Urteil des VG Gelsenkirchen vom 02.03.2006

VG Gelsenkirchen: geistige behinderung, überwiegendes öffentliches interesse, schule, vollziehung, vorläufiger rechtsschutz, aufschiebende wirkung, schüler, wechsel, datum, aufschub

Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 4 L 171/06
Datum:
02.03.2006
Gericht:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen
Spruchkörper:
4. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
4 L 171/06
Schlagworte:
Förderschule; Förderort; Wechsel; Wechsel des Förderorts;
Lernbehinderung; geistige Behinderung; sofortige Vollziehung;
Begründung; Förderbedarf
Normen:
§ 80 Abs. 3 VwGO; § 80 Abs. 5 VwGO, §§ 19 ff SchulG, § 15 Abs. 3 AO-
SF, § 13 AO-SF, § 6 AO-SF, § 39 NwVfG NRW, § 2 Abs. 3 VwVfG NRW
Leitsätze:
Zu den formalen und materiellen Voraussetzungen für die sofortige
Vollziehung eines Wechsels von der Schule für Lernbehinderte zur
Schule für Geistigbehinderte
Tenor:
1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid
des Antragsgegners vom 30. Januar 2006 wird wiederhergestellt. Der
Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
2. Der Streitwert wird auf 2.500 Euro festgesetzt.
3. Die Beschlußformel zu 1. soll den Beteiligten telefonisch vorab
bekannt gegeben werden.
G r ü n d e :
1
A. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung im Bescheid vom 30. Januar 2006 ist
fehlerhaft und wäre - unabhängig vom weitergehenden Ausspruch in der
Beschlußformel zu 1. - schon deshalb aufzuheben, weil die für die Anordnung
gegebene Begründung nicht den Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO entspricht.
2
Grundsätzlich soll die Begründungspflicht der Behörde den Ausnahmecharakter der
Vollziehungsanordnung vor Augen führen und sie veranlassen, mit Sorgfalt zu prüfen,
ob tatsächlich ein überwiegendes öffentliches Interesse für die Anordnung der sofortigen
Vollziehung besteht.
3
vgl. Finkelnburg-Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Aufl.,
1998, Rd. 753
4
Grundsätzlich erfordert das eine auf den Einzelfall bezogene Begründung, die überdies
Umstände anführen muß, die über die Gründe für den Erlaß des Verwaltungsakts
hinausgehen.
5
ebenda, Rn. 755
6
Demgemäß genügen formelhafte, allgemeine und nichtssagende Wendungen als
Begründung nicht.
7
ebenda, Rn. 756
8
Allerdings können sich in bestimmten Fällen - namentlich bei Maßnahmen der
Gefahrenabwehr - die Gründe für den Erlaß des Verwaltungsakts mit denen für die
Anordnung der sofortigen Vollziehung decken. In diesen Fällen kann die Behörde die
Begründung für den Verwaltungsakt auch als Begründung für die sofortige Vollziehung
heranziehen, wobei sie aber deutlich machen muß, daß sich aus den Gründen für den
Erlaß des Verwaltungsakts auch im konkreten Fall das Vollziehungsinteresse ergibt.
9
ebenda, Rn. 757
10
Der Antragsgegner hat im Bescheid vom 30. Januar 2006 für die
Vollziehungsanordnung eine Begründung angeführt, die ausschließlich aus
allgemeingehaltenen Formulierungen besteht, die rechtliche Überlegungen aus dem
Beschluß des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW)
vom 27. August 2004 - 19 B 1516/04 - aufgreift und - teilweise zusammenfassend -
wiedergibt. Sie ist als solche nahezu nichtssagend und hat vor allem nicht einmal
andeutungsweise einen Bezug zum konkret zu regelnden Fall. Das OVG NRW hatte in
dem erwähnten Beschluß darauf hingewiesen, daß die Schulaufsichtsbehörde
regelmäßig von einem besonderen öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung
ausgehen muß, wenn sie für einen Schüler einen konkreten sonderpädagogischen
Förderbedarf festgestellt hat. Das OVG NRW ordnet Fälle von
Sonderschuleinweisungen mithin wie die o. a. bestimmten Fälle ein, bei denen sich das
öffentliche Vollziehungsinteresse schon aus den Gründen für den Verwaltungsakt ergibt.
Der Antragsgegner hätte - hiervon ausgehend - zum einen (wenn auch kurz)
einzelfallbezogen darlegen müssen, daß auch mit Blick auf den Antragssteller ein
Regelfall vorliegt und daß sich aus den Regelgründen auch für den konkreten Fall das
Vollziehungsinteresse ergibt.
11
Hieran fehlt es. Soweit etwa in der Vollziehungsanordnung angeführt wird, selbst ein
zeitlich vorübergehender Verbleib an der bisherigen Schule würde Lernmotivation,
Selbstwertgefühl und Sozialverhalten (des Schülers) tiefgreifend und langdauernd
beeinträchtigen, wird - leicht verändert - eine Formulierung aus dem o. a. Beschluß
(Amtlicher Beschlußumdruck, S. 3, letzte zwei Zeilen, S. 4 erste beiden Zeilen)
wiedergegeben; es wird nicht einmal behauptet, daß das auch im Falle des
Antragstellers der Fall wäre; die Verwaltungsvorgänge geben im übrigen keine
erkennbaren Hinweise darauf, daß diese Umstände für den Antragsteller konkret
zutreffen könnten.
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Der Antragsgegner hätte bei Beachtung des o. a. Beschlusses im übrigen in
besonderem Maße Anlaß sehen müssen, die Notwendigkeit der sofortigen Vollziehung
einzelfallbezogen zu prüfen. Das OVG NRW hatte in dem o. a. Beschluß - allerdings zu
13
einer anderen als der hier vorliegenden Fallkonstellation - darauf hingewiesen, daß bei
Schülern im Grenzbereich zwischen geistiger Behinderung und Lernbehinderung
sowohl die Schule für Lernbehinderte als auch die Schule für geistig Behinderte
Förderorte sind, an denen die Schüler - zumindest vorübergehend und bis zu
abschließender Klärung eines noch nicht sicheren Förderbedarfs - prinzipiell
angemessen gebildet und erzogen werden können (vgl. S. 5 des Amtlichen
Beschlußumdrucks mit Hinweis auf die jeweiligen Richtlinien und Lehrpläne). Das
schließt nicht aus, daß ein Wechsel des Förderorts von der Schule mit dem
Förderschwerpunkt Lernen und emotionale und soziale Entwicklung zur Schule mit dem
Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung, wie er hier in Rede steht, im Einzelfall sofort
vollziehungsbedürftig im Sinne der Rechtsprechung des OVG NRW sein kann. Das
bedarf aber angesichts der Fördermöglichkeiten für den Schüler auch an der bisherigen
Schule erst recht der konkreten Begründung nach § 80 Abs. 3 VwGO.
B. Der - weitergehende - Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ist in der Sache
begründet.
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In materieller Hinsicht hat das Gericht eine Abwägung zwischen dem öffentlichen
Interesse an der sofortigen Durchsetzung des Bescheides und dem Interesse des
Antragstellers am Aufschub der Vollziehung vorzunehmen. Im Rahmen dieser
Abwägung ist von Bedeutung, ob der Bescheid bei der in diesem Verfahren allein
möglichen summarischen rechtlichen und tatsächlichen Überprüfung als rechtmäßig
angesehen werden kann oder nicht. Jedenfalls an der Durchsetzung eines offensichtlich
rechtswidrigen Bescheides kann kein öffentliches Interesse bestehen; erscheint
dagegen der Bescheid als offensichtlich rechtmäßig, kommt dem Interesse des
Antragstellers am Aufschub der Vollziehung nur geringes Gewicht zu (vgl. hierzu 1.).
Läßt sich (noch) nicht verläßlich abschätzen, wie die Rechtslage hinsichtlich des
Bescheides zu beurteilen ist, muß das Gericht eine von der Rechtslage unabhängige
Abwägung der Vollzugsfolgen anstellen, kann dabei aber auch die wahrscheinlichen
Erfolgsaussichten des vom Antragssteller eingelegten Widerspruchs mit einstellen (vgl.
hierzu 2.).
15
1. Der Bescheid vom 31. Januar 2006 unterliegt schon in formaler Hinsicht rechtlichen
Bedenken, weil er keine den Anforderungen des § 39 Abs. 1 VwVfG NRW genügende
Begründung enthalten dürfte; ob eine Begründungspflicht gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 3
VwVfG NRW entfällt, erscheint fraglich. Zwar beruht die hier zu überprüfende
Entscheidung des Antragsgegners auch auf einer Beurteilung des Leistungsvermögens
des Antragstellers, sie stellt selbst jedoch keine Leistungsbeurteilung dar, sondern
regelt (materiell) die Frage, an welcher Schule der Antragsteller seine Schulpflicht
erfüllt. Überdies handelt es sich (formell) nicht um eine Entscheidung der Schule,
sondern der Schulaufsichtsbehörde.
16
vgl. zu diesem Fragenkreis etwa OVG NRW, Beschluß vom 11. Juli 2003 - 19 B 1160/03
-
17
Eine Heilung eines Begründungsmangels gemäß § 45 Abs. 1 und 2 VwVfG NRW ist
jedenfalls bislang nicht eingetreten; die Antragserwiderung verhält sich nicht zur Frage,
ob beim Antragsteller die Voraussetzungen für einen Förderbedarf wegen einer
geistigen Behinderung vorliegen, sondern stellt auf die Voraussetzungen für eine
Lernbehinderung ab.
18
Das alles kann dahinstehen, weil der Bescheid auch materiellen Bedenken unterliegt,
die im wesentlichen darauf beruhen, dass der Sachverhalt in mehrerer Hinsicht
ungeklärt zu sein scheint.
19
Ermächtigungsgrundlagen für den Bescheid vom 31. Januar 2006 sind §§ 19 ff SchulG i.
V. m. §§ 15 Abs. 3, 13, 6 AO-SF. Bei einem Wechsel des Förderorts, wie er hier in Rede
steht, der zugleich auf einer veränderten Einschätzung des Förderbedarfs beruht, hat die
Schulaufsichtsbehörde nach diesen Vorschriften über den sonderpädagogischen
Förderbedarf, über den Förderschwerpunkt oder die Förderschwerpunkte und über den
Förderort zu entscheiden.
20
(1) Ob der Bescheid vom 31. Januar 2006 den Förderschwerpunkt oder die
Förderschwerpunkte regelt, erscheint fraglich. Ausdrücklich ist das nicht geschehen; ob
sinngemäß mittelbar der Förderschwerpunkt „geistige Behinderung" festgelegt werden
sollte, ist zweifelhaft. Zum einen enthält der Bescheid die Angaben, die erforderlichen
Förderschwerpunkte seien mit den Eltern erörtert worden, was auf einen mehrfachen
Förderbedarf hinweist; zudem enthält der Antrag auf Feststellung der
Schwerstbehinderung (ohne Datum, wohl etwa Mitte 2005, Beiakte Heft II Bl. 12 - II 12)
Hinweise auf eine anhaltende Erziehungsschwierigkeit, so daß auch von der Sache her
eine deutliche Regelung zu den Förderschwerpunkten hätte erwartet werden können.
21
(2) Die Entscheidung zum Förderbedarf läßt sich anhand der Verwaltungsvorgänge nur
teilweise nachvollziehen. Nach summarischer Einschätzung spricht einiges dafür, daß
bei dem Antragsteller Förderbedarf wegen einer geistigen Behinderung vorliegt. Eine
verläßliche Würdigung der vom Antragsgegner getroffenen Beurteilung wird sich
allerdings erst nach ergänzenden Feststellungen und Darlegungen des Antragsgegners
vornehmen lassen.
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Nach § 6 AO-SF liegt geistige Behinderung vor (a) bei hochgradigen
Beeinträchtigungen im Bereich der kognitiven Funktionen und in der Entwicklung der
Gesamtpersönlichkeit und wenn (b) hinreichende Anhaltspunkte dafür sprechen, daß
der Schüler zur selbständigen Lebensführung voraussichtlich auch nach dem Ende der
Schulzeit auf Dauer Hilfe benötigt.
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(a) Die Verwaltungsvorgänge enthalten Anhaltspunkte dafür, daß beim Antragsteller
hochgradige Beeinträchtigungen im Bereich der kognitiven Funktionen und in der
Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit vorliegen. Hierzu ist vor allem das Ergebnis des
Intelligenztests SON-R 2 ½ - 7 vom 25. Mai 2005 anzuführen (I 19 ff), wonach der
Antragsteller einen Gesamt-IQ von 56 (55-67) aufweist und damit in einem Bereich sehr
niedriger Intelligenz liegt (Prozentrang bei 1 und geringer). Aufschlußreich sind dabei
auch die bei den einzelnen Subtests ereichten Werte bzw. die zugehörigen
Referenzalter. So entsprach das Ergebnis für den Subtest Zeichenmuster (bester
erreichter Wert) einem Referenzalter von 5 Jahren und 7 Monaten (5;7) und für den
Subtest Kategorien einem Referenzalter von 3;8, während der Antragsteller damals
tatsächlich 7;11 alt war. Das legt einen Entwicklungsrückstand im Bereich von 2;4 bis
4;3 nahe, was angesichts des tatsächlichen Alters beträchtlich ist. Ein gewichtiger
Entwicklungsrückstand wird auch schon im Arztbrief des Dr. Meyer-Dietrich vom 13. Mai
2004 (I 58) angesprochen (Entwicklungsrückstand um mindestens die Hälfte des
Lebensalters).
24
Weitere Anhaltspunkte enthält der Bericht der Schule vom 19. Dezember 2005 über den
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derzeitigen Entwicklungsstand des Antragstellers . Er verdeutlicht, daß der Antragsteller
einen beträchtlichen Förderbedarf aufweist. Nicht gut deutlich wird (für den
Außenstehenden), ob bzw. daß dieser Förderbedarf nicht an der Schule mit dem
Förderschwerpunkt Lernen abgedeckt werden kann. Die zusammenfassende
Beurteilung, die insoweit zur Festlegung des Förderbedarfs in sich eher zurückhaltend
formuliert ist, wird aus den voranstehenden Ausführungen wenig gestützt, weil zwar
beschrieben wird, was der Antragsteller „kann" bzw. „nicht kann", jedoch nicht ohne
weiteres erkennbar ist, inwiefern der Förderbedarf das, was die Schule mit dem
Förderschwerpunkt Lernen für nach dort anzulegenden Maßstäben schwachen
Schülern leisten kann bzw. nicht leisten kann; das wird auch im Bescheid selbst nicht
begründend angeführt.
Dem steht gegenüber, daß der Antragsteller mit Hilfe der bisher besuchten Schule nach
dem Bericht vom 19. Dezember 2005 Fortschritte - vor allem im Bereich Sprechen und
Verstehen der deutschen Sprache - gemacht hat. Insgesamt liegen die Fortschritte auf
einem niedrigen Niveau, jedoch läßt sich (für den Außenstehenden) nicht erkennen,
daß bzw. weshalb der Antragsteller an der derzeit besuchten Schule „fehl am Platz" ist.
Insofern scheint der Bericht vom 19. Dezember 2005 eine etwas veränderte
Einschätzung zu treffen als das Zeugnis vom 11. Juli 2005 (II 9), das (am Ende) daran
zu zweifeln scheint, ob der Antragsteller an der Schule mit dem Förderschwerpunkt
Lernen überhaupt Lernfortschritte machen wird. In der Stellungnahme der
Sonderschullehrerin Schäfer vom 3. Juni 2005 wird zwar angegeben, es gebe Hinweise
für intellektuelle und sozial-kommunikative Beeinträchtigungen bei dem Antragsteller,
die an der derzeitigen Schule nicht ausreichend aufgefangen werden könnten,
allerdings wird diese zusammenfassende Wertung nicht konkret belegt oder erklärt und
überdies beruht sie nicht auf eigenen Wahrnehmungen oder Beobachtungen der
Sonderschullehrerin, sondern gibt wiederum (nicht erläuterte) Wertungen der
unterrichtenden Lehrerinnen wieder. Als Beurteilungsbasis ist das - ohne zusätzliche
Erklärungen - wenig tragfähig. Soweit früher das Sozialverhalten des Antragstellers
Anhaltspunkte für eine Überforderungssituation gegeben haben soll, ist zu vermerken,
daß nach dem Bericht vom 19. Dezember 2005 auch eine Verbesserung dieses
Verhaltens eingetreten ist. Während (so das Zeugnis vom 11. Juli 2005) in den Pausen
auf dem Hof eine intensive Beaufsichtigung des Antragstellers erforderlich gewesen zu
sein scheint, scheint das nunmehr nur noch in geringerem Maße nötig zu sein (vgl. II 6).
Im - zeitlich noch weiter zurückliegenden - Bericht der Klassenlehrerin vom 14. April
2005 wird hierzu sinngemäß angeführt, daß das Verhalten des Antragstellers das
Lernen der anderen Schüler störe (sehr erschwere). Dieser Umstand wird im neuesten
Bericht der selben Lehrerin vom 19. Dezember 2005 nur noch weniger deutlich
angesprochen. Auch der Antragsgegner hat diesen Umstand im Bescheid vom 31.
Januar 2006 weder mit Blick auf einen zusätzlichen Förderschwerpunkt noch mit Blick
auf die Notwendigkeit einer sofortigen Vollziehung herangezogen. Ob und wie
gewichtig er für die Beschulung des Antragstellers ist, kann das Gericht von sich aus
nicht einschätzen.
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Nur zur Klarstellung wird - wie schon eingangs - darauf hingewiesen, daß mit der
vorstehenden Einschätzung nicht etwa ausgesagt werden soll, bei dem Antragsteller
liege keine geistige Behinderung vor; das Gericht kann derzeit lediglich die Beurteilung
des Antragsgegners ohne weitere Feststellungen und Darlegungen nicht verläßlich
nachvollziehen. Insoweit kann die rechtliche Feststellung, der Bescheid vom 31. Januar
2006 sei insoweit offensichtlich rechtmäßig, derzeit nicht getroffen werden.
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(b) Anhaltspunkte dafür, ob der Antragsteller voraussichtlich zur selbständigen
Lebensführung auf Dauer Hilfe benötigen wird, lassen sich den Verwaltungsvorgängen
nicht entnehmen. Der Bericht vom 19. Dezember 2005 geht hiervon (am Ende) zwar
aus, ohne daß sich aber dem Bericht diesbezüglich tatsächliche Feststellungen
entnehmen lassen. Im Schreiben vom 18. Juni 2005 (I 11) geht die Klassenlehrerin
davon aus, daß „die Frage nach der lebenslang notwendigen Hilfe zur selbständigen
Lebensführung ... schon heute eindeutig mit ja beantwortet" werden könne, allerdings
läßt sich auch hier nicht erkennen, worauf sich diese Wertung stützt. Dem o.a.
Intelligenztest und dem o. a. ärztlichen Bericht kann zwar entnommen werden, daß der
Antragsteller einen deutlichen Entwicklungsrückstand aufweist. Ob und wie sich dieser
Rückstand über die Zeit der Beschulung, d. h. der Förderung an der Schule mit dem
Förderschwerpunkt Lernen, zum Positiven oder Negativen verändert hat und - vor allem
- ob und ggf. wieweit der jetzige Entwicklungsrückstand Anhaltspunkte i. S. d. § 6 AO-
SF hergibt, läßt sich den Verwaltungsvorgängen nicht entnehmen.
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Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß wegen der beim Antragsteller ermittelten
Entwicklungsrückstände Indizien für Anhaltspunkte i. S. d. § 6 AO-SF vorliegen, daß
diese Indizien aber ohne konkrete Aussagen zum Verhalten des Schülers und seiner zu
erwartenden Entwicklung ohne zusätzliche Klärungen nicht aussagekräftig genug sind,
um derzeit die offensichtliche Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 31. Januar 2006
bejahen zu können.
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(3) Kann gerichtlicherseits die Regelung zum Förderbedarf nicht abschließend beurteilt
werden, kann für die Regelung zum Förderort nichts anderes gelten.
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2. Die einzelfallbezogene Abwägung der widerstreitenden Interessen fällt zu Ungunsten
der Antragsgegnerin aus.
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Für eine sofortige Vollziehung spricht nach Aktenlage - da der Antragsgegner im
Bescheid hierzu konkret einzelfallbezogene Umstände selbst nicht angeführt hat - vor
allem, daß der Antragsteller einen möglichst auf seinen Förderbedarf zugeschnittenen
Unterricht erhalten sollte. Hinweise für die Notwendigkeit einer Förderung gerade
wegen eines Förderbedarfs „geistige Behinderung" geben vor allem der geringe IQ und
der derzeit wohl vorhandene Entwicklungsrückstand. Allerdings ist zu beachten, daß für
das Gericht wenig gesichert erscheint, wie verläßlich aus diesen beiden Umständen
schon auf das Vorliegen einer „geistigen Behinderung" - und nicht nur einer
Lernbehinderung schwerer Art - geschlossen werden kann. Dabei ist mit zu beachten,
daß der Antragsteller zweifellos zumindest lernbehindert ist und erst 2003 ohne
Deutschkenntnisse nach Deutschland gekommen ist. Vor diesem Hintergrund fällt für
die Abwägung ins Gewicht, daß der Antragsteller nach den Angaben der ihn
unterrichtenden Lehrkräfte wenn auch nicht in allen, so doch in mehreren Bereichen des
Lernens „wirkliche" bzw. „spürbare" Fortschritte durch die Förderung an der bisher
besuchten Schule gemacht hat (vgl. Bericht vom 19. Dezember 2005). Nichts spricht
dafür, daß die Fördermöglichkeiten an der bisher besuchten Schule erschöpft sind. Daß
der Antragsteller bei einem Verbleib an der bisher besuchten Schule für die Dauer des
Widerspruchsverfahrens wegen einer seinem Bedarf nicht entsprechenden Förderung
Schäden oder Nachteile erwarten müßte, ist konkret nicht ersichtlich.
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Für die Abwägung ohne maßgebliche Bedeutung ist es im vorliegenden Fall, daß der
Antragsteller den Unterricht stört, indem er (u. a.) herumschreit (vgl. Berichte vom 19.
Dezember und 14. April 2005 - II 5, 44) und auch Mitschüler beleidigt (ebenda, II 5, 43)
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und angreift, etwa anspuckt (ebenda II 43). Es mag dahinstehen, ob das auf einer
allgemeinen Verwahrlosung beruht oder einer Erziehungsschwierigkeit (dies
vermuteten die Lehrkräfte anscheinend in ihrem Antrag auf Feststellung einer
Schwerstbehinderung ohne Datum von etwa Juni/Juli 2005, II 12) oder ob das Folge
einer mangelnden Steuerungsfähigkeit auf Grund einer geistigen Behinderung ist.
Immerhin ist auffällig, daß die unterrichtenden Lehrkräfte zum Antrag auf Feststellung
der Schwerstbehinderung angegeben hatten, daß alle pädagogischen Maßnahmen bis
jetzt keine Änderung des Verhaltens des Antragstellers ermöglicht hätten, während der
Bericht vom 19. Dezember 2005 den Eindruck vermittelt, daß auch insoweit eine
Verbesserung der Verhaltens beim Antragstellers eingetreten ist. Für die Abwägung ist
dagegen maßgeblich, daß bei einem Wechsel des Förderorts den Schülern der bisher
besuchten Schule Störungen des Unterrichts, die vom Antragsteller ausgehen, zwar
erspart würden, daß dafür die Schüler der zukünftigen Schule des Antragstellers die
„Leidtragenden" des Wechsels wären; für die Notwendigkeit einer sofortigen
Vollziehung läßt sich deshalb im vorliegenden Fall aus dem Sozialverhalten des
Antragstellers nichts herleiten.
Da überdies eine individuelle Förderung des Antragstellers zumindest vorübergehend
auch an der bisher besuchten Schule möglich ist (vgl. zu den Fördermöglichkeiten für
Schüler im Grenzbereich Lernbehinderung/Geistige Behinderung OVW NRW a.a.O.)
und sich der hier zu entscheidende Fall schon nach der Sachverhaltsgestaltung
grundlegend von dem durch das OVG NRW a.a.O. entschiedenen Fall unterscheidet,
und da die Unklarheiten zu den Voraussetzungen des § 6 AO-SF zum Teil auch darauf
beruhen, daß der Antragsteller Fortschritte gemacht hat, die weiter nachzuvollziehen
und aufzuklären bei sofortiger Vollziehung voraussichtlich unmöglich würde, geht das
Gericht insgesamt davon aus, daß kein überwiegendes öffentliches Interesse an einer
sofortigen Vollziehung des Bescheides vom 30. Januar 2006 besteht.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht
auf §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 des Gerichtskostengesetzes (GKG); der Wert aus § 52 Abs.
2 GKG ist halbiert worden.
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