
AuslG getroffen wird, stellt dies gem. § 41 AsylVfG nur eine "zeitweilige
Vollziehbarkeitshemmung" dar, die die Abschiebungsandrohung in ihrem Bestand
unberührt lässt (vergleiche zudem ganzen BVerwG, Urteil vom 15.04.1997, NVwZ
1997, 1132).
Zur Gewährleistung effektivem Rechtschutzes gemäß Artikel 19 Abs. 4 GG (vgl.
dazu BVerfG, Beschluss vom 16.03.1999, NVwZ 1999, Beilage 6, Seite 49) im
Hinblick auf die ausdrücklich geltend gemachte unzureichende Behandelbarkeit
der Erkrankung des Antragstellers zu 2) in Bulgarien ist das Begehren der
anwaltlich nicht vertretenen Antragsteller aber gem. §§ 86 Abs. 3, 88 VwGO
dahingehend auszulegen, dass auch im Wege der einstweiligen Anordnung die
Verpflichtung der Antragsgegnerin begehrt wird, vorläufig festzustellen, dass in der
Person des Antragstellers zu 2) die Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG
hinsichtlich Bulgarien vorliegen. Mit diesem Inhalt ist das Begehren der
Antragsteller auf vorläufigen Rechtsschutz zulässig und begründet.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO, der hier allein in Betracht kommt, sind
einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf
ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei
dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder
drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Die
tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs und der Grund
für eine notwendige vorläufige Regelung sind glaubhaft zu machen (§§ 123 Abs. 3
VwGO, 920 Abs. 2 ZPO).
Der Antragsteller zu 2) hat einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Dieser
ergibt sich daraus, dass der Antragsteller mit der Ablehnung des Antrags auf
Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die
Abschiebungsandrohung in dem Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge vom 04.10.2002 vollziehbar ausreisepflichtig ist und
abgeschoben werden könnte.
Mit der Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen würde sein Anspruch
auf Aussetzung der Abschiebung für drei Monate gem. § 41 Abs. 1 AsylVfG und auf
anschließende Entscheidung der Ausländerbehörde über die Erteilung einer
Duldung gem. § 41 Abs. 2 AuslG vereitelt. Dies rechtfertigt es auch zur Gewährung
effektiven Rechtsschutzes gem. Artikel 19 Abs. 4 Satz 1 GG ausnahmsweise die
Hauptsache - im vorliegenden Fall ohnehin nur vorläufig - vorwegzunehmen (vgl.
dazu VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.12.2000, VBlBW 2001, 228).
Der Antragsteller zu 2) hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
Ihm steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Feststellung eines
Abschiebungshindernisses gem. § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG bezüglich Bulgarien zu.
Der Antrag ist zutreffend gegen die Bundesrepublik Deutschland als
Antragsgegnerin gerichtet (siehe Hailbronner, Ausländerrecht, § 53 AuslG Rdnr. 88
und § 41 AsylVfG Rdnr. 15). Denn die Ausländerbehörde ist bei der Entscheidung
über einen Duldungsantrag eines erfolglos gebliebenen Asylbewerbers, der wegen
einer Erkrankung in seinem Heimatstaat Gefahr für Leib und Leben befürchtet,
selbst dann an die Feststellung des Bundesamtes für die Anerkennung
ausländischer Flüchtlinge über das Nichtvorliegen von Abschiebungshindernissen
im Sinne des § 53 AuslG gebunden, wenn in dem behördlichen Asylverfahren eine
solche Gefahr mangels Vortrags nicht geprüft worden ist (siehe BVerwG, Urteil
vom 07.09.1999, NVwZ 2000, 204). Der Passivlegimitation der Antragsgegnerin
steht hier auch nicht die Unzulässigkeit einer vorläufigen Feststellung des
Tatbestandes des § 53 Abs. 6 AuslG entgegen (so aber Renner, Ausländerrecht, 7.
Auflage 1999, § 41 Rdnr. 6 und GK-AsylVfG, § 41 Rdnr. 36 ff.). Denn das Gesetz
geht in § 41 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG ausdrücklich von der Möglichkeit vorläufigen
Rechtsschutzes aus, wenn auch unzutreffend von einem Antrag nach § 80 Abs. 5
VwGO.
Die inhaltlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG liegen in der
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Die inhaltlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG liegen in der
Person des Antragstellers zu 2) bezüglich Bulgarien vor. Gemäß dieser
Bestimmung kann von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat
abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete
Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine solche Gefahr kann grundsätzlich
auch die drohende Verschlimmerung einer Krankheit wegen ihrer nur
unzureichenden medizinischen Behandlung im Zielstaat der Abschiebung
darstellen (siehe BVerwG, Urteil vom 25.11.1997, NVwZ 1998, 524 und
27.04.1998, NVwZ 1998, 973). Im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG erheblich
wäre die Gefahr, wenn sich der Gesundheitszustand des Ausländers in dem
Zielstaat der Abschiebung wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern
würde und konkret, wenn der Ausländer alsbald nach der Rückkehr in den Staat in
diese Lage käme, weil er auf die dortigen unzureichenden Möglichkeiten zur
Behandlung seines Leidens angewiesen wäre und auch anders wirksame Hilfe nicht
in Anspruch nehmen könnte (siehe BVerwG, Urteil vom 25.11.1997, a.a.O.).
Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben. Ausweislich des ärztlichen
Schreibens des Klinikums der ...-Universität ... - Zentrum für Innere Medizin,
Medizinische Klinik II - befand sich der Antragsteller zu 2) dort im September 2002
in stationärer Behandlung aufgrund einer Akutproblematik. Es wurde bei sehr
komplizierter Vorgeschichte sowie akuter abdomineller Symptomatik eine
ausführliche Diagnostik durchgeführt, an die sich eine therapeutische Intervention
anschloss. Diese ist zur Zeit noch nicht abgeschlossen. Es ist eine weitere
ambulante Verlaufskontrolle sowie weiterführende therapeutische Interventionen
mit Katheterwechsel erforderlich. Bei günstigem Verlauf beträgt die zu erwartende
Behandlungsdauer zwei bis drei Monate, falls eine chirurgische Intervention nicht
notwendig werden sollte.
Wenn auch in der genannten ärztlichen Bescheinigung die Unterleibserkrankung
des Antragstellers zu 2) nicht konkret benannt ist und nach dem Inhalt des
Lageberichts des Auswärtigen Amtes zu Bulgarien vom 30.11.2001 die großen
Krankenhäuser in Bulgarien in der Lage sind, überlebensnotwendige
Heilmaßnahmen durchzuführen und die medizinische Ausbildung der Ärzte
generell dort gut ist, ist gleichwohl eine wesentliche Verschlechterung des
Gesundheitszustandes des Antragstellers im Falle einer Rückkehr nach Bulgarien
zu besorgen. Denn ausweislich des Inhalts der Bescheinigung des Klinikums der ...-
Universität ... vom 16.10.2002 sind in der Heimat des Antragstellers chirurgische
Eingriffe durchgeführt worden, die das Problem nicht beheben konnten, sondern
den Antragsteller vielmehr in eine sehr kritische Situation manövriert haben.
Die Kosten des Verfahrens werden gem. § 155 Abs. 1 VwGO gegeneinander
aufgehoben, mit der Folge das jeder der Beteiligten seine außergerichtlichen
Kosten selbst zu tragen hat. Gerichtskosten werden gem. § 83 b AsylVfG nicht
erhoben.
Der Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylVfG.
Hinweis: Die Entscheidung wurde von den Dokumentationsstellen der hessischen Gerichte
ausgewählt und dokumentiert. Darüber hinaus ist eine ergänzende Dokumentation durch
die obersten Bundesgerichte erfolgt.