Urteil des VG Gelsenkirchen vom 28.04.2005

VG Gelsenkirchen: afghanistan, regierung, präsident, politische verfolgung, aufrechterhaltung der ordnung, amnesty international, persönliche freiheit, anerkennung, gefahr, auskunft

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Schlagworte:
Normen:
Leitsätze:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 5a K 4421/03.A
28.04.2005
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen
5a. Kammer
Urteil
5a K 4421/03.A
Gruppenverfolgung, Hindus, Afghanistan, staatliche Herrschaftsmacht
AufenthG § 60 Abs 1; GG Art 16a
Zur Gruppenverfolgung der Hindus in Afghanistan zwischen 1992 und
2001
Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 2. bis 4. des Bescheides
des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom
19. August 2003 verpflichtet festzustellen, dass bei den Klägern die
Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistan
vorliegen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Kläger und die Beklagte je zur
Hälfte.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige
Schuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des
jeweils beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige
Gläubiger zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.
T a t b e s t a n d :
Der geborene Kläger zu 1., seine geborene Ehefrau - die Klägerin zu 2. - sowie ihre in den
Jahren , und in L. geborenen gemeinsamen Kinder - die Kläger zu 3. bis 5. - sind
afghanische Staatsangehörige hinduistischer Religions- und Volkszugehörigkeit. Ihren
eigenen Angaben zufolge reisten sie am 30. Juli 2001 mit Hilfe eines Schleppers auf dem
Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie alsbald einen Antrag auf
Anerkennung als Asylberechtigte stellten.
Bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer
Flüchtlinge - Bundesamt - am 03. August 2001 gab der Kläger zu 1. an, er sei selbständiger
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Händler gewesen, seit 1996 habe er sein Geschäft jedoch nur noch alle vier bis fünf
Monate einmal geöffnet. Die letzten vier Jahre vor ihrer Ausreise hätten sie quasi wie
Gefangene in einem Tempel der Sikhs in L. gelebt. Hindus seien in Afghanistan verhasst
und litten unter religiöser Diskriminierung. Nach einem Gesetz der Taliban hätten sie als
Hindus ein gelbes Band tragen müssen. Hätte er mit einem solchen Band das Haus bzw.
den Tempel verlassen, wäre er vielleicht erschossen worden. Falls er ohne Tragen des
Bandes erwischt worden wäre, wäre er ebenfalls bestraft worden. Außerdem hätten sie
auch deshalb ausreisen müssen, weil ihr Geld zu Neige gegangen sei und er nicht wollte,
dass seine Kinder als Analphabeten aufwüchsen. Die Klägerin zu 2. ergänzte bei ihrer
Anhörung am selben Tag, dass sie immer wieder Probleme gehabt hätten und von den
Mudschaheddin belästigt worden seien, allerdings hätten sie persönlich keine Probleme
mit irgendwelchen Behörden oder mit anderen Personen gehabt. Ihr Vater sei am linken
Arm angeschossen worden, ihr Großvater habe durch einen Raketenangriff ein Bein
verloren.
Mit Bescheid vom 19. August 2003 - zugestellt am 25. August 2003 - lehnte das Bundesamt
den Asylantrag der Kläger ab, stellte das Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 51
Abs. 1 Ausländergesetz (AuslG) sowie von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG
fest und drohte den Klägern die Abschiebung nach Afghanistan an, falls sie die
Bundesrepublik Deutschland nicht innerhalb eines Monats nach unanfechtbarem
Abschluss des Asylverfahrens verlassen hätten.
Dagegen haben die Kläger am 04. September 2003 die vorliegende Klage erhoben und
diese unter Wiederholung und Vertiefung ihres bisherigen Vortrages mit ihrer
hinduistischen Religionszugehörigkeit begründet. Im Falle einer Rückkehr müssten sie mit
Inhaftierung und willkürlicher Misshandlung durch die Warlords rechnen, die als
fundamentalistische Moslems Andersgläubige verfolgten. Diese seien zum Großteil mit
denjenigen Personen identisch, die in der Vergangenheit als Mudschaheddin die
Herrschaft in Afghanistan ausgeübt hätten. Insbesondere Frauen seien weiterhin
Verfolgung und Diskriminierungen ausgesetzt. Auf Grund der allgemeinen Flucht der
Hindus aus Afghanistan hätten sie - die Kläger - keinerlei Rückhalt zu erwarten. Sie
könnten weder auf familiäre noch auf staatliche Hilfe hoffen. Auch verfügten sie nicht über
Wohnraum. Außerdem seien Leib und Leben angesichts der unzureichenden
medizinischen Versorgung in Afghanistan auch wegen akuter Krankheiten im
Rückkehrfalle bedroht.
Die Kläger beantragen,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 19. August 2003 zu
verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen und festzustellen, dass bei ihnen die
Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) vorliegen,
hilfsweise festzustellen, dass bei ihnen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7
AufenthG hinsichtlich Afghanistan vorliegen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich auf den Inhalt des angefochtenen Bescheides.
Die Kläger zu 1. und 2. sind in der mündlichen Verhandlung vom 28. April 2005 ergänzend
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zu ihrem Asylvorbringen angehört worden. Insoweit wird auf das Sitzungsprotokoll
verwiesen.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen wird auf die Gerichtsakte sowie die
Verwaltungsvorgänge der Beklagten ergänzend Bezug genommen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
Die zulässige Klage hat teilweise Erfolg. Sie ist in dem im Entscheidungstenor zum
Ausdruck kommenden Umfang begründet, im Übrigen ist sie unbegründet.
I.
Die Kläger haben keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a
Grundgesetz (GG).
Nach Art. 16a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Verfolgt im Sinne dieser
Vorschrift ist derjenige, dessen Leib, Leben oder persönliche Freiheit in Anknüpfung an
seine politische Überzeugung, an seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn
unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen (sog. asylerhebliche Merkmale),
gefährdet oder verletzt werden. Es muss sich um gezielte staatliche oder jedenfalls dem
Staat zuzurechnende Rechtsverletzungen handeln, die den Einzelnen ihrer Intensität nach
aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Die
Verfolgungsmaßnahme kann dem Einzelnen oder einer durch ein asylerhebliches Merkmal
gekennzeichneten Gruppe - und dort allen Gruppenmitgliedern oder dem Einzelnen wegen
seiner Gruppenzugehörigkeit - gelten.
Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 26. November 1986 - 2 BvR 1058/85 -, BVerfGE 74, 51, vom
10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, BVerfGE 80, 315 (333 ff.) und vom 23. Januar
1991 - 2 BvR 902/85, 515 u. 1827/89 -, BVerfGE 83, 216 = InfAuslR 1991, 200.
Staatlichkeit in diesem Sinne stellt ab auf das Vorhandensein einer in sich befriedeten
Einheit, die nach innen alle Gegensätze, Konflikte und Auseinandersetzungen durch eine
übergreifende Ordnung in der Weise relativiert, dass diese unterhalb der Stufe der
Gewaltsamkeit verbleiben und die Existenzmöglichkeit des Einzelnen nicht in Frage
stellen, insgesamt also die Friedensordnung nicht aufheben. Dazu dient staatliche Macht.
Die Macht, zu schützen, schließt indes die Macht, zu verfolgen, mit ein. Daher hebt die
Asylgewährleistung im Grundgesetz ganz auf die Gefahren ab, die aus einem bestimmt
gearteten Einsatz verfolgender Staatsgewalt erwachsen; sie will den Einzelnen vor
gezielten, an asylerhebliche Merkmale anknüpfenden Rechtsverletzungen schützen, die
ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit
ausgrenzen. Darin liegt als Kehrseite beschlossen, dass Schutz vor den Folgen
anarchischer Zustände oder der Auflösung der Staatsgewalt nicht durch Art. 16a Abs. 1 GG
versprochen ist.
Vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 10. August 2000 - 2 BvR 260/98 und
1353/98 -, NVwZ 2000, 1165 = DVBl 2000, 1518 = InfAuslR 2000, 521, und vom 10. Juli
1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, BVerfGE 80, 315, 333 ff. m.w.N.
Das Element der "Staatlichkeit" oder "Quasi-Staatlichkeit" von Verfolgung darf nicht
losgelöst vom verfassungsrechtlichen Tatbestandsmerkmal des "politisch" Verfolgten
betrachtet und nach abstrakten staatstheoretischen Begriffsmerkmalen geprüft werden. Es
muss vielmehr in Beziehung gesetzt bleiben zu der Frage, ob eine Maßnahme den
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Charakter einer politischen Verfolgung im Sinne von Art. 16a Abs. 1 GG aufweist, vor der
dem davon Betroffenen Schutz gewährt werden soll. Die Prüfung bestimmter
staatstheoretischer Merkmale für die Annahme vorhandener oder neu entstehender
Staatlichkeit kann für die Beurteilung, ob Verfolgungsmaßnahmen die Qualität politischer
Verfolgung haben, nicht schlechthin konstitutiv, sondern nur - wenn auch in gewichtiger
Weise - indiziell sein. Maßgeblich für die Bewertung einer Maßnahme als politische
Verfolgung ist, dass der Schutzsuchende einerseits in ein übergreifendes, das
Zusammenleben in der konkreten Gemeinschaft durch Befehl und Zwang ordnendes
Herrschaftsgefüge eingebunden ist, welches den ihm Unterworfenen in der Regel Schutz
gewährt, andererseits aber wegen asylerheblicher Merkmale von diesem Schutz
ausgenommen und durch gezielt zugefügte Rechtsverletzungen aus der konkreten
Gemeinschaft ausgeschlossen wird, was ihn in eine ausweglose Lage bringt, der er sich
nur durch die Flucht entziehen kann. Die Frage, ob in einem Staat von einer Regierung
politische Verfolgung ausgehen kann, beurteilt sich folglich maßgeblich danach, ob diese
zumindest in einem "Kernterritorium" ein solches Herrschaftsgefüge von gewisser Stabilität
- im Sinne einer übergreifenden Friedensordnung - tatsächlich errichtet hat.
Vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 10. August 2000 - 2 BvR 260/98 und
1353/98 -, NVwZ 2000, 1165 = DVBl 2000, 1518 = InfAuslR 2000, 521.
Für die danach in erster Linie maßgebliche Frage nach der Beschaffenheit des
Herrschaftsgefüges im Innern des beherrschten Gebietes zwischen dem verfolgenden
Machthaber und den ihm unterworfenen Verfolgten bedarf es der Feststellung und
Bewertung, ob eine übergreifende Friedensordnung mit einem prinzipiellen
Gewaltmonopol existiert, die von einer hinreichend organisierten, effektiven und stabilen
Gebietsgewalt in einem abgrenzbaren (Kern-)Territorium getragen wird.
BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2001 - 9 C 20.00 -, DVBl 2001, 997 = DÖV 2001, 560 =
NVwZ 2001, 815 = InfAuslR 2001, 353.
Zu den Voraussetzungen für die Annahme einer staatlichen Herrschaftsmacht gehört eine
gewisse Stetigkeit und Dauerhaftigkeit der Herrschaft, verkörpert vorrangig in der
Durchsetzungsfähigkeit und Dauerhaftigkeit des geschaffenen Machtapparates. Die
entstandenen Machtgebilde müssen stabil sein, wobei es entscheidend auf die Lage im
Innern und nur ergänzend indiziell auf etwaige äußere Gefährdungen ankommt. Eine
besondere Bedeutung kommt dabei der Zeitspanne zu, während derer die
Herrschaftsorganisation bereits Bestand hat. Neben dem Zeitfaktor können ferner Anzahl,
Größe und machtpolitsches Gewicht autonomer oder nicht befriedeter, dem Zugriff der
Regierung entzogener Gebiete von Bedeutung sein. Je zahlreicher und gewichtiger solche
Herrschaftsexklaven sind, umso eher kann dies bei der gebotenen prognostischen
Bewertung die tatsächliche Territorialgewalt und damit die staatsähnliche Qualität der
Regierung in Frage stellen.
BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2001 - 9 C 20.00 -, DVBl 2001, 997 = DÖV 2001, 560 =
NVwZ 2001, 815 = InfAuslR 2001, 353.
Nicht entscheidend für die Annahme einer staatsähnlichen Herrschaftsorganisation sind
die Legitimität der Machtausübung, die Akzeptanz durch alle oder eine Mehrheit der
Gewaltunterworfenen, die Willkürfreiheit der Herrschaft, die Beachtung eines
menschenrechtlichen Mindeststandards, die völkerrechtliche Deliktsfähigkeit,
organisatorische und rechtliche Formen, Einrichtungen, Institutionen der Herrschaftsmacht
sowie zivilisatorische Errungenschaften der Daseinsvorsorge. Entscheidend ist vielmehr,
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ob eine de facto- Gebietsgewalt vorhanden ist, die tatsächlich eine prinzipiell schutz- und
verfolgungsmächtige Ordnung von gewisser Stabilität errichtet hat (Schutz- und
Gewaltmonopol im Inneren).
Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2001 - 9 C 20.00 -, DVBl 2001, 997 = DÖV 2001, 560
= NVwZ 2001, 815 = InfAuslR 2001, 353.
Auf der Grundlage dieser Überlegungen kann davon ausgegangen werden, dass die
Taliban zur Zeit ihrer Herrschaft in Afghanistan zumindest staatsähnliche Herrschaftsmacht
innehatten. Von ungefähr 1998/99 bis zum Herbst 2001 beherrschten sie den weitaus
überwiegenden Teil Afghanistans. Bis auf das der sog. Nordallianz verbliebene Territorium,
welches etwa 10 % der Gesamtfläche Afghanistans ausmachte, vermochten die Taliban
sich auch gegenüber sämtlichen lokalen Stammesfürsten und in nahezu allen Landesteilen
faktisch und effektiv durchzusetzen.
Vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 29. Januar 2002 - 8 UZ 2908/00.A -; Schetter, Kleine
Geschichte Afghanistans, 2004, S. 128 ff.
Diese quasi-staatliche Herrschaft der Taliban ist indessen infolge der Angriffe der
Vereinigten Staaten von Amerika Ende 2001 beendet worden. Am 07. Dezember 2001 ist
Kandahar, die letzte Hochburg der Taliban, durch die Truppen der Vereinigten Staaten von
Amerika und der mit ihnen verbündeten Nordallianz eingenommen worden. Auch wenn
sich in jüngster Zeit insbesondere im Süden und Südosten Afghanistans die Taliban
wieder sammeln und - wie durch die Medien allgemein bekannt ist - durch vereinzelte
Anschläge auf sich aufmerksam machen, sind gleichwohl Anhaltspunkte für eine
bevorstehende Wiedererlangung, geschweige denn einer Festigung ihrer vorherigen
Herrschaft nicht erkennbar.
Vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 06. Februar 2003 - 3 A 17/00 -; VG Potsdam, Urteil vom
15. Juli 2003 - 3 K 3106/97.A -.
Das zeigt sich nicht zuletzt unter anderem darin, dass es ihnen nicht gelungen ist, die Wahl
des afghanischen Präsidenten vom 09. Oktober 2004 entscheidend zu stören.
Nach Einschätzung des Gerichts übt aber auch die derzeitige Regierung mit Präsident
Hamid Karsai an der Spitze keine für die Annahme einer politischen Verfolgung im Sinne
des Art. 16a GG erforderliche staatliche Gewalt in Afghanistan aus. Zwar wird Präsident
Karsai von der internationalen Staatengemeinschaft gefördert; die völkerrechtliche
Anerkennung ist jedoch nicht maßgebend. Der Gebietsherrschaft nach außen kann
allenfalls indizielles Gewicht zukommen.
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. August 2000 - 2 BvR 260/98 und 1353/98 -, NVwZ 2000,
1165 = DVBl 2000, 1518 = InfAuslR 2000, 521.
Voraussetzung für die Annahme einer staatlichen Gewalt ist vielmehr - wie oben
ausführlich dargelegt - eine effektive Gebietsgewalt im Sinne einer wirksamen hoheitlichen
Überlegenheit im Inneren des Landes. Davon kann jedoch trotz der Bildung der
Übergangsregierung im Dezember 2001, ihrer Bestätigung durch die Loya Jirga im Juni
2002, der am 09. Oktober 2004 erfolgten Wahl von Hamid Karsai zum Präsidenten durch
das afghanische Volk sowie des Einsatzes der Schutztruppen der International Security
Assistance Force (ISAF) zum hier maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen
Tatsachenverhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Asylverfahrensgesetz - AsylVfG -) nicht
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ausgegangen werden.
So auch OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 16. Juni 2004 - 2 LB 54/03 -; VG Dresden,
Urteil vom 21. Oktober 2003 - A 7 K 30050/03 -; VG Braunschweig, Urteil vom 22. August
2003 - 1 A 13/01 -; VG Potsdam, Urteil vom 15. Juli 2003 - 3 K 3106/97.A -; VG Hamburg,
Urteil vom 21. Februar 2003 - 19 VG A 369/98 -; a.A. VG Minden, Urteile vom 24. Juli 2003 -
9 K 2258/00.A -, Asylmagazin 11/2003, S. 13, und vom 17. Mai 2004 - 9 K 5145/03.A -,
Asylmagazin 9/2004, S. 15; VG Leipzig, Urteil vom 13. Dezember 2002 - A 4 k 30427/96 -;
VG Neustadt an der Weinstraße, Urteil vom 26. August 2002 - 5 K 2360/01.NW -.
Das ergibt sich aus der Auswertung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisse.
Die Sicherheitslage hat sich in jüngster Vergangenheit landesweit nicht verbessert, in
mancher Beziehung sogar verschlechtert. Im Raum L. bleibt sie weiter fragil. Eine
durchsetzungsfähige Polizei existiert in Afghanistan derzeit noch nicht. Des Weiteren fehlt
es an funktionierenden Verwaltungsstrukturen. Auch von einem nur ansatzweise
funktionsfähigen Justizwesen kann derzeit nicht gesprochen werden, da keine Einigkeit
über die Gültigkeit und damit Anwendbarkeit von Rechtssätzen besteht.
Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 03. November 2004.
Entscheidend ist jedoch, dass die Regierung Karsai zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder in
Afghanistan noch in einem Teil Afghanistans ein Gewaltmonopol besitzt. Sie ist nicht
ansatzweise in der Lage, sich in den einzelnen Landesteilen gegenüber den sog. Warlords
- auch Kriegsfürsten, Lokalherrscher, Stammesfürsten etc. genannt - durchzusetzen.
Deutsches Orient-Institut, Gutachten an Sächs. OVG vom 23. September 2004; Danesch,
Gutachten an Sächs. OVG vom 24. Juli 2004.
Zwar räumt die afghanische Verfassung vom 26. Januar 2004 der Regierung umfangreiche
Kompetenzen ein; die Realität wird den von der Verfassung vorgesehenen Strukturen
jedoch in keiner Weise gerecht. Für die Beurteilung, ob eine staatliche Herrschaftsmacht
vorliegt, kommt es auf die faktische Verfassungswirklichkeit und nicht auf theoretische
Modelle an, die nur auf dem Papier stehen, aber keine praktische Umsetzung erfahren
haben.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2001 - 9 C 20.00 -, DVBl 2001, 997 = DÖV 2001, 560
= NVwZ 2001, 815 = InfAuslR 2001, 353.
In den verschiedenen Landesteilen Afghanistans herrschen große wie kleine lokale
Kriegsfürsten, die sich teilweise sogar ihre eigenen staatsähnlichen Institutionen
geschaffen haben. Diese Herrscher verstehen sich als Herren über ​ihre" jeweiligen
Territorien, unterhalten eigene bewaffnete Armeen und Sicherheitskräfte und sogar
Privatgefängnisse, gegen die die Zentralregierung bislang noch nichts unternommen hat.
Die Lokalfürsten sind es, die für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in ihren
Gebieten verantwortlich zeichnen und nicht die Regierung in L. .
Vgl. Deutsches Orient-Institut, Gutachten an Sächs. OVG vom 23. September 2004;
Danesch, Gutachten an Sächs. OVG vom 24. Juli 2004.
Bislang ist es der Regierung Karsai nicht gelungen, den Einflussbereich dieser
Lokalfürsten zurückzudrängen und ihren eigenen Einfluss auf das gesamte Land oder
zumindest einen Großteil desselben auszudehnen. Sie ist auch nicht in der Lage,
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Weisungen oder Anordnungen zu erlassen, die in den einzelnen Territorien befolgt werden.
Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass die von der Zentralregierung angeordnete
Entwaffnung der Privatarmeen, welche ein gewichtiges Indiz gegen das Vorhandensein
einer einheitlichen Staatsgewalt darstellen, zu keinen durchgreifenden Erfolgen geführt hat.
Zwar legten in der jüngsten Vergangenheit mitunter Kämpfer ihre Waffen nieder; das Geld,
das sie für die Abgabe ihrer alten schrottreifen Waffen erhielten, investierten sie jedoch in
den Kauf moderner Geräte. Auf diese Weise werden Anordnungen der Kabuler Regierung
zwar formal eingehalten, faktisch jedoch eindeutig konterkariert. Die Kampagne zur
Entwaffnung der Privatarmeen führte somit letztlich zu ihrem Gegenteil, nämlich zur
Modernisierung der Ausrüstung der Privatarmeen.
Vgl. Clemens, Afghanistan im Überblick, Südasien 1/04, S. 4; Danesch, Gutachten an
Sächs. OVG vom 24. Juli 2004.
In den Privatarmeen der einzelnen Lokalfürsten erhalten die Soldaten in der Regel mehr
Sold als bei der neuen afghanischen Berufsarmee. Das führt dazu, dass viele Soldaten zu
den Milizen desertieren. Hinzu kommt, dass diese Soldaten häufig Mudschaheddin sind,
die sich ihren jeweiligen Kommandanten und Lokalherren zur Loyalität verpflichtet fühlen
und nicht der Zentralregierung. Viele Polizeikräfte unterstehen zwar theoretisch der
Zentralregierung, praktisch stehen sie hingegen direkt unter dem Befehl der jeweiligen
lokalen Machthaber. Es kommt auch nicht selten vor, dass die Polizeikräfte sich von der
Regierung unter Zuhilfenahme ausländischer Experten ausbilden lassen und nach erfolgter
Ausbildung bei ihren jeweiligen Stammesfürsten in den Dienst treten. Präsident Karsai ist
ferner nicht in der Lage, die Nationalarmee uneingeschränkt und ohne Einflussnahme
Anderer zu befehligen.
Vgl. Danesch, Gutachten an Sächs. OVG vom 24. Juli 2004.
Schon das Nebeneinander von afghanischer Berufsarmee auf der einen und den
Privatarmeen der Kriegsfürsten auf der anderen Seite sowie die Tatsache, dass die
Polizeikräfte in erster Linie den Lokalfürsten Gehorsam schulden, zeigen, dass es keine
einheitliche, das gesamte Land überziehende Staatsgewalt in Afghanistan gibt. Hinzu
kommt noch, dass die der Zentralregierung unterstehenden Truppen und Polizeikräfte sich
im Konfliktfall nicht gegenüber den lokalen Truppen und privaten Sicherheitskräften
durchzusetzen vermögen. Sie haben sich bisher als außerstande erwiesen, die Stellung
der Zentralregierung zu festigen und die Macht der Lokalherrscher zu schwächen.
Anschaulich wurde dies in der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif im Norden des Landes.
Anfang des Jahres 2004 hatte Präsident Karsai den paschtunischen General Akram
Khakrizwal dort als Polizeichef eingesetzt. Am 04. Juli 2004 ließ Ustad Ata, der in den
nördlichen Provinzen Samangan und Balkh eine dominierende Rolle spielt, dort mehrere
tausend Kämpfer stationiert hat und kürzlich sogar dreißig russischer Panzer erhielt, die
Polizeistation von zweihundert seiner Krieger angreifen und General Akram unter
Hausarrest nehmen. Einhundertdreißig Polizeibeamte, die Akram gegenüber loyal waren,
sind seitdem verschwunden. Über ihren Verbleib ist nichts bekannt.
Vgl. Danesch, Gutachten an Sächs. OVG vom 24. Juli 2004.
Dass die Zentralregierung diese Maßnahme gegen ihre eigenen Polizeikräfte
widerspruchs- und tatenlos hinnahm, geschweige denn Anstalten zu einer strafrechtlichen
Verfolgung und Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustandes unternahm, macht
deutlich, dass sie letztlich über keinerlei Handhabe und Durchsetzungsfähigkeit gegenüber
den Lokalherrschern verfügt. In diesem Fall ist es nicht einmal zu dem Versuch eines
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Widerstandes seitens der Regierung gegen den Angriff durch Ata und dessen Leute
gekommen. Die Regierung hat somit keine Sanktionsmöglichkeiten gegenüber
Aufständischen und gegenüber denen, die die der Regierung unterstehenden Kräfte
angreifen. Wo jedoch eine Regierung nicht in der Lage ist, Rechtsverstöße und gegen sie
gerichtete Angriffe zu verhindern oder zu sanktionieren, kann nicht von einer effektiven und
faktischen Gebietsgewalt gesprochen werden.
Daran vermag auch die Tatsache, dass Ustad Ata von Karsai sogar offiziell als
Armeekommandant eingesetzt worden ist und dem Präsidenten gegenüber Loyalität
versprochen hat, nichts zu ändern. Dieser Vorfall belegt vielmehr, dass im Konfliktfall auch
die Loyalitätsbekundungen zur Treue gegenüber dem Präsidenten nichts mehr als bloße
Lippenbekenntnisse ohne Wert sind, die Karsai und seiner Regierung nicht zu mehr Macht
in den einzelnen Landesteilen verhelfen, was im Übrigen noch weiter auszuführen sein
wird.
Auch die kürzlich erfolgte Entmachtung von Ismail Khan, dem Gouverneur der Provinz
Herat, erweist sich bei genauerer Betrachtung lediglich als vermeintliche und formale
Entmachtung, ohne dass Ismail Khan dadurch tatsächlich entscheidend durch die
Zentralregierung in seiner Macht beschränkt worden wäre. Der von Präsident Karsai neu
eingesetzte unbekannte Gouverneur verfügt in der Provinz über keinerlei ​Hausmacht".
Vielmehr benutzt Ismail Khan den Gouverneur quasi als seine Marionette und lenkt -
sozusagen versteckt hinter dem neuen Mann, der das Vertrauen der Regierung in L.
genießt - weiterhin die Geschicke in diesem Gebiet, das bis in die feinsten Verästelungen
von ihm und seiner Sippe beherrscht wird.
Vgl. Deutsches Orient-Institut, Gutachten an Sächs. OVG vom 23. September 2004.
Ein weiteres Beispiel für die starke Stellung der Lokalfürsten und die
Durchsetzungsunfähigkeit der Zentralregierung ist der blühende und boomende
Opiumanbau in Afghanistan, dessen Bekämpfung Präsident Karsai zu einem der großen
Ziele seiner Präsidentschaft erklärt hat.
Vgl. Der Spiegel vom 19. April 2004, S. 13; Südasien 1/04, S. 4.
Faktisch ist es ihm aber - im Gegensatz zu den Taliban in den letzten Jahren ihrer
Herrschaft - bislang nicht ansatzweise gelungen, den Opiumanbau und den damit
verbundenen Drogenhandel einzudämmen. Im Gegenteil, von 2001 bis 2003 ist die Ernte
um das Fünffache gestiegen. Die Einnahmen aus dem Handel mit den Drogen nutzen die
Lokalfürsten, die den Opiumhandel kontrollieren, wiederum zur Bezahlung und Aufrüstung
ihrer privaten Milizen.
Vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 22. April 2004; Neue Züricher Zeitung vom 04. Juni
2004, S. 5 f.
Auch wenn man sich die besondere Struktur Afghanistans und seine Geschichte
vergegenwärtigt, die dadurch geprägt ist, dass es im Prinzip immer schon mehr oder
weniger autonome Stammesfürsten und Lokalherrscher gab, so dass man geneigt sein
könnte, die an eine Gebietsgewalt in Afghanistan zu stellenden Anforderungen zu
relativieren und abzuschwächen, führt dies nicht zur Annahme einer staatlichen
Herrschaftsmacht, die von Präsident Karsai und seiner Zentralregierung ausgeübt wird.
Zum einen ist festzuhalten, dass eine derartige (militärische) Stärke der Lokalherrscher, wie
sie gegenwärtig in Afghanistan vorzufinden ist, eben nicht prägend für die afghanische
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Geschichte ist.
Vgl. Schetter, Kleine Geschichte Afghanistans, 2004, S. 114.
Zum anderen gab es auch in Afghanistan Zeiten, in denen die Zentralgewalt sich auch
gegenüber den Lokalherrschern effektiv durchsetzen konnte, wie zum Beispiel zur Zeit der
Taliban auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Die zur damaligen Zeit vorhandenen Lokalfürsten,
die zum großen Teil mit den heutigen identisch sind, mussten zumindest im Falle einer
offenen Konfrontation mit rigorosen Sanktionen seitens des Taliban-Regimes rechnen, was
dazu führte, dass sie sich gegenüber jener quasi-staatlichen Macht und Kontrolle - wenn
auch unter Druck - beugten und sich nicht wagten aufzulehnen. Die Taliban haben damit zu
erkennen gegeben, dass es möglich ist, die Warlords zu kontrollieren und ihre Macht zu
beschneiden. Im Gegensatz dazu operieren die Warlords heute vollkommen unabhängig.
Es sind nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen keine Begebenheiten bekannt,
bei denen sich Lokalfürsten gegenüber der Zentralregierung auf Grund deren Drucks und
Macht gebeugt hätten. Das macht deutlich, dass nicht Präsident Karsai die dominierende
Kraft in Afghanistan ist, sondern in den jeweiligen Territorien die einzelnen Landesfürsten.
Sie sind es, die keine Angst haben müssen, wenn sie Weisungen Karsais nicht befolgen.
Von daher kann auch noch nicht einmal von einem Machtgleichgewicht und annähernd
gleichwertigen Kräfteverhältnissen zwischen der Zentralregierung unter Karsai auf der
einen und den Warlords auf der anderen Seite gesprochen werden. Vielmehr ist Präsident
Karsai eher eine Marionette der Kriegsfürsten. Seinen Weisungen kommen sie nur solange
nach, wie sie ihren eigenen (Macht-)Interessen entsprechen.
Die Annahme einer durch die Zentralregierung ausgeübten Staatsgewalt ergibt sich auch
nicht dadurch, dass in der Regierung etliche der Lokalfürsten Kabinettsmitglieder sind bzw.
dass mittlerweile nahezu allen lokalen Herrschern - wie z.B. dem oben geschilderten Ustad
Ata - von Präsident Karsai irgendwelche offiziellen Posten übertragen worden und sie auf
diese Weise in den Staatsapparat eingebunden sind. Zu diesem Schritt sah sich Präsident
Karsai auf Grund der Macht des Faktischen gezwungen, um sein Gesicht zu wahren und
zumindest der internationalen Staatengemeinschaft das Bild eines einheitlichen
afghanischen Staates zu vermitteln. Trotz ihrer Mitarbeit im Kabinett - sei es direkt oder
indirekt mittels ihnen ergebenen nahestehenden Persönlichkeiten - stützen die Lokalfürsten
Präsident Karsai nicht in seinem Bemühen um den Aufbau einer Staatsgewalt im gesamten
Land. Vielmehr gebrauchen und missbrauchen sie ihre Mitarbeit in der Zentralregierung zur
Durchsetzung ihrer eigenen Interessen in ihren jeweiligen Territorien. Alle an der
Regierung beteiligten Kräfte sind darauf bedacht, nach persönlichem Einfluss zu ringen.
Aus diesem Grunde stellt sich auch die Regierung selbst als ein sehr inhomogenes
Gebilde dar und nicht als eine Koalition nach westlichen Vorstellungen. Von einer
Einbindung der Lokalherrscher in das Kabinett mit dem Ziel der Bildung und Durchsetzung
der Regierung für das gesamte Land kann nicht gesprochen werden. Eine Zusammenarbeit
mit Karsai seitens seiner mächtigen Gegenspieler findet insoweit nicht oder allenfalls in
geringem Maße statt, nämlich dann, wenn eigene Interessen der Landesfürsten nicht
tangiert sind.
Vgl. Danesch, Gutachten an Sächs. OVG vom 24. Juli 2004.
Auch dieser Umstand macht deutlich, dass schon mangels einheitlicher Willensbildung
innerhalb der Zentralregierung vielfach keine durchgreifenden Maßnahmen beschlossen
werden oder zumindest faktisch nicht durchgesetzt werden können, die die Macht der
einzelnen Stammesfürsten in Frage stellen würden.
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Die abgegebenen Loyalitätsbekundungen der Lokalfürsten zu Gunsten von Präsident
Karsai dürfen keineswegs überbewertet werden. Sie vermögen die vom Gericht
vorgenommene Bewertung nicht in Frage zu stellen. Abgesehen davon, dass gerade in
Afghanistan Bündnisse und Loyalitätsbekundungen bei sich ändernden Verhältnissen sehr
schnell gekündigt werden, greift die Sichtweise, dass auf Grund der Integration der
Lokalfürsten in den Staatsapparat und der verbalen Anerkennung der Zentralregierung mit
Präsident Karsai als anerkanntem Staatsoberhaupt von Afghanistan von einer den
Gesamtstaat überziehenden Staatsgewalt gesprochen werden könne,
so VG Minden, Urteil vom 24. Juli 2003 - 9 K 2258/00.A -, ASYLMAGAZIN 11/2003, S. 13;
VG Leipzig, Urteil vom 13. Dezember 2002 - A 4 K 30427/96 -; Danesch, Gutachten an
Sächs. OVG vom 24. Juli 2004,
zu kurz und wird den tatsächlichen Verhältnissen in keiner Weise gerecht. Entscheidend ist
nicht eine formale Sichtweise, sondern inwieweit die Zentralmacht sich faktisch im Land
durchsetzen kann. Das ist jedoch - wie geschildert - nicht der Fall. Eine derartige
Machtlosigkeit der Regierung Karsai, wie sie sich gegenwärtig in Afghanistan darstellt,
kann trotz gegenteiliger Lippenbekenntnisse der Lokalfürsten nicht zur Annahme einer
staatlichen Herrschaftsmacht führen. Die Warlords haben sogar auch dort das Sagen, wo
es parallel von der Regierung eingesetzte Gouverneure gibt.
Vgl. Danesch, Gutachten an Sächs. OVG vom 24. Juli 2004.
Hinzu kommt noch die nicht unerhebliche Anzahl unterschiedlicher Lokalherrscher, die sich
nicht der Zentralregierung unterstellen. Die Zentralgewalt wird umso eher in Frage gestellt,
je zahlreicher und gewichtiger die einzelnen Territorialgewalten sind,
vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2001 - 9 C 20.00 -, DVBl 2001, 997 = DÖV 2001, 560
= NVwZ 2001, 815 = InfAuslR 2001, 353,
was auf Afghanistan zutrifft. Zur Aufrechterhaltung der Ordnung im gesamten Land sind die
Lokalherrscher und die Bürger nicht auf die Zentralregierung angewiesen, sondern
Präsident Karsai ist umgekehrt darauf angewiesen, dass die jeweiligen Warlords in ihren
Gebieten für ein geregeltes Zusammenleben der Menschen sorgen, weil seine Regierung
das nicht autonom leisten kann.
Das Gewaltmonopol der Regierung Karsai beschränkt sich allenfalls auf L. und Umgebung,
wobei diese Gewalt im Wesentlichen durch die internationale Friedenstruppe gestützt wird
und außerdem stark beeinflusst und unterwandert ist durch die Einwirkung der im Kabinett
befindlichen politischen und militärischen Kontrahenten Karsais.
Vgl. Danesch, Gutachten an Sächs. OVG vom 24. Juli 2004.
Nach Einschätzung des Gerichts liegen die Voraussetzungen nicht vor, um L. als ein
Kernterritorium"
im Sinne des BVerfG, Beschluss vom 10. August 2000 - 2 BvR 260/98 und 1353/98 -,
NVwZ 2000, 1165 = DVBl 2000, 1518 = InfAuslR 2000, 521,
zu bezeichnen. So erscheint es schon äußerst fraglich, ob staatliche Macht, die sich auf
den Raum L. und seine nähere Umgebung beschränkt, von ihrer räumlichen Ausdehnung
her ausreicht, von einer staatlichen Herrschaftsmacht in einem Kernterritorium zu sprechen.
Doch selbst in der Hauptstadt hat Präsident Karsai mit seiner Regierung bislang kein
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Herrschaftsgefüge von gewisser Stabilität im Sinne einer übergreifenden Friedensordnung
errichten können. Die Sicherheitslage in L. ist immer noch alles andere als stabil;
charakteristisch sind ständige Übergriffe, Schießereien, Anschläge etc. Insbesondere
nachts sind die Zustände noch sehr chaotisch und nicht unter Kontrolle. Ein effektiver
Schutz der Bürger durch die Regierung findet - mittels der ISAF-Truppen - allenfalls in
geringem Maße und auch nur in bestimmten Stadtteilen statt. Zumindest können die Bürger
im Einzelfall nicht darauf vertrauen, von der Regierung wirksam geschützt zu werden.
Hinzu kommt, dass die ISAF-Schutztruppen nicht dem Befehl Karsais und der Regierung
unterstehen und ihr Handeln ihnen daher auch nicht zugerechnet werden kann. Entfiele der
Schutz durch die internationalen Truppen, dann würde die Gewalt bzw. der Rest an Gewalt,
den der Präsident gegenwärtig in L. ausübt, wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Im
Übrigen gilt auch bezogen auf L. , dass die Regierung wegen der einander
widerstreitenden Interessen zu einer einheitlichen Willensbildung nicht in der Lage ist, so
dass schon gar nicht klar wird, welche Maßnahmen in L. zur Entwicklung und
Aufrechterhaltung einer staatlichen Gewalt überhaupt getroffen werden sollen.
Vgl. Deutsches Orient-Institut, Gutachten an Sächs. OVG vom 23. September 2004;
Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 22. April 2004 und vom 03. November 2004.
Schließlich kann auch nicht in den einzelnen Landesteilen außerhalb von L. eine staatliche
bzw. quasi-staatliche Herrschaftsmacht durch einzelne Lokalherrscher bezogen auf ein
begrenztes Territorium angenommen werden. Zwar ist für eine staatsähnliche
Herrschaftsmacht weder erforderlich, dass sie das gesamte Staatsgebiet erfasst, noch dass
sie die einzige auf dem Staatsgebiet existierende Gebietsgewalt ist,
vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. Januar 1999 - 9 B 655.98 -, InfAuslR 1999, 283, wonach
auch Teilbereiche ausreichen können,
vergegenwärtigt man sich jedoch, dass in Afghanistan zahlreiche Lokalfürsten in
abgrenzbaren Territorien Macht ausüben, d.h. dass die territorial begrenzte Macht nicht nur
auf einige sehr wenige verteilt ist, die damit quasi gemeinsam das gesamte Land oder ein
Großteil davon unter ihrer Kontrolle haben, so kann nicht von einem Herrschaftsgefüge in
einem territorial abgrenzbaren Kernterritorium gesprochen werden, was für dieses oder
jene Gebiet zur Annahme einer staatlichen Herrschaftsmacht führen würde. Die
gegenwärtige Situation unterscheidet sich gravierend von der Situation in Afghanistan vor
einigen Jahren, als die Taliban immerhin einen Großteil der Fläche des Landes
beherrschten. Darüber hinaus gibt es keine Erkenntnisse darüber, dass einzelne Regionen
als eigenständige Landesteile von Afghanistan angesehen werden. Stammesfehden
zwischen rivalisierenden Herrschern
vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 22. April 2004,
führen schließlich dazu, dass es in einigen Gebieten zudem an der für die Annahme einer
Staatsgewalt erforderlichen Stabilität fehlt.
Dieser Aspekt der Begrenzung der Macht und ihrer Verteilung auf viele verschiedene
Machthaber betrifft nicht zuletzt auch L. , so dass schon aus diesem Grund die Annahme
eines Kernterritoriums in der Hauptstadt nicht in Betracht kommt.
II.
Die Klage ist dagegen begründet, soweit die Kläger die Feststellung der Voraussetzungen
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des § 60 Abs. 1 AufenthG begehren. Den Klägern steht Abschiebungsschutz nach dieser
Regelung zu.
Der Verfolgungsbegriff des § 60 Abs. 1 AufenthG entspricht dem bisherigen Verständnis
der politischen Verfolgung im Sinne des Art. 16a GG und § 51 Abs. 1 des bis zum 31.
Dezember 2004 gültigen Ausländergesetzes - AuslG -; auch die Differenzierung der
Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe gilt entsprechend.
Vgl. dazu BVerwG, Urteile vom 18. Februar 1992 - 9 C 59.91 -, DVBl. 1992, 843 und vom
18. Januar 1994 - 9 C 48.92 -, BVerwGE 95, 42.
Lediglich hinsichtlich der Verfolgungssubjekte ist die neue Regelung in § 60 Abs. 1
AufenthG weiter gefasst. Danach kann eine Verfolgung im Sinne des Satzes 1 vom Staat,
Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes
beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. Eine Verfolgung durch
nichtstaatliche Akteure führt jedoch nur dann zu einem Abschiebungsverbot, wenn die
zuvor genannten Akteure (Staat, Parteien oder Organisationen), einschließlich
internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht Willens sind,
Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
Die Kläger sind im Sommer 2001 vorverfolgt aus Afghanistan ausgereist. Die Verfolgung
ergab sich aus ihrer Zugehörigkeit zur Religions- und Volksgruppe der Hindus, so dass es
auf eine individuelle Vorverfolgung der Kläger nicht mehr ankommt. Hindus wurden in
Afghanistan nach dem Sturz des kommunistischen Regimes 1992 von den verschiedenen
Mudschaheddin-Gruppen und anschließend - nach der Machtergreifung durch die Taliban -
von diesen bis zum Ende ihrer Herrschaft Ende 2001 als religiöse und insbesondere als
ethnische Minderheit verfolgt.
Die Gefahr eigener politischer Verfolgung eines Asylsuchenden kann sich auch aus gegen
Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen
Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach
Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet und deshalb seine
eigene bisherige Verschonung von ausgrenzenden Rechtsgutbeeinträchtigungen als eher
zufällig anzusehen ist.
Die historische und zeitgeschichtliche Erfahrung lehrt, dass für den einzelnen die Gefahr,
selbst verfolgt zu werden, um so größer und unkalkulierbarer ist, je weniger sie von
individuellen Umständen abhängt oder geprägt ist und je mehr sie unter Absehung hiervon
überwiegend oder ausschließlich an kollektive, dem einzelnen unverfügbare Merkmale
anknüpft. Sieht der Verfolger von individuellen Verfolgungen gänzlich ab, weil seine
Verfolgung der durch das asylerhebliche Merkmal gekennzeichneten Gruppe als solcher
und damit grundsätzlich allen Gruppenmitgliedern gilt, kann eine solche
Gruppengerichtetheit der Verfolgung dazu führen, dass jedes Mitglied der Gruppe im
Verfolgerstaat jederzeit eigener Verfolgung gegenwärtig sein muss.
Die Annahme einer derartigen gruppengerichteten Verfolgung setzt allerdings voraus, dass
Gruppenmitglieder Rechtsgutbeeinträchtigungen erfahren, aus deren Intensität und
Häufigkeit jedes einzelne Gruppenmitglied die begründete Furcht herleiten kann, selbst
alsbald Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden. Die hierfür erforderliche
Verfolgungsdichte setzt nicht unbedingt Pogrome oder diesen vergleichbare
Massenausschreitungen voraus, sondern ist immer dann gegeben, wenn die
Verfolgungsschläge gegen die Gruppenangehörigen nach Intensität und Häufigkeit so dicht
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und eng gestreut fallen, dass für jeden von ihnen die Furcht begründet ist, selbst Opfer der
Übergriffe zu werden.
BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 1991 - 2 BvR 902/85 und 515, 1827/89 -, BVerfGE 83,
216; BVerwG, Urteil vom 23. Juli 1991 - 9 C 154.90 -, BVerwGE 88, 367 = InfAuslR 1991,
363.
Zwischen 1992 und 2001 kam es in Afghanistan zu zahlreichen Übergriffen gegenüber
Hindus. So wurden die den Hindus gehörenden Häuser und Geschäfte besetzt; es wurde
auf die Hindus Druck bzw. Zwang ausgeübt, damit diese ihren wertvollen Haus- und
Grundbesitz zu Schleuderpreisen verkauften. Es kam zu Inhaftierungen, Misshandlungen,
Ermordungen und Vergewaltigungen der Angehörigen der hinduistischen Minderheit.
Bereits 1997 waren 95 % der Hindu- Tempel zerstört. Viele Hindus lebten nach der
Aufgabe ihrer Häuser schutzlos und im Zustand der Angst zusammengepfercht im Tempel -
häufig in Tempel der Sikhs, weil die Hindu-Tempel zerstört waren -, den sie in der Regel
nicht mehr zu verlassen wagten. Manche Hindu-Tempel blieben nur deshalb verschont,
weil sie unterirdisch im Verborgenen im Gewirr der Lehmhäuser versteckt lagen. Hindus
wurden zwangsweise zum Islam zu bekehren versucht. Außerdem mussten sie ein gelbes
Band tragen. Ihren Kindern war es nicht möglich, die Schule zu besuchen. Aus der Stadt
Khost wurden die Hindus vertrieben; der Hindu- und Sikh-Basar in dieser Handelsstadt
wurde geplündert und verwüstet, woraufhin 900 Hindus gemeinsam mit den Sikhs auf
einem mehrtägigen Fußmarsch nach Pakistan flohen. In den Freitagspredigten hetzten
fanatische Moslems gegen die Hindus. Sie wurden als gottlose Götzenanbeter und -
angesichts ihrer indischen Herkunft - als Spione des Erzfeindes Indien angesehen.
Kämpfer der verschiedenen Mudschaheddin-Gruppen vergriffen sich an den Hindu-Frauen,
ohne dass man sie zur Ordnung rief. Viele Hindu-Familien wurden in der Dunkelheit
angegriffen und um Schutzgelder erpresst.
Glatzer, Gutachten vom 07. Juli 2001; Deutsches Orient-Institut, Stellungnahme vom 26.
Juni 2000 an VG Hamburg; Universität Hamburg, Gutachten vom 13. April 2000 an VG
Hamburg; Danesch, Gutachten vom 30. Dezember 1996 an Rechtsanwalt Lienkamp und
vom 18. November 2003 an VG Wiesbaden; UNHCR, Auskunft vom 23. Dezember 1997 an
VG Gießen; Verein Afghanischer Hindus in Deutschland, Auskunft vom 20. Mai 1997 an
VG Göttingen; amnesty international, Afghanistan, September 1993.
Die erwähnten Maßnahmen gehen über eine bloße Diskriminierung der Minderheit der
Hindus hinaus und lassen die notwendige Verfolgungsintensität erkennen. Zwar mag man
für einige der soeben angeführten Maßnahmen auch andere Erklärungen anführen, die für
sich genommen nicht darauf schließen lassen, dass die Hindus auch zielgerichtet verfolgt
wurden. So war beispielsweise der Schulbesuch auch vielen anderen afghanischen
Kindern, insbesondere Mädchen, nicht möglich. Der Entzug des Grundbesitzes traf nicht
nur die Hindus, sondern auch andere wohlhabende Afghanen. In den anarchischen
Zuständen zur Zeit des Bürgerkriegs wurden nicht nur die Hindus Opfer von Übergriffen,
Misshandlungen, Vergewaltigungen etc. Wenn auch im Hinblick auf einzelne dieser
Maßnahmen verschiedene andere Bevölkerungsgruppen bzw. Einzelpersonen Opfer
waren, so bleibt doch festzuhalten, dass die Hindus jedenfalls immer und von allen
Maßnahmen, nicht nur von einzelnen betroffen waren. Gerade dieses bei den Hindus
festzustellende Zusammenwirken der zahlreichen verschiedenen Maßnahmen verdeutlicht
ihre Zielgerichtetheit und führt zur asylerheblichen Intensität.
Hinzu kommt die Tatsache, dass fast alle afghanischen Hindus im Laufe der neunziger
Jahre das Land verlassen haben, da sie auf Grund der aufgezeigten Referenzfälle und ihrer
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Maßnahmen, die vielen anderen Hindus widerfahren sind, sowie in dem Klima allgemeiner
moralischer, religiöser und gesellschaftlicher Verachtung, der sie ausgesetzt waren, um ihr
Leben fürchten mussten. Die wenigen Hindus, die in Afghanistan geblieben sind, waren
diejenigen, denen die finanziellen Mittel für eine Ausreise fehlten; ihre ausreichende
Versorgung war weder in medizinischer Hinsicht noch mit Nahrungsmitteln sichergestellt.
Vgl. Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, Afghanistan - Information -:
Aktuelle Situation, politische Strukturen und gefährdete Personengruppen, April 2001;
Auswärtiges Amt, Auskunft an OVG Schleswig- Holstein vom 24. Juli 2000; UNHCR,
Auskunft vom 23. Dezember 1997 an VG Gießen; ZDWF, Bericht vom September 1996 zur
Lage in Afghanistan; siehe auch Danesch, Gutachten vom 05. April 1997 an Hess. VGH,
wonach noch vor der Eroberung Kabuls durch die Taleban 99 % der ehemals 35.000
Hindus aus der Hauptstadt geflohen seien.
Gerade dieser deutliche Exodus belegt sehr anschaulich und ist ein gewichtiges bis fast
schon eindeutiges Indiz dafür, dass die Bürgerkriegsparteien die Hindus zielgerichtet
verfolgten. Keine andere Bevölkerungsgruppe hat das Land in dieser Größenordnung und
nahezu vollständig verlassen. Unter der Taliban-Herrschaft bzw. schon kurz vor der
Machtergreifung durch die Taliban waren die Hindus dann aus dem öffentlichen Leben in
Afghanistan praktisch verschwunden.
Vgl. Danesch, Gutachten vom 08. April 1997 an VG Gießen.
Zwar ist kein systematisches Programm zur Vertreibung der Hindus bekannt. Es herrschte
jedoch unter den verschiedenen Mudschaheddin-Gruppen und ihren Führern sowie bei
den Taliban uneingeschränkte Übereinstimmung darüber, die Hindus ihrer Rechte zu
berauben und sogar äußerstenfalls ihr Leben nicht zu schonen. Im Übrigen wäre es
angesichts der chaotischen Verhältnisse in Afghanistan in den neunziger Jahren auch zu
viel verlangt, in diesem Umfeld, in dem es so gut wie gar keine festgelegten politischen und
gesellschaftlichen Programme gab, ein solches ausgerechnet für den Bereich der Hindu-
Verfolgung zu fordern. In diesem Zustand der gesellschaftlichen Ausgrenzung der Hindus,
denen es in der Regel übrigens auch nicht mehr möglich war, ihre Berufe auszuüben, wäre
ein offizielles politisches Programm zum Beleg der Verfolgung der Hindus auch überflüssig
gewesen.
Zur Annahme einer Gruppenverfolgung ist nicht zwingend die Durchführung von Pogromen
erforderlich. Den gleichen Effekt wie bei von führenden Stellen angeordneten Übergriffen
auf eine Vielzahl von Hindus zur gleichen Zeit hatte die Vorgehensweise der
Mudschaheddin, indem sie eine Hindu-Familie nach der anderen unter Zwang, Inhaftierung
und Vergewaltigung zum Verlassen ihrer Häuser mehr als deutlich aufforderten. Faktisch
war jedenfalls allen klar, dass die schon seit Jahren und Jahrzehnten unliebsamen Hindus
im öffentlichen Leben Afghanistans keine Rolle mehr spielen sollten. Dieses Ziel wurde
schließlich erreicht, als sich gegen Ende der neunziger Jahre kaum noch Hindus in
Afghanistan aufhielten. Die Vertreibung der Hindus war schließlich auch erst möglich,
nachdem das kommunistische Regime gestürzt war, unter dem die Hindus zuvor Schutz
und sogar finanzielle Macht und großen Reichtum in nicht unerheblichem Maße genossen.
Danesch, Gutachten vom 30. Dezember 1996 an Rechtsanwalt Lienkamp.
Im Übrigen sind aber sogar auch Pogrome vorgekommen: erinnert sei hier nur an den
Anschlag auf den ​Prinzenhof" - das ist die Börse und das Finanzzentrum Afghanistans
unter der Domäne der Hindus - im Februar 1992. Bei diesem Massaker wurden zahlreiche
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Hindus verletzt, etliche kamen uns Leben. Weitere Pogrome gegen Hindus gab es neben
einigen in L. auch in Khost.
Vgl. Danesch, Gutachten vom 08. Mai 1996 an VG Schleswig; Schweizerische
Flüchtlingshilfe, Bericht vom 03. März 2003.
Gegen eine Verfolgung der Hindus spricht auch nicht die Einschätzung, dass im Jahr 2001
religiös begründete Repressionen gegen Hindus nicht bekannt geworden seien oder dass
es keine verlässliche Grundlage für die Erwägung gebe, die Taliban verfolgten das Ziel der
religiösen Säuberung des Landes von den Hindus.
So schon OVG NRW, Urteil vom 28. Mai 1998 - 20 A 7317/95.A - m.w.N.; Auswärtiges Amt,
Lagebericht vom 09. Mai 2001.
Dabei darf nicht übersehen werden, dass zu diesem Zeitpunkt so gut wie keine Hindus
mehr in Afghanistan lebten und die wenigen noch zurückgebliebenen Hindus sich nicht zu
erkennen gaben. Wenn jedoch keine Hindus mehr vorhanden sind, bedarf es auch nicht
mehr des Ziels einer religiösen Säuberung des Landes von den Hindus, weil dieses Ziel
schon lange vorher - zum großen Teil schon vor der Machtergreifung durch die Taliban -
erreicht war.
Auch wenn das Auswärtige Amt in seinen Lageberichten immer wieder betonte, dass eine
Verfolgung der Hindus in Afghanistan aus religiösen Gründen nicht stattgefunden habe,
vgl. z.B. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 09. Mai 2001 und vom 30. September 1997,
so ist - neben der diplomatischen Zurückhaltung, von der derartige Berichte im Allgemeinen
geprägt sind - zu berücksichtigen, dass die Hindus auch nicht vornehmlich aus religiösen
Gründen einer Verfolgung ausgesetzt waren, sondern aus ethnischen und politischen.
Dieser Aspekt findet in den Auskünften des Auswärtigen Amtes jedoch keine Erwähnung.
Sind die Kläger vorverfolgt ausgereist, so ist ihnen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1
AufenthG zu gewähren, wenn sie im Falle einer Rückkehr in ihr Heimatland vor erneuter
Verfolgung nicht hinreichend sicher sind (sog. herabgestufter
Wahrscheinlichkeitsmaßstab). Nach der gegenwärtigen Auskunftslage kann für Hindus in
Afghanistan keine Sicherheitsgarantie abgegeben werden. Insbesondere die Regierung
Karsai und die internationalen Schutztruppen können die Sicherheit der Hindus und ihren
Schutz vor Übergriffen seitens Teilen der Bevölkerung oder diverser Mudschaheddin-
Gruppen nicht garantieren. Das gilt für das gesamte Land. Zwar sind Häufigkeit und
Intensität von Übergriffen gegenüber Hindus geringer geworden, ausgeschlossen werden
können sie jedoch keinesfalls. So wird von gravierenden Fällen von Diskriminierungen
gegen Hindus berichtet: die Handlungen richten sich gegen die Ausübung der religiösen
Sitten und Gebräuche der Hindus. Hindus werden auch nach dem Sturz der Taliban noch
Opfer illegaler Landnahme; ihre Häuser werden von Kommandeuren und deren
bewaffneter Gefolgschaft besetzt. Den rückkehrenden Hindus wird der Rückerhalt ihres
rechtmäßigen Grundbesitzes verweigert. Das geht einher mit massiven Einschüchterungen
gegen die rechtmäßigen Eigentümer. Auch heute noch kommen Hindu-Familien auf Grund
des Verlustes ihrer Häuser und Geschäfte häufig nur in den wenigen noch existierenden
Tempeln unter und leben dort unter äußerst schwierigen Bedingungen. Selbst dort sind sie
nicht sicher, wie der Anschlag mit einer Handgranate auf einen Hindu-Tempel in L. in
Frühsommer 2003 belegt.
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Vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 03. November 2004 und vom 22. April 2004 sowie
Auskunft vom 09. Februar 2004 an VG Wiesbaden.
Auf Grund der in Afghanistan zu beobachtenden zunehmenden Paschtunisierung und (Re-
)Islamisierung stehen die Hindus außerdem in Gefahr, Ziel einer groß angelegten religiös
motivierten Verfolgung zu werden.
Vgl. Danesch, Gutachten vom 18. November 2003 und vom 07. November 2003 an VG
Wiesbaden.
Die geschilderten Gefahren gehen nicht nur von der Bevölkerung im Allgemeinen aus,
vgl. Danesch, Gutachten vom 18. November 2003 an VG Wiesbaden,
sondern insbesondere von den Lokalherrschern, Gouverneuren und den örtlichen
Kommandanten. Zum Teil sind diese im Wesentlichen mit den früheren Angehörigen und
Führern der Mudschaheddin-Gruppen und/oder der Taliban identisch. Auch der Umstand,
dass im Einzelfall auf Grund der geänderten politischen Verhältnisse in Afghanistan keine
Gruppen- bzw. Personenidentität hinsichtlich des Verfolgungssubjektes vorliegt, steht der
Anwendung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes für die Gefahr erneuter
politischer Verfolgung nicht entgegen. Es ist nicht erforderlich, dass die drohende
Verfolgung zwingend von denselben Verfolgungssubjekten zu erwarten ist. Allerdings führt
eine situationsbedingte Vorverfolgung nur bei Gefahr der Wiederholung einer gleichartigen
Verfolgung zur Anwendung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 08. Februar 1983 - 9 C 218.81 -, Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr.
43.
Dies ist nach der Rechtsprechung des BVerwG dann anzunehmen, wenn bei einer am
Gedanken der Zumutbarkeit der Rückkehr ausgerichteten wertenden Betrachtung ein
innerer Zusammenhang zwischen erlittener Verfolgung und der mit dem Asylbegehren
geltend gemachten Gefahr erneuter Verfolgung dergestalt bestünde, dass bei Rückkehr mit
einem Wiederaufleben der ursprünglichen Verfolgung zu rechnen wäre oder nach den
gesamten Umständen typischerweise das erhöhte Risiko der Wiederholung einer
gleichartigen Verfolgung bestünde.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Februar 1997 - 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97.
Ein derartiger innerer Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung durch die
Mudschaheddin-Gruppierungen und später durch die Taliban und zu befürchtender
Verfolgung durch die derzeitigen Machthaber ist nach Auffassung der Kammer im
vorliegenden Fall anzunehmen. Denn die Ursache für die Verfolgung ist in beiden Fällen
die gleiche: die Triebfeder ist für den Vorverfolger wie den potentiellen Verfolger mithin die
gleiche, nämlich die unüberwindliche Feindschaft zu den verhassten, und aus ihrer Sicht
gottlosen Hindus.
Wegen des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG war die in
dem angefochtenen Bescheid ausgesprochene Abschiebungsandrohung, die Afghanistan
als alleinigen Zielstaat einer Abschiebung namentlich bezeichnet, aufzuheben.
Einer Entscheidung zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG bedarf es nicht mehr, § 31 Abs. 3 Satz 2
Nr. 1 und 2 AsylVfG.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 83 b Abs. 1 AsylVfG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in
Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung.