Urteil des VG Gelsenkirchen vom 12.02.2003
VG Gelsenkirchen: beendigung, entlassung, verwaltungsakt, körperliche unversehrtheit, unbestimmte dauer, rechtsgrundlage, allgemeines verwaltungsrecht, auflösende bedingung, gefährdung, firma
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 17 K 6037/01
Datum:
12.02.2003
Gericht:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen
Spruchkörper:
17. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
17 K 6037/01
Tenor:
Der Bescheid des Beklagten vom 00.00.0000 und der
Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung B. vom 00.00.0000 werden
aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig
vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden
Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung
Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
T a t b e s t a n d :
1
Die Beteiligten streiten um die Entlassung der Kläger aus dem Zeugenschutzprogramm
des Landes Nordrhein-Westfalen.
2
Am 00.00.0000 wies im Rahmen eines Strafverfahrenstermins, in dem der Kläger zu 1.
als Zeuge auftrat, der Vorsitzende Richter fälschlicherweise darauf hin, dass sich der
Kläger bereits im Zeugenschutzprogramm des Landes Nordrhein-Westfalen befinde. Zu
dieser Zeit hatten allerdings erst Vorgespräche mit den Klägern stattgefunden und die
Gefährdungsanalyse war noch nicht endgültig abgeschlossen. Da nunmehr eine akute
Gefährdung nicht auszuschließen war, wurden die Kläger (einschließlich ihrer drei
Kinder) unverzüglich in das Zeugenschutzprogramm aufgenommen und unmittelbare
Schutzmaßnahmen ergriffen.
3
Am 00. und 00.00.0000 fanden Gespräche mit den Klägern statt, in denen ihnen die
Regularien des Zeugenschutzes dargelegt wurden. Die Kläger unterschrieben am
00.00.0000 die Allgemeine Belehrung „Zeugenschutz". Eine Durchschrift hiervon
erhielten sie aus Sicherheitsgründen nicht.
4
Die Umsiedlung der Kläger geschah anfangs ohne nennenswerte Probleme. Im
weiteren Verlauf der Zeugenschutzmaßnahmen am neuen Wohnort kam es dann jedoch
zu Unstimmigkeiten zwischen den Beteiligten:
5
Der Kläger zu 1. führte aufgrund eigener Bemühungen Anfang 2000
Vorstellungsgespräche, u.a. bei der Firma I. , ohne im Voraus die zuständige
Zeugenschutzdienststelle zu informieren. Nachdem der Zeugenschutz davon erfahren
hatte und Schutzmaßnahmen veranlasst worden waren, nahm der Kläger zu 1. am
00.00.0000 die Arbeit bei der Firma I. auf. Der Kläger zu 1. wurde mündlich auf die
Beachtung der Absprachen und auf eventuelle Konsequenzen bei deren Missachtung
hingewiesen.
6
Da der Kläger zu 1. den Anforderungen in der Akkordabteilung der Firma I. auf Dauer
nicht genügte, kündigte er zum 00.00.0000 und begann im 0000 bei der Zeitarbeitsfirma
U. ein neues Arbeitverhältnis. Hierüber wurde die Zeugenschutzdienststelle erst zwei
Wochen nach Aufnahme der Arbeit informiert. Daraufhin wurden die Kläger nochmals in
Gesprächen sowie schriftlich über das Zeugenschutzprogramm und die daraus
resultierenden Rechte und Pflichten belehrt. Die Zeugenschutzstelle nahm Kontakt zum
neuen Arbeitgeber auf, um im Nachhinein Schutzmaßnahmen zu ergreifen.
7
Im Mai/Juni 0000 erhielt der Kläger zu 1. zwei Schreiben von Inkassounternehmen aus
I1. und C. . Er informierte daraufhin die zuständige Zeugenschutzstelle E. . Woher die
Inkassounternehmen trotz Datensperrung an die Adresse der Kläger gekommen waren,
konnte nicht geklärt werden.
8
Im Zuge der Beitreibung einer Forderung der Arbeitsverwaltung gegen den Kläger
erfolgte am 00.00.0000 ein fruchtloser Vollstreckungsversuch des Vollziehungsbeamten
unter der Wohnanschrift der Kläger und im Anschluss daran eine Kontopfändung. Den
erst später informierten Beamten des Zeugenschutzes gelang es Ende August 0000
dann, eine Ratenzahlungsvereinbarung zu erreichen, so dass die Kontofreigabe
erfolgte.
9
Am 00.00.0000 stellte sich der Kläger zu 1. in der Justizvollzugsanstalt F. zum
Strafantritt. Bereits am 00.00.0000 erhielt er die Genehmigung zum Freigang und zur
Aufnahme eines freien Beschäftigungsverhältnisses bei der Firma U1. .
10
Mit Schreiben vom 00.00.0000 entließ der Beklagte die Kläger und ihre Kinder aus dem
Zeugenschutzprogamm. Am 00.00.0000 wurde dieses Schreiben den Klägern in deren
Wohnung durch zwei örtliche Zeugenschutzverbindungsbeamte ausgehändigt und es
wurden die zur Entlassung führenden Gründe mündlich dargelegt.
11
Die Kläger meldeten mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 00.00.0000
erhebliche Bedenken gegen die Entlassung aus dem Zeugenschutzprogramm an. Es
sei unstreitig, dass nach wie vor eine Gefahrenlage für die Familie vorliege. Es müsse
mit einer Rache- oder Bestrafungsaktion der Gebrüder E1. , insbesondere des jüngeren
Bruders, gerechnet werden, zumal zwischen dem jüngeren Bruder und dem Kläger zu 1.
in der Vergangenheit eine enge Beziehung bestanden habe. Die
Zeugenschutzverpflichtung sei von den Klägern in dem zu der damaligen Zeit
herrschenden „Durcheinander" unterschrieben worden, eine Durchschrift hätten sie aber
nicht erhalten. Zudem sei es zu persönlichen Differenzen zwischen dem Kläger zu 1.
und dem für ihn zuständigen Beamten vor Ort gekommen.
12
Der Beklagte stellte sich mit Schreiben vom 00.00.0000 auf den Standpunkt, dass zwar
kein Rechtsanspruch auf die Gewährung von Zeugenschutz bestehe, jedoch die
positive Entscheidung über die Gewährung von Zeugenschutz als begünstigender
Verwaltungsakt gewertet werde. Dieser sei durch das Schreiben vom 00. 00.0000
widerrufen worden. Das anwaltliche Schreiben vom 00.00. werde als Widerspruch
gewertet, so dass veranlasst worden sei, die noch nicht aufgehobenen Sperrvermerke
zunächst weiter aufrecht zu erhalten.
13
Mit Schreiben vom 00.00.000 wurde die sofortige Vollziehung der
Entlassungsverfügung angeordnet. Zur Begründung wurde ausgeführt: Um wirksamen
Zeugenschutz neu aufzubauen, sei eine erneute Umsiedlung in ein anderes
Bundesland, verbunden mit erheblichen Kosten, nötig. Das bisherige Verhalten der
Kläger rechtfertige jedoch die Annahme, dass auch neu getroffene Maßnahmen
unterlaufen und damit wirkungslos würden. Im Interesse einer sparsamen
Haushaltsführung könne es nicht hingenommen werden, dass
Zeugenschutzmaßnahmen bis zu einer endgültigen Entscheidung in der Hauptsache
durchgeführt würden.
14
Am 00.00.0000 haben die Kläger im zugehörigen Verfahren die Gewährung vorläufigen
Rechtsschutzes beantragt. Im Erörterungstermin am 00.00.0000 erklärte der Beklagte,
dass bis zu einer die erste Instanz abschließenden Entscheidung Zeugenschutz in der
Form gewährt werde, dass passive Maßnahmen aufrechterhalten blieben. Daraufhin
erklärten die Beteiligten hinsichtlich des Eilverfahrens den Rechtsstreit in der
Hauptsache für erledigt.
15
Mit Widerspruchsbescheid vom 00.00.0000, zugestellt am 00.00.0000, wies die
Bezirksregierung B. den Widerspruch zurück. Zur Begründung wurde angeführt, der
Widerspruchsführer und seine Ehefrau hätten durch eigenmächtiges Verhalten gegen
ihre im Rahmen des Zeugenschutzes obliegenden Pflichten verstoßen. Dadurch seien
die zu ihrem Schutz ergriffenen Maßnahmen unterlaufen worden; ein wirksamer
Zeugenschutz sei nicht mehr gewährleistet. Das bisher gezeigte Verhalten des Klägers
zu 1. rechtfertige die Annahme, dass er auch in Zukunft nicht gewillt sein werde, in dem
für einen wirksamen Zeugenschutz erforderlichen Maße mitzuwirken und sich an die
entsprechenden Vereinbarungen zu halten. Abschließend wurde darauf hingewiesen,
dass bei einer konkreten Gefahr für Leib und Leben eine Verpflichtung der Polizei zur
Gefahrenabwehr unabhängig von der Entlassung aus dem Zeugenschutzprogramm
bestehe.
16
Am 00.00.0000 haben die Kläger Klage erhoben. Sie tragen vor, dass ihre Verfehlungen
ausschließlich im Zusammenhang mit der Suche nach dem Arbeitsplatz entstanden
seien. Vor einer Schuldenbereinigung hätten sie sich nicht „gedrückt". Da sie von
Arbeitslosengeld bzw. Sozialhilfe gelebt hätten, hätten von dem Geld keine Schulden
bezahlt werden können. Die ihnen vorgeworfenen Verhaltensweisen verstießen nicht in
so gravierender Form gegen die Vorschriften des Zeugenschutzprogrammes, dass eine
Entlassung gerechtfertigt wäre. Die Gefahrenlage bestehe nach wie vor.
17
Die Kläger beantragen,
18
den Bescheid des Beklagten vom 00.00.0000 und den Widerspruchsbescheid der
Bezirksregierung B. vom 00.00.0000 aufzuheben.
19
Der Beklagte beantragt,
20
die Klage abzuweisen.
21
Er bezieht sich zur Begründung auf den Bescheid vom 00.00.0000, die Anordnung der
sofortigen Vollziehung vom 00.00.0000, den Widerspruchsbescheid vom 00.00.0000
sowie seine Stellungnahme im zugehörigen Eilverfahren.
22
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge
sowie die Prozessakte einschließlich des Eilverfahrens Bezug genommen.
23
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
24
Das Rubrum ist von Amts wegen berichtigt worden. Die Klage ist als Anfechtungsklage
nicht, wie in der Klageschrift bezeichnet, gegen das Land Nordrhein-Westfalen, sondern
gemäß § 78 Abs. 1 Nr. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - in Verbindung mit §
5 Abs. 2 S. 1 des Ausführungsgesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen zur VwGO
gegen das Polizeipräsidium E. zu richten.
25
I. Die Klage ist zulässig.
26
Der Verwaltungsrechtsweg gemäß § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO ist gegeben. Bei der
Entlassung aus dem Zeugenschutzprogramm handelt es sich um eine öffentlich-
rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art, welche durch Bundesgesetz nicht
einem anderen Gericht zugewiesen worden ist. Die Entlassung aus dem
Zeugenschutzprogramm ist eine polizeiliche Maßnahme, für deren Überprüfung der
Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist.
27
Insbesondere kommt eine Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte im Sinne des § 23
Abs. 1 Satz 1 des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz nicht in
Betracht, da es sich bei der streitgegenständlichen Entlassung aus dem
Zeugenschutzprogramm des Landes Nordrhein-Westfalen nicht um eine Maßnahme auf
dem Gebiet der Strafrechtspflege („Justizverwaltungsakt") handelt. Der hier in Rede
stehende Zeugenschutz wurde nämlich nicht nach den Regeln der
Strafprozessordnung, welche im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Auftreten des
Zeugen im Strafverfahren stehen und vor allem den Schutz des Zeugen bei der
richterlichen Vernehmung im Strafverfahren im Blick haben,
28
vgl. hierzu insbesondere das Gesetz zum Schutz von Zeugen bei Vernehmungen im
Strafverfahren vom 30. April 1998 (BGBl. I 1998, 820), dazu Caesar, NJW 1998, 2313 ff,
29
sondern nach Maßgabe der
30
Gemeinsamen Richtinien der Innenminister/-senatoren und der Justizminister/-
senatoren der Länder zum Schutz gefährdeter Zeugen, Gemeinsamer Runderlass des
Innenministeriums, des Justizministeriums und des Finanzministeriums in der Fassung
vom 16. Mai 1997 (MinBl. NRW 1997, 624) - Gemeinsame Richtlinien -
31
gewährt und umfasst vor allem - in den Gemeinsamen Richtlinien im Einzelnen
aufgeführte - Maßnahmen, die unabhängig vom Stadium des Strafverfahrens und über
32
dessen Abschluss hinaus bis zum Wegfall der Gefährdung greifen. In diesem Sinne
qualifizieren die Gemeinsamen Richtlinien folgerichtig die Zeugenschutzmaßnahmen
als auf dem Polizeigesetz des Landes Nordrhein-Westfalen - PolG NRW - fußende
Maßnahmen der Gefahrenabwehr, deren Ziel der Schutz gefährdeter Personen vor
psychischen und physischen Einwirkungen für die Dauer der Gefährdung ist.
Vgl. zum präventiven Charakter des Zeugenschutzes nach diesen Richtlinien im
Einzelnen Urteil der Kammer vom 8. Oktober 1997 - 17 K 6872/96 -, NWVBl. 1998, 206,
s. dazu auch Vahle, DVP 1999, 263.
33
Bestätigt wird diese Sicht durch einen Blick auf das neue „Gesetz zur Harmonisierung
des Schutzes gefährdeter Zeugen" (Zeugenschutzharmonisierungsgesetz - ZSHG -)
vom 11. Dezember 2001 (BGBl. I 2001, 3510). Dieses Gesetz, welches den bislang auf
den o.g. Gemeinsamen Richtlinien gestützten Zeugenschutz nunmehr auf eine formelle
bundesgesetzliche Grundlage stellt, ansonsten aber insbesondere im Hinblick auf die in
§ 1 Abs. 1 ZSHG dargestellte Zielrichtung des Gesetzes, nämlich Leib, Leben,
Gesundheit, Freiheit oder wesentliche Vermögenswerte von Zeugen zu schützen, an die
bisherige Regelung anknüpft, ist ausweislich der Gesetzesmaterialien ebenfalls dem
Gefahrenabwehrrecht zugeordnet.
34
Vgl. dazu Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses zum Gesetzentwurf
des Bundesrates - BT-Drs. 14/6467 -vom 27. Juni 2001, wonach das ZSHG Regelungen
der Gefahrenabwehr trifft und (nur) im Hinblick auf die Gesetzgebungskompetenz des
Bundes eine Annexkompetenz zur Regelung des gerichtlichen Strafverfahrens nach Art.
74 Abs. 1 Nr. 1 des Grundgesetzes - GG - angenommen wird; ebenso Soiné/Engelke,
NJW 2002, 470, 472.
35
Statthafte Klageart ist die Anfechtungsklage gem. § 42 Abs. 1 VwGO. Die am
00.00.0000 erfolgte Entlassung der Kläger aus dem Zeugenschutzprogramm ist ein
selbständig anfechtbarer Verwaltungsakt (§ 35 S. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz NRW
[VwVfG NRW]). Dies folgt daraus, dass die Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm
als Dauerverwaltungsakt zu qualifizieren ist, dessen Rechtsfolgen nur durch Aufhebung
dieses Verwaltungsaktes beseitigt werden können.
36
Die Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm ist ein Verwaltungsakt (§ 35 S. 1 VwVfG
NRW).
37
Vgl. bereits Urteil der Kammer vom 8. Oktober 1997, a.a.O.
38
Insbesondere erschöpft sich das Zeugenschutzprogramm nicht in der Gewährung von
Realakten in Form einzelner Zeugenschutzmaßnahmen. Bei der Entscheidung über die
Aufnahme in das Programm handelt es sich vielmehr um eine eigenständige
Maßnahme mit Regelungscharakter. Vor Aufnahme der Kläger (und ihren drei Kindern)
in das Zeugenschutzprogramm des Landes Nordrhein-Westfalen Ende August 0000
wurden mit ihnen mehrere Vorgespräche geführt, in denen ihnen die „Regularien des
Zeugenschutzes unter Einbindung bestehender und zukünftiger Problematiken"
ausführlich dargelegt wurden. Im Anschluss unterschrieben die Kläger die Allgemeine
Belehrung „Zeugenschutz", welche sich im Einzelnen zu Zielen, den einzelnen
Zeugenschutzmaßnahmen und den Voraussetzungen für die Beendigung des
Zeugenschutzprogramms verhielt. Den Klägern wurde damit vor Augen gehalten,
welche weitreichenden und einschneidenden Folgen für ihre weitere persönliche
39
Lebensführung die Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm hat. Damit handelte es
sich sowohl objektiv als auch nach dem Willen der Behörde und unter Berücksichtigung
des Empfängerhorizonts der Kläger bei der Aufnahme in das Programm um eine
Maßnahme mit Regelungscharakter, mithin um einen Verwaltungsakt. Dessen
Rechtsgrundlage ist in der materiellen Befugnisnorm des § 8 Abs. 1 PolG NRW i.V.m.
den Gemeinsamen Richtlinien zu sehen.
Vgl. bereits Urteil der Kammer vom 8. Oktober 1997, a.a.O., a. A. Ohström, NWVBl.
1999, 72.
40
Es ist anerkannt, dass diese Norm nicht nur für die Polizei eine
Ermächtigungsgrundlage für Eingriffe in (Grund-)Rechte des Bürgers, sondern aufgrund
ihres Individualcharakters für den Bürger auch eine Anspruchsgrundlage für deren
Schutz darstellt.
41
Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 2. Aufl. 1996, Rn. F 72 m.w.N.
42
Vor dem Hintergrund der weitreichenden Folgen, welche mit den
Zeugenschutzmaßnahmen für die Betroffenen und ggf. auch für Dritte, nicht zuletzt den
Beschuldigten, verbunden sind,
43
vgl. die Gesetzesbegründung zum ZSHG, BT-Drs. 14/6467, 8,
44
überzeugt es nicht, unter Hinweis auf einen (im Hinblick auf Existenz und Reichweite
umstrittenen) Grundrechtsverzicht, den die Betroffenen erklärt hätten, diese z.T.
massiven Auswirkungen des Zeugenschutzprogrammes zu vernachlässigen und die
(bloße) Aufgabenzuweisungsnorm des § 1 Abs. 1 S. 1 PolG NRW als Rechtsgrundlage
heranzuziehen.
45
So aber Ohström, NWVBl. 1999, 72 f.
46
Die mithin als ein auch auf die polizeirechtliche Generalklausel gestützter
Verwaltungsakt anzusehende Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm stellt ferner
einen Dauerverwaltungsakt dar. Ein Dauerverwaltungsakt ist ein Verwaltungsakt, der
ein auf (unbestimmte) Dauer angelegtes Rechtsverhältnis zur Entstehung bringt und
sich so ständig neu aktualisiert.
47
Vgl. zur Definition Oberverwaltungsgericht des Landes Nordrhein- Westfalen - OVG
NRW -, Urteil vom 26. August 1987 - 6 A 1810/84 -, NVwZ- RR 1988, 1; Kopp/Schenke,
VwGO, 13. Auflage 2003, § 113 Rn. 43; vgl. auch die Gesetzesbegründung zu § 45 Abs.
3 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB X): „Ein Verwaltungsakt mit
Dauerwirkung liegt vor, wenn sich der Verwaltungsakt nicht in einem einmaligen Ge-
oder Verbot oder in einer einmaligen Gestaltung der Rechtslage erschöpft, sondern ein
auf Dauer berechnetes, aber in seinem Bestand von dem Verwaltungsakt abhängiges
Rechtsverhältnis begründet oder inhaltlich verändert...", BT-Drs. 8/2034, 34.
48
Davon ausgehend ist durch die Entscheidung über das „Ob" des Zeugenschutzes (d.h.
mit der Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm) ein auf Dauer angelegtes
Rechtsverhältnis begründet worden, welches sich dadurch aktualisiert, dass einzelne
Zeugenschutzmaßnahmen, mithin das „Wie" (wie etwa Tarnidentität, Wohsitzwechsel
oder sonstige Abschirmmaßnahmen), ergriffen und während der Dauer des Programms
49
ggf. aufrechterhalten, ergänzt oder geändert werden. Insofern unterscheidet sich diese
Konstruktion beispielsweise von der rechtlichen Behandlung der Gewährung von
Sozialhilfe, welche - da immer nur im Rahmen des jeweiligen Bedarfes zu leisten ist -
kein Dauerverhältnis begründet, sondern in Form von Kettenverwaltungsakten erfolgt,
die zeitlich jeweils für den laufenden Monat erneut die Bewilligung aussprechen, und
bei der demzufolge bei Einstellung der Leistungen eine Verpflichtungssituation vorliegt.
Aus diesem Befund, dass es sich bei der Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm um
einen Dauerverwaltungsakt handelt, folgt, dass auch die Beendigung des
Zeugenschutzprogramms als Ganzes nur durch einen - anfechtbaren - Verwaltungsakt
(actus contrarius) geschehen kann. Etwas anderes würde nur gelten, wenn der
Dauerverwaltungsakt mit einer (auflösenden) Bedingung oder Befristung (§ 36 Abs. 2
VwVfG NRW) versehen worden wäre, weil dann bei Bedingungseintritt der
Verwaltungsakt ohne weiteres keine Rechtswirkung mehr entfalten würde. Dafür ist
vorliegend aber nichts ersichtlich. Vielmehr zeigt die den Klägern zur Kenntnis
gebrachte und von ihnen unterschriebene Belehrung „Zeugenschutz" in Nr. 4
(Beendigung des Zeugenschutzes), dass auch die Behörde davon ausgeht, dass es
eines ausdrücklichen Beendigungsaktes bedarf, wenn es dort heißt: „Die
Zeugenschutzmaßnahmen können beendet werden, wenn ..."
50
Ist demnach der Dauerverwaltungsakt nicht mit einer Bedingung versehen worden, kann
seine Rechtswirkung nur durch einen Aufhebungsakt beseitigt werden. Die Aufhebung
eines Verwaltungsaktes geschieht in der Regel durch Rücknahme oder Widerruf nach
den allgemeinen Regelungen der §§ 48 und 49 des Verwaltungsverfahrensgesetzes
Nordrhein-Westfalen -VwVfG NRW -, ggf. auch nach spezialgesetzlicher Vorschrift.
Immer handelt es sich aber bei einem solchen Aufhebungsakt um einen Verwaltungsakt.
51
Dieses Ergebnis, wonach die Beendigung des Zeugenschutzprogrammes durch einen
Verwaltungsakt zu geschehen hat, wird gestützt durch die Gemeinsamen Richtlinien
und die Allgemeine Belehrung „Zeugenschutz": Nach Nr. 6.1 der Gemeinsamen
Richtlinien werden nach einer Gefährdungslage die Zeugenschutzmaßnahmen
eingeleitet, d.h. der Zeuge in das Zeugenschutzprogramm aufgenommen. Im folgenden
werden dann verschiedene einzelne Zeugenschutzmaßnahmen durchgeführt, welche
fortlaufend zu überprüfen sind (Nr. 7.1 und 7.4 der Gemeinsamen Richtlinien).
Schließlich fällt eine Entscheidung über die (gesamte) Beendigung der
Zeugenschutzmaßnahmen, welche aktenkundig zu machen ist (Nr. 7.5 und 7.6 der
Gemeinsamen Richtlinien). Diese Systematik zeigt, dass es sich bei der Beendigung
des Zeugenschutzprogrammes um eine behördliche Entscheidung mit Verwaltungsakts-
Qualität handelt; dies wird im Übrigen bestätigt durch die oben erwähnte Regelung in
Nr. 4 der Allgemeine Belehrung „Zeugenschutz", die von einem einen eigenständigen
Beendigungsakt ausgeht.
52
Hierzu fügt sich schließlich - worauf ergänzend hingewiesen wird -, dass auch das
zwischenzeitlich in Kraft getretene und an die bisherige Regelung der Gemeinsamen
Richtlinien anknüpfende ZSHG die Beendigung des Zeugenschutzprogramms als einen
Verwaltungsakt ansieht. Dies ergibt sich aus § 6 Satz 1 Alt. 1 i.V.m. § 1 Abs. 1 und 4
sowie § 2 Abs. 3 ZSHG, wonach die Beendigung von einzelnen
Zeugenschutzmaßnahmen wie auch des Zeugenschutzes insgesamt im Ermessen der
Zeugenschutzdienststelle steht; ein Ermessen kann aber nur durch Verwaltungsakt
ausgeübt werden. Die Gesetzesmaterialien zum ZSHG bestätigen diese Sicht.
Besonders deutlich wird dies in der (allerdings in dieser Ausführlichkeit nicht Gesetz
53
gewordenen) Fassung des Gesetzentwurfes des Bundesrates vom 23. März 1999 (BT-
Drs. 14/638). Dort heißt es in § 4 Abs. 1 Satz 2 des Entwurfes: „Die Entscheidung über
Beginn und Beendigung des Zeugenschutzes erfolgt nach pflichtgemäßem Ermessen."
Ist nach alledem die Entlassung aus dem Zeugenschutzprogramm ein Verwaltungsakt,
ist richtige Klageart die Anfechtungsklage i.S.d. § 42 Abs. 1 VwGO.
54
Ein nach § 68 Abs. 1 S. 1 VwGO erforderliches Vorverfahren hat im Hinblick auf beide
Kläger, und zwar auch hinsichtlich der Klägerin zu 2., stattgefunden. Das als
Widerspruch zu wertende Schreiben der Prozessbevollmächtigten der Kläger vom
00.00.0000 verhält sich ungeachtet der ungenauen Formulierung zu Beginn des
anwaltlichen Schriftsatzes („Entlassung meines Mandanten aus dem
Zeugenschutzprogramm") in der Begründung nämlich ausdrücklich zur „Entlassung der
Familie D. aus dem Zeugenschutzprogramm des Landes NRW" und stellt damit auch
die Entlassung der Klägerin zu 2. zur Überprüfung. Auch der Widerspruchsbescheid
betrifft trotz der namentlichen Erwähnung nur des Klägers zu 1. im Tenor des
Bescheides nicht nur diesen, sondern - wie sich aus der Bezugszeile sowie dem Tenor
der Bescheides im Übrigen ergibt - die Entlassung des Klägers zu 1. „und seiner
Familie" bzw. „und seiner Frau", mithin auch die Klägerin zu 2.
55
II. Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 00.00.0000 und der
Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung B. vom 00.00.000 sind rechtswidrig und
verletzen die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).
56
Es kann letztlich offenbleiben, auf welcher Rechtsgrundlage die Entlassung der Kläger
aus dem Zeugenschutzprogramm fußt. Denn alle in Betracht kommenden
Aufhebungsnormen, welche hinsichtlich der Voraussetzungen auf Tatbestandsseite im
vorliegenden Fall, in dem ein den Zwecken des Zeugenschutzprogrammes
entgegenstehendes Fehlverhalten der Betroffenen im Raume steht, im Wesentlichen
vergleichbar sind, räumen auf Rechtsfolgenseite dem Beklagten ein Ermessen ein,
welches vorliegend nicht ausgeübt worden ist.
57
Als Rechtsgrundlage für die Beendigung des Zeugenschutzprogramms kommen
insoweit die allgemeinen Vorschriften über den Widerruf (§ 49 VwVfG NRW) bzw. die
Rücknahme (§ 48 VwVfG NRW) eines Verwaltungsaktes sowie möglicherweise -
spezialgesetzlich - die polizeirechtliche Generalklausel i.V.m. den Gemeinsamen
Richtlinien sowie Nr. 4 der Belehrung „Zeugenschutz" („Beendigung des
Zeugenschutzprogrammes") in Betracht. Hingegen scheidet ein Rückgriff auf § 1 Abs. 4
i.V.m. Abs. 1 ZSHG zur Beendigung des Zeugenschutzprogrammes aus, weil das
ZSHG im entscheidungserheblichen Zeitpunkt noch nicht in Kraft getreten war. Denn
entscheidungserheblicher Zeitpunkt ist bei der hier vorliegenden Anfechtungsklage der
Zeitpunkt des Erlasses des das behördliche Verfahren abschließenden
Widerspruchsbescheides vom 00.00.0000. Das ZSHG ist hingegen erst am 1. Januar
2002 in Kraft getreten.
58
Wird davon ausgegangen, dass die Aufhebung des Zeugenschutzes speziell geregelt
ist durch die die Vorschriften des allgemeinen Polizeirechts konkretisierenden -
Nummern 7.5 und 7.6 der Gemeinsamen Richtlinien i.V.m. Nr. 4 der Belehrung
„Zeugenschutz", dann richtet sich die streitige Maßnahme nach der Regelung in Nr. 4
dieser Belehrung. Danach können Zeugenschutzmaßnahmen beendet werden, wenn
59
- keine Gefährdung mehr vorliegt
60
- der Zeuge Handlungen vornimmt, die seine Sicherheit gefährden
61
- er zu seinem persönlichen Schutz getroffene oder zu treffende Maßnahmen ab- lehnt
62
- er seine freiwillige Mitwirkung verweigert
63
- er Straftaten verübt
64
- er sich weigert, eine zumutbare Beschäftigung aufzunehmen
65
- er sich sonst absprachwidrig verhält
66
- Tatsachen bekannt werden, die eine Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm
verhindert hätten
67
- er eine Tätigkeit als Vertrauensperson (VP) aufnimmt oder fortführt.
68
Als Beendigungsgründe kommen vorliegend aufgrund des Verhaltens der Kläger
insbesondere ein absprachewidriges Verhalten bzw. das Bekanntwerden von
Tatsachen, die eine Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm verhindert hätten, in
Betracht; bei Vorliegen dieser tatbestandlichen Voraussetzungen wird dann auf
Rechtsfolgenseite der Behörde ein Ermessen zur Beendigung des
Zeugenschutzprogramms eingeräumt.
69
Lässt man hingegen vor dem Hintergrund, dass nur auf untergesetzlicher, nicht aber auf
materiell-gesetzlicher Ebene eine ausdrückliche Aufhebungsvorschrift zur Beendigung
des Zeugenschutzprogramms besteht, die oben genannte Regelung in Nr. 4 der
Belehrung „Zeugenschutz" als Anknüpfungspunkt für die Aufhebung des
Verwaltungsaktes nicht ausreichen, ist der Rückgriff auf die allgemeinen Normen zur
Aufhebung eines Verwaltungsaktes, d.h. auf § 48 oder § 49 VwVfG NRW, eröffnet.
Dabei ist ungeklärt, ob in den Fällen, in denen es - wie hier - um die Frage der
Aufhebung eines ursprünglich rechtmäßigen und erst nach seinem Erlass rechtswidrig
gewordenen Dauerverwaltungsaktes geht, als Rechtsgrundlage § 48 VwVfG NRW
(Rücknahme) oder § 49 VwVfG NRW (Widerruf) heranzuziehen ist.
70
Wenn man unter Hinweis auf die Systematik der Aufhebungsnormen des VwVfG NRW
auch bei einem Dauerverwaltungsakt entscheidend darauf abstellt, wie sich die
Rechtslage bei Erlass des Verwaltungsaktes darstellte,
71
so Sachs in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl. 2001, § 44 Rn. 25, § 48 Rn. 59, 63
m.w.N. in Fn. 159; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Auflage 2000, § 11 Rn.
11 a.E.,
72
ist Rechtsgrundlage für die Beendigung des Zeugenschutzprogrammes § 49 VwVfG
NRW. Nach § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG NRW darf ein VA widerrufen werden, wenn
nachträglich Tatsachen eingetreten sind, aufgrund derer die Behörde berechtigt
gewesen wäre, den Verwaltungsakt nicht zu erlassen. Als eine solche nachträgliche
Tatsache kommt vorliegend das - möglicherweise den Zwecken des
Zeugenschutzprogramms zuwiderlaufende - (Fehl- )Verhalten der Kläger in Betracht; auf
73
Rechtsfolgenseite wäre der Behörde dann ein Ermessen zur Beendigung des
Zeugenschutzprogrammes eingeräumt.
Stellt man hingegen in den Fällen, in denen ein Dauersachverhalt geregelt wird, den
rechtswidrig gewordenen Verwaltungsakt einem von Anfang an rechtswidrigen
Verwaltungsakt gleich,
74
vgl. OVG NRW, Urteil vom 26. August 1987 - 6 A 1910/84, NvWZ-RR 1988, 1 f, Leitsatz:
„Ein bei seinem Erlass rechtmäßiger Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, der infolge einer
nachträglichen Änderung der Sachlage rechtswidrig wird, kann nach § 48 VwVfG NRW
mit Wirkung für die Vergangenheit ab Eintritt der Rechtswidrigkeit zurückgenommen
werden"; ebenso Bundesverwaltungsgericht - BVerwG -, Urteil vom 16.11.1989 - 2 C
43.87 - BVerwGE 84, 111,113; OVG NRW, Urteil vom 15. Januar 1993 - 12 A 498/90 -
NWVBl. 93,270, 271,
75
ist § 48 VwVfG NRW Rechtsgrundlage für die Beendigung des
Zeugenschutzprogrammes. Nach Abs. 1 dieser Vorschrift kann ein (vom Beginn an)
rechtswidriger Verwaltungsakt zurückgenommen werden. Wenn wegen des
klägerischen Verhaltens die Voraussetzungen für die Gewährung von (weiterem)
Zeugenschutz entfallen, handelt es sich demnach um einen rechtswidrigen (genauer:
rechtswidrig gewordenen) Verwaltungsakt, der nach Ermessensausübung durch den
Beklagen zurückgenommen werden kann.
76
Nach alledem ist - unabhängig davon, welche Rechtsgrundlage für einschlägig erachtet
wird - Voraussetzung für die Beendigung des Zeugenschutzprogrammes auf
Tatbestandsseite immer, dass ein dem Zweck des Zeugenschutzprogrammes
entgegenstehendes Fehlverhalten der Kläger vorliegt; Rechtsfolge ist dann jeweils ein
Ermessen der Behörde.
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Dieses Ergebnis korrespondiert auch - worauf ergänzend hingewiesen wird - mit den
Vorschriften des - nach den obigen Ausführungen vorliegend nicht anwendbaren -
ZSHG. Nach § 1 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 ZSHG können die Zeugenschutzmaßnahmen
beendet werden, wenn eine der in den Absätzen 1 bis 3 genannten Voraussetzungen
nicht vorlag oder nachträglich weggefallen ist, zu den Voraussetzungen zählt nach Abs.
1 neben dem Vorliegens einer Gefährdung insbesondere die Eignung für
Zeugenschutzmaßnahmen. Auch das ZSHG fordert also von der
Zeugenschutzdienststelle bei einem Wegfall der Voraussetzungen für die Gewährung
von Zeugenschutz eine Ermessensentscheidung im Hinblick auf die Beendigung des
Zeugenschutzprogrammes.
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In der Sache spricht nach Ansicht der Kammer einiges dafür, dass die tatbestandlichen
Voraussetzungen für eine Entlassung der Kläger aus dem Zeugenschutzprogramm
aufgrund ihres Fehlverhaltens erfüllt sind. Zwar liegt für die Kläger nach wie vor eine
abstrakte Gefahr für Leib und Leben wegen der 0000 im Strafverfahren erfolgten
Zeugenaussage des Klägers zu 1. und der in diesem Zusammenhang gegen ihn
geäußerten Drohungen durch die Gebrüder E1. vor. Dies haben die Kläger in der
mündlichen Verhandlung noch einmal dargelegt und wird vom Beklagten auch nicht
bestritten. Die Kläger haben jedoch nach Aufnahme in das Zeugenschutzprogramm ein
den Zwecken dieses Programmes zuwiderlaufendes Fehlverhalten an den Tag gelegt.
Im Zusammenhang mit der Arbeitsaufnahme hat der Kläger zu 1. es unterlassen, im
Vorfeld der eigenen Bemühungen zur Erlangung von Arbeit die Zeugenschutzstelle zu
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informieren. Ebenso hat er es unterlassen, nach der Kündigung bei I. und der erneuten
Arbeitsaufnahme bei der Firma U. die Zeugenschutzstelle zuvor zu informieren und
damit Punkt 3.1 der Allgemeinen Belehrung „Zeugenschutz" zuwider gehandelt, worin
es heißt: „Der Zeuge hat ... jeden Wechsel ... des Arbeitsplatzes .. vorher mit der
Zeugenschutzdienststelle abzustimmen." Ferner liegt ein Verstoß gegen Punkt 3.2. der
Zeugenschutzbelehrung vor, wonach erforderliche Kontakte zu Arbeitsämtern und
potentiellen Arbeitgebern durch den Zeugen nur nach Absprache mit der
Zeugenschutzdienststelle aufgenommen werden sollen. Die Kläger haben es zudem
unterlassen, rechtzeitig die Zeugenschutzdienststelle von der (bevorstehenden)
Vollstreckung zu unterrichten. Nach Angaben der Klägerin zu 2. im zugehörigen
Eilverfahren wurde erst 2 bis 3 Tage nach Erscheinen des Gerichtsvollziehers die
Zeugenschutzdienststelle in Kenntnis gesetzt, nach Angaben des Beklagten sogar noch
später anlässlich der Kontenpfändung. Auch von der Kontenpfändung erhielt die
Zeugenschutzdienststelle erst nach mehreren Tagen Kenntnis. Schließlich dürften die
Kläger Punkt 3.5 der Zeugenschutzbelehrung zuwider gehandelt haben. Dort heißt es:
„Der Zeuge hat sich zu bemühen, bezüglich einer Tilgung seiner Schulden bzw.
Verbindlichkeiten eine Einigung mit den Gläubigern unverzüglich herbeizuführen. Dies
ist insbesondere deshalb erforderlich, weil Gläubiger sich häufig privater Ermittler
bedienen, deren Tätigkeiten die Sicherheit des Zeugen beeinträchtigen können. Bei
entsprechender Unterlassung gefährdet der Zeuge seine weitere Teilnahme am
Zeugenschutzprogramm." Damit ist den Klägern vor Augen geführt worden, dass
insbesondere im Bereich der Schuldenregulierung ein besonders sorgfältiges Vorgehen
erwartet wird, woran es die Kläger vorliegend haben missen lassen.
Ob dieses von den Klägern auch eingeräumte Fehlverhalten von solchem Gewicht ist,
dass auf Tatbestandsseite die Voraussetzungen für eine Entlassung aus dem
Zeugenschutzprogramm vorliegen, kann letztlich allerdings offenbleiben. Denn der
Beklagte hat jedenfalls auf der Rechtsfolgenseite nicht die von ihm geforderte
Ermessensentscheidung getroffen (§ 39 Abs. 1 S. 3 VwVfG NRW). Danach soll die
Begründung von Ermessensentscheidungen auch die Gesichtspunkte erkennen lassen,
von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist.
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Weder das Schreiben des Beklagten vom 00.00.0000, mit dem die Kläger zusammen
mit ihren drei Kindern aus dem Zeugenschutzprogramm des Landes Nordrhein-
Westfalen entlassen worden sind, noch der Widerspruchsbescheid enthalten
Ermessenserwägungen im Hinblick darauf, ob trotz des festgestellten Fehlverhaltens
ggf. ein Weiterverbleib der Kläger im Zeugenschutzprogramm in Betracht kommt. Zwar
wurde im Widerspruchsbescheid ausführlich begründet, warum aus Sicht der Behörde
die Kläger ungeeignet für das Zeugenschutzprogramm sind. Es ist aber nicht zu
erkennen, dass davon ausgehend gesehen worden wäre, dass dann - in einem zweiten
Schritt - die Entlassung aus dem Zeugenschutzprogramm im Ermessen der Behörde
steht; mit dem Für und Wider des Verbleibs der Kläger im Zeugenschutzprogramm (trotz
des Fehlverhaltens) hat sich der Beklagte nicht mehr eigenständig auseinandergesetzt.
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Eine Abwägung getroffen hat der Beklagte nur in anderem Zusammenhang, und zwar
bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung der Entlassung aus dem
Zeugenschutzprogramm im Schreiben vom 00.00.0000: Hier wurde das Rechtsgut auf
körperliche Unversehrtheit in Beziehung gesetzt zu der fehlenden Mitwirkung des
Klägers zu 1. und mit dem öffentlichen Interesse an einer sparsamen Haushaltsführung.
Diese im Rahmen des § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO zur Begründung eines besonderen
Interesses an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes getroffene Abwägung
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kann wegen ihrer völlig anderen Zielrichtung aber nicht auf die hier erforderliche
Ermessensausübung übertragen werden. Soweit diese Erwägungen nochmals im
internen Vorlageschreiben an die Widerspruchsbehörde vom 00.00.0000 aufgegriffen
wurden, sind sie ersichtlich nicht Bestandteil des Widerspruchsbescheides vom
00.00.0000 geworden.
Dass der Beklagte nicht erkannt hat, dass bei Vorliegen der tatbestandlichen
Voraussetzungen für eine Beendigung des Zeugenschutzprogrammes noch
Ermessenserwägungen auf Rechtsfolgenseite stattzufinden haben, wird bestätigt durch
den Schriftsatz des Beklagten vom 00.00.0000. Anders als noch im internen Vermerk
vom 00.00.0000 und im Schreiben des Beklagten vom 00.00.0000, in denen die
Beendigung des Zeugenschutzprogrammes als Widerruf eines begünstigenden
Verwaltungsaktes angesehen wurde, geht der Beklagte im Schriftsatz vom 00.00.0000
davon aus, dass „die uneingeschränkte Mitwirkungspflicht auflösende Bedingung des
Zeugenschutzes" sei, „so dass die Verstöße bereits für sich zur Entlassung aus dem
Zeugenschutz führen". Dies entspricht allerdings nicht der oben dargelegten Auffassung
der Kammer zur Rechtsqualität der Beendigung des Zeugenschutzprogrammes.
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Hat mithin eine Ermessensausübung des Beklagten gar nicht stattgefunden, bestand für
den Beklagten auch keine Möglichkeit, nach § 114 S. 2 VwGO Ermessenserwägungen
nachzuholen. Nach dieser Vorschrift kann die Verwaltungsbehörde ihre
Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes auch noch im
verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen. Die Vorschrift setzt mithin schon ihrem
Wortlaut nach voraus, dass bereits vorher, d.h. bei der behördlichen Entscheidung,
Ermessenserwägungen angestellt worden sind, das Ermessen also in irgendeiner
Weise betätigt worden ist. § 114 S. 2 VwGO schafft die prozessualen Voraussetzungen
lediglich dafür, dass defizitäre Ermessenserwägungen ergänzt werden, nicht hingegen,
dass das Ermessen erstmals ausgeübt wird.
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Vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. Januar 1999 - 6 B 133/98 -; Kopp/Schenke, a.a.O., §
114 Rn. 50; Rennert in Eyermann, VwGO, 10. Aufl., § 114 Rn. 89; Schoch/Schmidt-
Aßmann/Pietzner, VwGO, § 114 Rn. 12e.
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Auch eine Ermessensreduzierung auf Null, wonach alle anderen Entscheidungen als
die Beendigung des Zeugenschutzprogrammes rechtswidrig wären, kommt nicht in
Betracht. Darüber hinaus liegt auch kein Fall des sog. „indendierten Ermessens" vor.
Ein solches ist gegeben, wenn die Auslegung einer Ermessensnorm ergibt, dass im
Regelfall eine bestimmte Entscheidung vorgegeben ist und nur im Ausnahmefall davon
abgewichen werden soll.
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Kopp/Schenke, a.a.O., § 114 Rn. 21 b, Maurer, a.a.O., § 7 Rn 12 f.
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Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass bei einem Verhalten von bereits im
Zeugenschutzprogramm befindlichen Personen, welches der Aufnahme in das
Programm entgegenstehen würde, auch die Beendigung des Programms ohne weiteres
vorgegeben ist. Dies muss insbesondere dann gelten, wenn - wie hier - eine objektive
Gefahrenlage nach wir vor gegeben ist. Jedenfalls in einem solchen Fall darf die
Behörde nicht davon befreit werden, das Fehlverhalten der Betroffenen in Bezug zu der
ihnen drohenden Gefahr zu setzen, zumal ihnen letztlich das Grundrecht auf Leben und
körperliche Unversehrtheit zur Seite steht. Vielmehr hat die Behörde abwägend zu
überprüfen, ob trotz eines Fehlverhaltens ein Weiterführen des
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Zeugenschutzprogrammes angezeigt ist. Ein intendiertes Ermessen in den Fällen, in
denen objektiv eine Gefahrensituation für die Betroffenen noch vorliegt, ist daher
allenfalls dann anzunehmen, wenn die Betroffenen überhaupt kein Interesse mehr am
Zeugenschutzprogramm zeigen, weil Zeugenschutz gegen den Willen der Betroffenen
nicht möglich ist. Eine solche weitgehende, boykottähnliche Haltung haben die Kläger,
die in der mündlichen Verhandlung ihr Interesse am Verbleib im
Zeugenschutzprogramm noch einmal bekräftigt haben, aber nicht an den Tag gelegt.
Der Hinweis des Beklagten, dass die Kläger auch nach einer Entlassung aus dem
Zeugenschutzprogramm gegebenenfalls über die Normen des allgemeinen
Polizeirechts Anspruch auf Schutz haben, vermag fehlende Ermessenserwägungen
nicht zu ersetzen. Denn es ist eine Selbstverständlichkeit, dass mit einer Entlassung aus
dem Zeugenschutzprogramm nicht jeder polizeiliche Schutz verwirkt ist. Ein solcher
Hinweis entbindet die Behörde nicht von der Pflicht, im Hinblick auf das erheblich
höhere Niveau des Zeugenschutzprogrammes eine eigenständige Abwägung über die
Frage der Beendigung dieses Programmes zu treffen.
Hierbei wird der Beklagte die Gefährdungssituation, in der sich die Kläger noch
befinden, mit den Verstößen gegen die Maßgaben des Zeugenschutzprogrammes
abzuwägen haben.
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Nach alledem hatte die Klage Erfolg.
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Die Kostentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO
i.V.m. §§ 708 Nr. 1, 711 der Zivilprozessordnung.
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