Urteil des VG Gelsenkirchen vom 17.03.2009

VG Gelsenkirchen: besondere härte, vorzeitige entlassung, anerkennung, ausbildungskosten, ermessensprüfung, verzicht, soldat, waffe, ratenzahlung, zivildienst

Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 1 K 3891/07
Datum:
17.03.2009
Gericht:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen
Spruchkörper:
1. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
1 K 3891/07
Schlagworte:
Soldat, Soldat auf Zeit, Entlassung, Kriegsdienstverweigerung, Härte,
Erstattung, Ausbildungsgeld, Ausbildungskosten, Studium, Medizin
Normen:
§ 55 Abs. 3 SG, § 56 Abs. 4 SG
Tenor:
Der Bescheid des Personalamtes der Bundeswehr vom 23. Mai 2007
und der Widerspruchsbescheid vom 15. November 2007 werden
aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf
die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des
beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor
Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
1
Die am 15. Dezember 1977 geborene Klägerin stand bis zum 2. Mai 2006 als Leutnant
(Besoldungsgruppe A 9 BBesO) im Sanitätsdienst der Beklagten. Sie wendet sich nach
ihrer Entlassung aus der Bundeswehr gegen die Erstattung des Ausbildungsgeldes, das
sie während ihres Studiums der Humanmedizin erhielt.
2
Die Klägerin trat am 1. Januar 1998 als Anwärterin für die Laufbahn der Offiziere des
Sanitätsdienstes in die Bundeswehr ein. Ihre Wehrdienstzeit als Soldatin auf Zeit wurde
bis zum 31. Dezember 2012 festgesetzt. Zum 1. Oktober 1998 wurde sie an das
Bundeswehrkrankenhaus I. versetzt und zum Studium der Humanmedizin beurlaubt. Sie
schloss ihr Studium am 2. November 2004 ab und erhielt am 11. November 2004 ihre
Approbation als Ärztin.
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Unter dem 14. Oktober 2004 beantragte die Klägerin ihre Anerkennung als
Kriegsdienstverweigerin. Durch Bescheid vom 3. August 2005 lehnte das Bundesamt für
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den Zivildienst den Antrag als unzulässig ab mit der Begründung, Sanitätsoffiziere, die
keinen Kriegsdienst mit der Waffe leisten müssten, hätten kein Rechtsschutzbedürfnis
für einen solchen Antrag. In dem nach erfolglosem Widerspruchsverfahren anhängig
gemachten Klageverfahren verpflichtete das Verwaltungsgericht Arnsberg das
Bundesamt für den Zivildienst durch Urteil vom 28. Juni 2006 (9 K 2860/05), die
Klägerin als Kriegsdienstverweigerin anzuerkennen.
Unter dem 19. Oktober 2004 beantragte die Klägerin unter Hinweis auf ihre
Gewissensentscheidung der Kriegsdienstverweigerung ihre vorzeitige Entlassung aus
der Bundeswehr. Zur Begründung der Ernsthaftigkeit ihrer Entscheidung verwies die
Klägerin auch auf die wirtschaftlichen Folgen einer Entlassung, nämlich das
Ausbildungsgeld in beträchtlicher Höhe erstatten zu müssen. Das Personalamt der
Bundeswehr lehnte den Entlassungsantrag durch Bescheid vom 29. März 2005 ab. Das
Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) wies die Beschwerde der Klägerin durch
Beschwerdebescheid vom 10. Juni 2005 zurück. Durch Urteil vom 16. Dezember 2005
(13 K 1443/05) verpflichtete das Verwaltungsgericht Arnsberg das Personalamt der
Bundeswehr, die Klägerin gemäß § 55 Abs. 3 Soldatengesetz (SG) aus dem Wehrdienst
zu entlassen. In den Entscheidungsgründen führt das Gericht aus, dass die Klägerin
eine Entwicklung durchlaufen habe, als deren Ergebnis eine „Umkehr" ihrer
Gewissenseinstellung zum Kriegsdienst mit der Waffe stehe. Durch Bescheid vom 25.
April 2006 entließ das Personalamt der Bundeswehr die Klägerin aus ihrem
Dienstverhältnis als Soldatin auf Zeit.
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Seit 1. Juli 2006 war die Klägerin als Assistenzärztin bei der Klinikum E. gGmbH
beschäftigt; nunmehr ist sie seit 1. Juni 2007 bei dem K. - Hospital in C. beschäftigt und
erzielt dort ein monatliches Nettoeinkommen von etwa 2.800 Euro. Zusammen mit ihrem
schwerbehinderten Bruder (Grad der Behinderung 100) ist sie je zur Hälfte
Miteigentümerin eines von ihr bewohnten Einfamilienhausgrundstücks in E. . Außer
ihren Bezügen als Ärztin verfügt sie über Einnahmen aus der Vermietung einer
Einliegerwohnung.
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Mit Schreiben vom 9. August 2006 hörte das Personalamt der Bundeswehr die Klägerin
zu der beabsichtigten Erstattung des Ausbildungsgeldes gemäß § 56 Abs. 4 SG in Höhe
von 128.803,90 Euro an. Durch Bescheid vom 23. Mai 2007 forderte das Personalamt
der Bundeswehr die Klägerin auf, das ihr in der Zeit vom 1. Oktober 1998 bis zum 11.
November 2004 gewährte Ausbildungsgeld in Höhe von 128.803,90 Euro zu erstatten.
Innerhalb dieses Zeitraumes waren die Tage von der Erstattung ausgenommen, an
denen die Klägerin militärischen Dienst geleistet hatte. Zur Vermeidung einer
besonderen Härte im Sinne von § 56 Abs. 4 Satz 3 SG wurde ihr Ratenzahlung in Höhe
von 600 Euro monatlich eingeräumt. In der Begründung des Bescheides heisst es, die
Prüfung der Frage, ob auf die Erstattung ganz oder teilweise verzichtet werden könne,
weil die Erstattung eine besondere Härte im Sinne des § 56 Abs. 4 Satz 3 SG bedeuten
würde, führe zu dem Ergebnis, dass es an einer rechtfertigenden Grundlage für einen
ganzen oder teilweisen Verzicht auf die Erstattung fehle. Die aktuelle Einkommens- und
Vermögenssituation gebe jedoch Veranlassung, in Anwendung der Härteklausel eine
verzinsliche Stundung durch Einräumen von Teilzahlungen zu gewähren. Angesichts
dieser Zahlungsmodalitäten sei nicht zu befürchten, dass die Rückforderung die
Existenz der Klägerin gefährde oder eine wirtschaftliche Notlage entstehen lasse. Ihren
Widerspruch vom 14. Juni 2007 begründete die Klägerin damit, dass die Prüfung der
besonderen Härte sich nicht ermessensfehlerfrei mit den Gründen auseinandersetze,
die für den Entlassungsantrag maßgebend gewesen seien.
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Durch Widerspruchsbescheid vom 15. November 2007, zugestellt am 22. November
2007, wies das Personalamt der Bundeswehr den Widerspruch zurück. Die
Ausführungen zur Unbegründetheit des Widerspruchs beginnen mit der Passage: „Der
Leistungsbescheid des Personalamtes der Bundeswehr vom 23. Mai 2007 ist
rechtmäßig erlassen worden und verletzt Sie nicht in Ihren Rechten." Das Personalamt
führte zur weiteren Begründung aus, die Ermessensprüfung sei fehlerfrei erfolgt. Im
Rahmen der Prüfung der besonderen Härte gemäß § 56 Abs. 4 Satz 3 SG habe keine
Ermessensprüfung im Sinne von § 55 Abs. 3 SG zu erfolgen. Dass sich der
Leistungsbescheid nicht mit dem Prüfungsgegenstand der Voraussetzungen des § 55
Abs. 3 SG befasse, sei folgerichtig. Schon aus systematischen Gründen müsse der
Begriff der besonderen Härte in § 56 Abs. 4 Satz 3 SG anders ausgelegt werden als
derjenige in § 55 Abs. 3 SG. Die vorzeitige Entlassung wegen besonderer Härte
begründe erst die Erstattungspflicht. Aus den gleichen Gründen, die die vorzeitige
Entlassung rechtfertigten, auf eine Erstattung der Ausbildungskosten zu verzichten,
lasse § 56 Abs. 4 SG leer laufen.
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Die Klägerin hat am 14. Dezember 2007 Klage erhoben. Sie trägt vor, die
angefochtenen Bescheide berücksichtigten ermessensfehlerhaft nicht, dass sie die
Entlassung aus der Bundeswehr aus Gründen habe betreiben müssen, auf deren
Entstehung sie keinen Einfluss gehabt habe. Nach der höchstrichterlichen
Rechtsprechung seien die Gründe, die zur Entlassung geführt hätten, bei der Prüfung
der besonderen Härte gemäß § 56 Abs. 4 Satz 3 SG zu berücksichtigen. Die
Erstattungsverpflichtung, der sich ein wegen Anerkennung als Kriegdienstverweigerer
entlassener Soldat gegenüber sehe, stelle eine besondere Härte im Sinne des § 56
Abs. 4 Satz 3 SG dar, die den Dienstherrn zu Ermessenserwägungen über den
vollständigen oder teilweisen Verzicht auf die Erstattung der Ausbildungskosten zwinge
(BVerwG, Urteile vom 23. Januar 1976 - VI C 38.74 - und vom 30. März 2006 - 2 C 18.05
-). Auch bei der Einräumung der Ratenzahlung sei ein Ermessen nicht ausgeübt
worden, vielmehr sei insoweit lediglich eine Berechnung der Ratenhöhe auf der
Grundlage der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Klägerin erfolgt.
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Die Klägerin beantragt,
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den Bescheid des Personalamtes der Bundeswehr vom 23. Mai 2007 und den
Widerspruchsbescheid vom 15. November 2007 aufzuheben.
11
Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie trägt vor, sie habe das Vorliegen einer besonderen Härte erkannt und ihr Ermessen
hinreichend ausgeübt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen
auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Akten 13 K 1443/05 und 9 K 2860/05 des
Verwaltungsgerichts Arnsberg und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der
Beklagten.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist begründet.
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Der angefochtene Leistungsbescheid vom 23. Mai 2007 in der Fassung des
Widerspruchsbescheides vom 15 November 2007 ist wegen eines Ermessensfehlers
rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Die Klägerin ist nach § 56 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 SG grundsätzlich verpflichtet,
das Ausbildungsgeld zu erstatten, weil sie auf eigenen Antrag aus dem
Soldatenverhältnis auf Zeit entlassen worden ist. Die Höhe des Erstattungsbetrages von
128.803,90 Euro ist von der Klägerin rechnerisch nicht beanstandet worden. Die in Ziffer
3. des Leistungsbescheides geregelte Verzinsungspflicht in Höhe von 4 % ist im
Rahmen einer Härteregelung ebenfalls grundsätzlich möglich.
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Vgl. OVG NRW, Urteil vom 16. August 1996 - 12 A 2476/94 -
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Nach der für Zeitsoldaten geltenden Regelung des § 56 Abs. 4 Satz 3 SG (vgl. für
Berufssoldaten § 49 Abs. 4 Satz 3 SG) kann auf die Erstattung ganz oder teilweise
verzichtet werden, wenn sie für die frühere Soldatin eine besondere Härte bedeuten
würde. Diese Koppelungsvorschrift setzt als Tatbestandsmerkmal das Vorliegen einer
atypischen besonderen Härte voraus. Wenn eine solche Härte gegeben ist, muss sich
eine Ermessensentscheidung des Dienstherrn anschließen.
21
Vgl. BVerwG, Urteil vom 11. Februar 1977 - VI C 135.74 - BVerwGE 52, 84, 93.
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In der vorliegenden Konstellation sind die Gründe, die die besondere Härte bei der
Entlassung der Klägerin gemäß § 55 Abs. 3 SG ausmachten, auch bei der
Erstattungspflicht des § 56 Abs. 4 SG zu berücksichtigen. Auf der Grundlage der
aktuellen Gesetzesfassung und der derzeitigen Rechtsprechung sind die die Entlassung
tragenden Härtegründe in der Regel bei der Anwendung des § 56 Abs. 4 Satz 3 SG
nicht zu berücksichtigen. Dies folgt - wie die Beklagte im Ausgangspunkt zutreffend
geltend macht - aus systematischen Überlegungen. Wenn die Härtegründe, die eine
vorzeitige Entlassung des Zeitsoldaten rechtfertigen, auch zur Begründung einer
besonderen Härte im Rahmen der Erstattungspflicht herangezogen werden könnten,
liefe die Erstattungspflicht des § 56 Abs. 4 Satz 1 und 2 SG in den meisten
Konstellationen leer.
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Vgl. OVG NRW, Urteile vom 16. August 1996 - 12 A 2476/94 - und vom 30. September
1999 - 12 A 1828/98 - juris; Walz/Eichen/Sohm, § 56 SG, Rn. 23, 24.
24
Eine Abweichung von dieser Regel ist jedoch dann zwingend, wenn die Entlassung auf
einer Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer beruht. In dieser Konstellation ist § 56
Abs. 4 Satz 3 SG entgegen den vorgenannten systematischen Überlegungen
verfassungskonform (Art. 4 Abs. 3 GG) dahin auszulegen, dass die Erstattungspflicht
eine besondere Härte darstellt, die zu Ermessenserwägungen über den vollständigen
oder teilweisen Verzicht auf einen Ausgleich der Ausbildungskosten zwingt. Im
Einzelnen ergibt sich die Begründung für dieses Ergebnis aus der von der Klägerin
benannten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, der die Kammer folgt.
25
BVerwG, Urteil vom 30. März 2006 - 2 C 18.05 - Buchholz 449, § 56 SG Nr. 3 = juris,
insbesondere Randnummer 18; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 22. Januar 1975 - 2
BvL 51/71 u. a. - BVerfGE 39, 128, 143; BVerwG, Beschluss vom 2. Juli 1996 - 2 B
26
49.96 - Buchholz 236.1, § 56 SG Nr. 2 = ZBR 1996, 309; Scherer/Alf/Poretschkin, 8.
Auflage, § 49 SG Rn. 10.
Die Kriegsdienstverweigererkonstellation trifft auf die Klägerin zu. Die Anerkennung als
Kriegsdienstverweigerin erfolgte zwar erst auf der Grundlage des Urteils des
Verwaltungsgerichts Arnsberg vom 28. Juni 2006 (9 K 2860/05) und damit nach der
Entlassung zum 2. Mai 2006. Die Entlassung beruhte aber auf dem zuvor gestellten
Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerin und das Verwaltungsgericht
Arnsberg führte im Entlassungsverfahren (13 K 1443/05) eine Prüfung der
Gewissensentscheidung der Klägerin durch, die derjenigen bei Anerkennung als
Kriegsdienstverweigerin entspricht. Letztlich ist die Entlassung auf eigenen Antrag
Ausfluss des Gebrauchmachens von dem Grundrecht aus Art. 4 Abs. 3 GG seitens der
Klägerin.
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Liegt damit nach den Grundsätzen des Bundesverwaltungsgerichts eine besondere
Härte vor, war die Beklagte gezwungen, bei der Ausübung des Ermessens nach § 56
Abs. 4 Satz 3 SG den Grund für die Entlassung der Klägerin gemäß § 55 Abs. 3 SG zu
berücksichtigen. Dies ist nicht geschehen. Einschlägige Ausführungen finden sich dazu
weder im Ausgangsbescheid noch im Widerspruchsbescheid. Die Beklagte beruft sich
vielmehr ausdrücklich auf die eingangs dargestellten systematischen Überlegungen,
dass die Entlassungsgründe bei der Anwendung des § 56 Abs. 4 Satz 3 SG keine
Beachtung finden dürften.
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Abgesehen davon dürfte - ohne dass es darauf entscheidungstragend ankommt - die
Größenordnung der im angefochtenen Bescheid geforderten Erstattung mit den
Grundsätzen des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. März 2006 nicht
vereinbar sein. Danach können in der Konstellation der Kriegsdienstverweigerung nur
die ersparten Aufwendungen zurückgefordert werden. Dies sind bei einem
Medizinstudium im Wesentlichen die Lebenshaltungskosten für die sechsjährige
Studiendauer, die eine Größenordnung von etwa 60.000 Euro erreichen dürften.
Angesichts des Ermessensfehlers der Beklagten bedarf es im vorliegenden Verfahren
keiner abschließenden Klärung der einzelnen erstattungsfähigen Aufwandspositionen
und der genauen Gesamthöhe der maximalen Erstattungsforderung.
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Schließlich weist der Widerspruchsbescheid einen eigenständigen Mangel auf, indem
er sich ausweislich seines Obersatzes - wie ein Verwaltungsgericht - auf eine reine
Rechtsprüfung des Ausgangsbescheides beschränkt und von der der
Widerspruchsbehörde aufgegebenen eigenen Ermessensprüfung absieht.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §
708 Nr. 11, § 711 ZPO.
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