Urteil des VG Gelsenkirchen vom 23.09.2009

VG Gelsenkirchen (kläger, eltern, recht auf bildung, zustellung, vater, mutter, getrennt leben, gesetzlicher vertreter, bekanntgabe, klagefrist)

Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 4 K 6076/08
Datum:
23.09.2009
Gericht:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen
Spruchkörper:
4. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
4 K 6076/08
Schlagworte:
sonderpädagogische Förderung; Elternrecht; Klagefrist; Eltern;
Getrenntleben; Klagebefugnis; Zustellung
Leitsätze:
Zur Zustellung eines Bescheides über die Zuweisung eines Schülers an
eine Förderschule bei getrennt lebenden Eltern und zum Lauf der
Klagefrist bei getrennten Zustellungen an die Eltern
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf
die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe
des jeweils beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die
Beklagte vor der Vollstreckung entsprechend Sicherheit leistet.
T a t b e s t a n d :
1
Der Kläger ist am 00. Mai 1994 geboren. Er wurde zum Schuljahr 2000/01 schulpflichtig
und besuchte zunächst den Schulkindergarten der O.--- -Grundschule in E. .
Anschließend durchlief er die O.--- -Grundschule, wobei er die zweite Klasse
wiederholte. Das Grundschulzeugnis vom 27. Januar 2006 (1. Halbjahr der 4. Klasse)
enthält keine Defizite. Der Kläger wechselte zum Schuljahr 2006/07 zur B. -G. -
Gesamtschule in E. . Dort erreichte er folgende Zensuren:
2
Klasse/Halbjahr: 5/1 5/2 6/1 6/2 7/1 7/2
3
Fach:
4
Deutsch 5 5 5 5 5 5
5
Englisch 4 5 5 5 5 5
6
Mathematik 4- 4- 5 5- 5 5
7
Biologie 5 5 - 5 -
8
Physik - - 3- 4+ -
9
Chemie 4
10
Gesellschaftslehre 4 4 5 5 4- 5
11
Arbeitslehre 3 2 - - -
12
Sport 2 2 3 3- 3 3
13
Kunst 3 3 3 3 -
14
Musik 3 4
15
Wahlpflichtfach - - 4 4- 5 4
16
Naturwissenschaften
17
TEC - 2 - - 3 2
18
HW 3 - - - -
19
Muttersprachl. Unterricht 3 3 2- 3 3 3
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Türkisch
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Die Verwaltungsvorgänge enthalten Hinweise darauf, daß die B. -G. -Gesamtschule bei
der Beklagten schon im Jahre 2007 und zuletzt am 7. April 2008 die Eröffnung eines
Verfahrens zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs beantragte.
Jedenfalls enthalten die Vorgänge Stellungnahmen der den Kläger unterrichtenden
Lehrer vom August 2007, wegen deren Inhalts auf Bl. 4 bis 10 der Beiakte Heft II
verwiesen wird; die Beklagte eröffnete das Verfahren gemäß Schreiben an die Eltern
des Klägers vom 9. April 2008.
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Das schulärztliche Gutachten der Schulärztin Dr. T...... -D. vom 21. Mai 2008 schließt mit
der zusammenfassenden Bemerkung:
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"Die körperliche und neurologische Untersuchung sowie die Überprüfung des Seh- und
Hörvermögens ergaben Normalbefunde. Es scheinen erhebliche innerfamiliäre
Probleme der Eltern vorzuliegen. T2. scheint mit seinem Vater zur Untersuchung. Die
Mutter sei nach Angaben des Vaters psychisch krank, eine Behandlung würde von ihr
abgelehnt. Kontakt zum Jugendamt wurde schon aufgenommen. Ein möglicher
Schulwechsel wird von der Familie als weitere Belastung (müßten umziehen) gesehen.
Der Junge zeigt sich hier motiviert."
24
Das sonderpädagogische Gutachten der Lehrerinnen B1. (sonderpädagogische
Lehrkraft) und I. -M. (Lehrkraft der Gesamtschule) vom 25. Juni 2008 kommt zu dem
Ergebnis, daß beim Kläger sonderpädagogischer Förderbedarf mit dem Schwerpunkt
Lernen vorliege und empfiehlt für den Kläger den Besuch einer Förderschule. Das
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Gutachten weist darauf hin, daß der Kläger einen deutlich unterdurchschnittlichen
Intelligenzquotienten (IQ) von 71 im Test CFT 20, von 60 im Mannzeichentest und einen
sehr eingeschränkten Wortschatz ("IQ 67 im CFT 20/WS") aufweise und daß der Kläger
Konzentrationsprobleme und Ausdauerprobleme habe. Wegen der Einzelheiten wird auf
den Inhalt des Gutachtens verwiesen.
Am 21. August 2008 fand das sog. "Elterngespräch gem. § 12 VOSF" (so Bl. 47 in
Beiakte Heft I) statt, an dem der Vater des Klägers teilnahm. Der Vater wies auf die
häusliche Situation hin; die Eltern lebten getrennt, die Kinder würden wegen
"psychischer Probleme der Eltern" zum Vater umziehen. Er - der Vater - verspreche sich
etwas von einem Wohnungs- und Schulwechsel auf eine andere, kleinere Schule.
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Mit Bescheid vom 9. September 2008 entschied die Beklagte, daß der Kläger
sonderpädagogischen Förderbedarf mit dem Förderschwerpunkt Lernen aufweise und
bestimmte eine Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen zum Förderort. Der
Bescheid ist gerichtet an
27
"Frau T3. P.
28
Herrn L. P1.
29
T4. . 49
30
00000 E. "
31
und wurde am 12. September 2008 unter dieser Anschrift gegen PZU zugestellt (I 46).
Der Kläger hat vorgetragen, unter dieser Anschrift hätten damals seine Mutter und er
gelebt; sein Vater habe im I1.---------weg 12 in E. gewohnt; der Vater habe von dem
Bescheid dadurch Kenntnis erlangt, daß er - der Kläger - ihm von dem Bescheid erzählt
habe.
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Am 6. November 2008 hat der Kläger, vertreten durch seine Eltern, beim
Verwaltungsgericht Arnsberg Klage erhoben. Das Verwaltungsgericht Arnsberg hat den
Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen verwiesen. Der Kläger hat eine
unter dem 22. Dezember 2008 von beiden Eltern unterschriebene Prozeßvollmacht
vorgelegt.
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Zur Begründung führt der Kläger an, daß sich seine Eltern getrennt hätten, daß er diese
Situation inzwischen verarbeitet habe und daß er sich an der Gesamtschule normal
weiterentwickeln werde.
34
Der Kläger beantragt,
35
den Bescheid der Beklagten vom 9. September 2008 aufzuheben.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Der Kläger benötige sonderpädagogische Förderung.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge der Beklagten - Beiakten Hefte I und II-
Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
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Die Klage ist unzulässig. Der Kläger hat die Klagefrist versäumt. Die Klagefrist beträgt
gemäß § 74 Abs. 1 Satz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) einen Monat nach
Bekanntgabe des Verwaltungsakts, hier des Bescheides vom 9. September 2008. Sie
verlängert sich im vorliegenden Fall nicht nach § 58 Abs. 2 VwGO, denn die dem
Bescheid beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung ist zutreffend. Die Klagefrist für den
Kläger begann mit der Zustellung des Bescheides am 12. September 2008 zu laufen.
Die Klage ist jedoch erst am 6. November 2008 erhoben worden.
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Der Bescheid vom 9. September 2008 ist dem Kläger am 12. September 2009 zugestellt
- und damit bekanntgegeben - worden. Gemäß § 6 Abs. 1 und Abs. 3 des
Landeszustellungsgesetzes, das für die Verwaltungstätigkeit der Beklagten bei der
Zustellung von Bescheiden - anders als bei der Zustellung von
Widerspruchsbescheiden nach § 73 Abs. 3 VwGO - einschlägig ist, genügt für die
Zustellung eines Bescheides an einen beschränkt Geschäftsfähigen die Zustellung an
einen der gesetzlichen Vertreter. Dies ist mit der Zustellung des Bescheides an die
Mutter des Klägers der Fall.
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Der Bescheid vom 9. September 2008 enthält rechtliche Regelungen, die sich als
Eingriff in das Erziehungsrecht der Eltern und in das Recht auf Bildung des Kindes
darstellen. Um allen Teilen gegenüber wirksam zu werden, bedarf der Bescheid der
Bekanntgabe gegenüber allen Teilen, für die er bestimmt oder die von ihm betroffen sind
(vgl. § 41 Abs. 1 Satz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes NRW). Für den
vorliegenden Fall, in dem die Eltern getrennt leben, bedeutet dies zum einen, daß der
Bescheid jedem Elternteil gegenüber bekannt gemacht werden müßte. Zum anderen
müßte der Bescheid dem Schüler - dem Kläger - gegenüber bekanntgemacht werden.
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Für die Entscheidung über die vorliegende Klage - des Schülers - ist in erster Linie auf
die Bekanntgabe an den Kläger abzustellen. Die Bekanntgabe des Bescheides an den
Kläger liegt in der Zustellung des Bescheides an seine Mutter. Zwar ist der Kläger in der
Anschrift des Bescheides nicht ausdrücklich als Adressat des Bescheides benannt.
Aber das ist nicht erforderlich. Es genügt, daß sich aus dem Bescheid eindeutig ergibt,
daß er auch für den Kläger bestimmt ist. Das ist hier der Fall; denn der Bescheid regelt
gerade (auch) für den Kläger, daß bei ihm sonderpädagogischer Förderbedarf besteht
und wo er zukünftig gefördert werden soll. Die Bekanntgabe des mithin auch für den
Kläger bestimmten Bescheides erfordert nicht, daß für ihn - neben dem Bescheid, der an
seine Mutter als Elternteil zu richten ist und gerichtet worden ist - ein gesondertes
Exemplar des Bescheides zu Händen seiner gesetzlichen Vertreter bzw. eines
Vertreters zu übermitteln ist. Es genügte vielmehr, ein Bescheidexemplar an seine
Mutter als gemäß § 6 LZG für die Zustellung Empfangsberechtigte zu übermitteln, das
zugleich als Bescheidexemplar für die Mutter als Elternteil dienen konnte. So wie es
anerkannt ist, daß es für die Zustellung von Bescheiden an (zusammenlebende)
Eheleute ausreicht, daß nur ein Bescheidexemplar übermittelt wird, soweit davon
ausgegangen werden kann, daß beide Eheleute Zugriff auf den Bescheid haben, so
genügt es, wenn ein Elternteil nur ein Bescheidexemplar erhält, das eindeutig sowohl
an ihn selbst als auch an ihn als gesetzlicher Vertreter gerichtet ist.
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Die Klagefrist für den Kläger - und, was nur vorsorglich angemerkt wird, auch für die
Mutter als Elternteil - verlängert sich nicht dadurch, daß der Bescheid nicht zeitgleich
und möglicherweise bis jetzt noch nicht seinem Vater bekanntgegeben wurde. Wenn -
wie hier - die Bekantgabe bzw. Zustellung eines an sich an alle Teile zu richtenden
Bescheides an den Schüler/Kläger und die Mutter einerseits und den Vater andererseits
zu unterschiedlichen Zeiten erfolgt - was bei getrennt lebenden Elternteilen regelmäßig
der Fall sein kann - , so läuft für jeden der Beteiligten auf Grund der ihm gegenüber
erfolgten Bekanntgabe die jeweils für ihn zutreffende Klagefrist.
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Der Kläger kann sich, um seiner Klage formal zum Erfolg zu verhelfen, schließlich auch
nicht darauf berufen, daß der Bescheid seinem Vater noch nicht bekanntgegeben
worden sei - jedenfalls ist eine solche Bekanntgabe aus den Akten nicht ersichtlich -
und daß deshalb jedenfalls der Durchsetzbarkeit des Bescheides ein Hindernis
entgegenstehe. Abgesehen davon, daß dies an der Verfristung der Klage nichts ändert,
könnte der Vater des Klägers mit einer für ihn etwa noch fristgerecht möglichen Klage
keinen Erfolg haben, da er seine Elternrechte nur mit der Mutter gemeinsam ausüben
könnte und die Mutter den an sie gerichteteten Bescheid unangefochten gelassen hat.
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Nur vorsorglich wird darauf hingewiesen, daß die Klage -wäre sie zulässig - auch
materiell keinen Erfolg gehabt hätte. Der Kläger weist sonderpädagogischen
Förderbedarf wegen einer Lernbehinderung gemäß § 5 Abs. 1 AO-SF auf. Der Kläger
hat Lern- und Leistungsausfälle schwerwiegender, umfänglicher und langdauernder Art.
Das belegen schon die im Laufe der letzten Jahre erreichten Schulnoten. Der Kläger hat
seit seinem Wechsel auf die Gesamtschule in keinem Schuljahr das "Klassenziel"
erreicht, sondern zu den Schuljahresenden jeweils mehrere Defizite (mangelhaft) erzielt.
Der schulische Mißerfolg wird durch kognitive Rückstände wenn nicht verursacht, so
zumindest verstärkt. Der Mißerfolg beruht nicht etwa auf Faulheit oder fehlender
Motivation des Klägers; vielmehr haben die ihn unterrichtenden Lehrkräfte darauf
hingewiesen, daß der Kläger sich um schulischen Erfolg bemühe (vgl. Beiakte Heft II Bl.
6, 8, 9). Aber auch intensive Hilfen (vgl. ebenda Bl. 7, 9) haben nicht zu einer
Leistungsveränderung geführt.
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Die Kostentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung zur vorläufigen
Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozeßordnung.
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