Urteil des VG Gelsenkirchen vom 27.10.2006

VG Gelsenkirchen: grobe fahrlässigkeit, auskunft, rücknahme, hausfrau, sorgfalt, haushalt, einkünfte, nebentätigkeit, mitteilungspflicht, rechtsgrundlage

Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 11 K 1577/06
Datum:
27.10.2006
Gericht:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen
Spruchkörper:
11. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
11 K 1577/06
Schlagworte:
Grobe Fahrlässigkeit, Rücknahme
Normen:
SGB X §§ 45, 50, ZPO § 114, VwGO § 166
Tenor:
Dem Kläger wird mit Wirkung vom 24. Mai 2006 für das Verfahren erster
Instanz mit dem sinngemäßen Begehren,
den Bescheid der Beklagten vom 14. November 2005 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Arnsberg vom April 2006
hinsichtlich des Bewilligungs-zeitraums vom 1. Februar 1999 bis zum
31. Oktober 1999 aufzuheben,
ratenfreie Prozesskostenhilfe bewilligt und der zur Vertretung bereite
Rechtsanwalt T. aus C. beigeordnet.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Gründe:
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Der Antrag des Klägers,
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ihm zur Durchführung des Klageverfahrens 1. Instanz mit dem Antrag,
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den Bescheid des Beklagten vom 14. November 2005 in Gestalt des
Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung vom April 2006 aufzuheben,
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Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtanwalt T. aus C. zu bewilligen,
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ist nur in dem aus dem Beschlussausspruch ersichtlichen Umfange begründet.
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Die teilweise Bewilligung der Prozesskostenhilfe beruht auf § 166 der Verwaltungs-
gerichtsordnung (VwGO) in Verbindung mit § 114, § 115 der Zivilprozessordnung (ZPO).
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Der Kläger erfüllt ausweislich der vorgelegten Erklärung über die persönlichen und
wirtschaftlichen Verhältnisse die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Gewährung
von Prozesskostenhilfe.
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Im übrigen ist der Antrag gemäß § 166 VwGO in Verbindung mit § 114 ZPO abzulehnen.
Denn die beabsichtigte weitergehende Rechtsverfolgung bietet unter Berücksichtigung
des vom Bundesverfassungsgericht
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vgl. Beschluss vom 26. Juni 2003 - 1 BvR 1152/02 -, Neue Juristische Wochenschrift -
NJW - 2003, 3190; Beschluss vom 07. April 2000 - 1 BvR 81/00 -, NJW 2000,
1936/1937, Beschluss vom 13. März 1990 - 2 BvR 94/88 -, NJW 1991, 413
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entwickelten Prüfungsmaßstabes keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.
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Die als Anfechtungsklage gemäß § 42 VwGO statthafte Klage wird nach dem
gegenwärtigen Sach- und Streitstand hinsichtlich der verbleibenden Bewilligungs-
zeiträume voraussichtlich als unbegründet abzuweisen sein. Denn der Rücknahme- und
Erstattungsbescheid der Beklagten vom 14. November 2005 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung vom April 2006 ist insoweit rechtmäßig
(vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand liegen nämlich die Voraussetzun-gen
der Ermächtigungsgrundlage des § 45 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 des
Sozialgesetzbuches Zehntes Buch (SGB X) für die Rücknahme der teilweise rechts-
widrigen Bewilligungsbescheide vor.
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Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass die ursprünglichen Bewilligungsbe-
scheide für die Zeiträume vom 1. November 1999 bis zum 31.Dezember 2004 insoweit
rechtwidrig sind, als die von der Ehefrau des Klägers in diesem Zeitraum erzielten
Einnahmen bei der Berechnung des Wohngeldanspruchs unberücksichtigt geblieben
sind.
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Entgegen der Auffassung des Klägers beruhen diese rechtswidrigen Bewilligungen
auch auf Angaben, die der Kläger zumindest grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung
unrichtig oder unvollständig gemacht hat. Unvollständig sind die Angaben dann, wenn
den betroffenen Antragsteller eine Mitwirkungspflicht trifft, bestimmte Tatsachen zu
offenbaren. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr.1 SGB I hat ein Leistungsbe-rechtigter alle
Tatsachen anzugeben, die für die beantragte Leistung erheblich sind. Dabei richtet sich
die Erheblichkeit der Angaben nach dem materiellen Leistungs-recht
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Vgl. Wahrendorf, in: Giese, Sozialgesetzbuch (Kommentar), 33. Lfrg. April 2006, § 45
SGB X Rdnr.12.3.
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Nach den §§ 9 und 10 des Wohngeldgesetzes (WoGG) in den für die einzelnen
Bewilligungszeiträume jeweils gültigen Fassungen ist ein maßgebliches Kriterium für
die Berechnung des Wohngeldes das Gesamteinkommen. Hierbei handelt es sich um
die Summe der Jahreseinkommen der zum Haushalt rechnenden Familienmit- glieder.
Daraus folgt, daß das Einkommen der zum Haushalt des Klägers rechnen- den Ehefrau
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als in wesentlicher Beziehung für die Berechnung des Wohngeldes erheblich gewesen
ist. Da der Kläger in keinem der hier in Betracht kommenden Wohngeldanträge auf eine
Erwerbstätigkeit seiner Ehefrau hingewiesen, sondern in der Rubrik „z.Z. ausgeübter
Beruf" stets „Hausfrau" eingetragen und keine Angaben zu deren Einkommen gemacht
hat, waren diese Angaben auch unvollständig und unrichtig im Sinne des § 45 Abs. 2
SGB X.
Entgegen dem Vortrag des Klägers handelte er hierbei zumindest auch grob fahr-lässig.
Nach der Legaldefinition des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 2. Halbsatz SGB X liegt grobe
Fahrlässigkeit vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders
schwerem Maße verletzt hat. Damit ist dieses Merkmal dann erfüllt, wenn der
Antragsteller aufgrund einfachster und naheliegendster Überlegungen hätte erkennen
können und auch müssen, dass die von ihm gemachten Angaben unrichtig oder
unvollständig waren. Abzustellen ist insoweit auf die der jeweiligen Sachlage
angemessene Sorgfalt, die nach allgemeiner Lebenserfahrung unter den beson- deren
Umständen des Einzelfalles und von der Person des Begünstigten erwartet werden
durfte.
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Vgl. Wahrendorf in: Giese, a.a.O., § 45 Rdnr. 12.3 am Ende; Bundessozialgericht, Urteil
vom 6. März 1997 - 7 RAr 40/96 - Juris - .
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Die Anforderungen an die an den Begünstigten zu stellenden Sorgfaltspflichten werden
maßgeblich auch durch Antragsformulare oder Merkblätter bestimmt, in denen der
Antragsteller auf die Bedeutsamkeit seiner Angaben hingewiesen worden ist. Die hier
maßgeblichen Antragsvordrucke sehen unter der Rubrik „Einnahmen" jeweils
beispielhaft vor, welche Leistungen hierzu zählen. So wurde der Kläger u.a. in dem
Antrag vom 14. Dezember 1995 unter Nr. 16 darüber belehrt, dass zu den anzuge-
benden Einnahmen „alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert" zählen, „ohne Rück-sicht
auf ihre Quelle und ohne Rücksicht darauf, ob sie steuerpflichtig sind oder nicht. Auch
einmalige Einnahmen sind anzugeben." Unter Nr. 28 des Vordrucks hat der Kläger
unterschriftlich versichert, dass die angegebenen Familienmitglieder „keine weiteren
Einnahmen als die angegebenen haben, auch nicht aus gelegentlicher Nebentätigkeit."
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Damit war bereits aus dem Antragsformular mit ausreichender Deutlichkeit für den
Kläger zu erkennen, dass zu den mitzuteilenden Einnahmen auch der seiner Frau
gezahlte Lohn zu zählen war. Die jeweilige Angabe „Hausfrau" ohne eigene Einkünfte
war daher, wenn nicht sogar vorsätzlich, jedenfalls grob fahrlässig unrichtig gemacht
worden.
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Die unrichtigen bzw. unvollständigen Angaben waren auch kausal für die rechtswidrige
Bewilligung von Wohngeld. Dabei spielt es keine Rolle, ob dem Kläger - wie von ihm
behauptet - die genaue Höhe des Lohns seiner Ehefrau in der Vergangenheit verborgen
geblieben sein sollte. Die insoweit angesichts der Art und des Umfangs der Tätigkeit
bestehenden Zweifel können hier dahinstehen; denn die Wohngeldstelle hätte bei
einem vom Kläger zu erwartenden Hinweis auf diese Tätigkeit auch ohne Angabe der
Lohnhöhe eigenständig Auskünfte bei dem Arbeit- geber der Ehefrau einholen können.
Nach § 25 Abs. 2 WoGG sind nämlich auch die Arbeitgeber des Ehegatten des
Antragsberechtigten verpflichtet, der zuständigen Stelle „über Art und Dauer des
Arbeitsverhältnisses sowie über Arbeitsstätte und Arbeitsverdienst Auskunft zu geben",
wie dies im übrigen im Jahre 2005 auch geschehen ist.
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Die gegen den Vorwurf der groben Fahrlässigkeit gerichtete Einlassung des Klägers
führt ebenso wie die vorgelegte schriftliche Erklärung der Ehefrau des Klägers vom 19.
Dezember 2005 zu keiner für ihn günstigeren Beurteilung. Dabei fällt auch ins Gewicht,
dass der Vortrag wechselnd und teilweise widersprüchlich ist. So hat der Kläger
zunächst im Schriftsatz vom 23. Dezember 2005 vortragen lassen, er habe erst am 29.
August 2005 davon erfahren, daß seine Ehefrau seit dem 1. Januar 1999 einer
geringfügig entlohnten Tätigkeit nachgehe. Diese Behauptung hat er dann dahingehend
relativiert, daß ihm die genaue Höhe des Lohns für die Tätigkeit nicht bekannt gewesen
sei. Vielmehr habe seine Frau ihm im Jahre 1999 gesagt, sie arbeite gelegentlich und
verdiene höchstens 60,00 DM im Monat. Diesen Betrag hat der Kläger dann - in
Übereinstimmung mit der schriftlichen Erklärung seiner Ehefrau - mit Schriftsatz vom 24.
Juli 2006 auf „allenfalls ca. 40,00 DM bis 50,00 DM" reduziert, ohne für den
abweichenden Vortrag nachvollziehbare Gründe anzugeben. Nach seiner von ihm
unterzeichneten Erklärung beim Beklagten am 11. August 2005 habe er sich bei einer
Beschäftigten des Arbeitsamtes nach Aufnahme der Tätigkeit erkundigt und die
Auskunft erhalten, Einnahmen aus diesen geringfügigen Beschäf-tigungen würden bei
der Berechnung der Leistungen des Arbeitsamtes nicht ange-rechnet. Dies gelte auch
für alle anderen Sozialleistungen. Von einer Rückfrage bei dem Beklagten war hiernach
nicht die Rede. Erst auf gerichtlichen Hinweis trug der Kläger vor, dass er nach Erhalt
des Wohngeldbescheides im Frühjahr 1999 bei einer Mitarbeiterin des Beklagten
vorgesprochen und sich nach den Auswirkungen der Arbeitsaufnahme seiner Ehefrau
auf den Wohngeldanspruch erkundigt habe.
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Danach bleibt festzuhalten, daß dem Kläger bereits im Jahre 1999 die Berufstätigkeit
seiner Ehefrau bekannt gewesen ist und Gründe dafür, diese - aus seiner Sicht
gelegentliche - (Neben-)Tätigkeit in den Wohngeldanträgen entgegen den ausdrück-
lichen Belehrungen hierzu nicht anzugeben, nicht erkennbar sind. Für den Kläger war
im Hinblick auf die im Wohngeldantrag enthaltenen Hinweise auch ohne weiteres
erkennbar, daß die Mitarbeiterin des Arbeitsamtes keine verbindliche Auskunft über
andere Sozialleistungen geben konnte. Der Kläger hat auch selbst nicht behauptet,
diese Mitarbeiterin nach den Hinweisen im Wohngeldantrag befragt zu haben. Ebenso
wenig vermag den Kläger die von ihm vorgetragene Vorsprache beim Wohngeldamt im
Frühjahr 1999 zu entlasten. Hierbei ging es nämlich erkenn- bar nicht um die Frage, ob
der Kläger in den nachfolgenden Wohngeldanträgen die Berufstätigkeit seiner Frau
nicht anzugeben brauche, sondern allein um die im Wohngeldbescheid vom 15. Februar
1999 statuierte Mitteilungspflicht bei einer Erhöhung des Familieneinkommens im
laufenden Bewilligungszeitraum. Der Kläger hat selbst nicht behauptet, bei den
nachfolgenden Anträgen die Frage der Berück- sichtigung von Einkünften seiner
Ehefrau mit der Sachbearbeiterin erörtert zu haben.
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Anhaltspunkte dafür, daß die getroffene Ermessensentscheidung den Anforde- rungen
des § 114 VwGO nicht genügen könnte, sind nicht ersichtlich. Es liegt auf der Hand, daß
die vorgetragenen familiären Spannungen und behaupteten Kommuni-
kationsstörungen zwischen den Ehegatten keine Umstände darstellen, die in die
Interessenabwägung des § 45 SGB X zu Lasten der Allgemeinheit einzustellen sind.
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Der Rückforderungsbescheid findet seine Rechtsgrundlage in § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB
X.
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