Urteil des VG Gelsenkirchen vom 03.04.2008

VG Gelsenkirchen: örtliche zuständigkeit, gewöhnlicher aufenthalt, jugendamt, eltern, unterbringung, gespräch, entlassung, absicht, anfang, auflage

Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 2 K 1700/07
Datum:
03.04.2008
Gericht:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen
Spruchkörper:
2. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
2 K 1700/07
Schlagworte:
gewöhnlicher Aufenthalt
Normen:
SGB I § 30 Abs. 3 Satz 2
Leitsätze:
Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand gemäß § 30 Abs. 3 Satz 2
SGB I dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen,
dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend
verweilt. Maßgeblich sind dabei die tatsächlichen Umstände im
Zeitpunkt des Zuzugs. Zu diesem Zeitpunkt muss der Betroffene
tatsächlich einen neuen Aufenthalt begründen und darüber hinaus die
Absicht haben, bis auf weiteres im Sinne eines zukunftsoffenen
Verbleibens am Ort dieses neuen Aufenthaltes den Mittelpunkt seiner
Lebensbeziehungen zu haben. Bei Minderjährigen wird der
gewöhnliche Aufenthalt regelmäßig durch die
personensorgeberechtigten Eltern bestimmt. Ob die mit der tatsächlichen
Aufenthaltsbegründung verbundene Absicht sich -rückschauend
betrachtet- auch verwirklicht, spielt keine Rolle. Von Vornherein
bestehende objektive tatsächliche Hinderungsgründe können der
Begründung eines gewöhnlichen Aufenthaltes entgegenstehen.
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig
vollstreckbar.
Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe
des jeweils vollstreckungsfähigen Betrages abwenden, wenn nicht die
Beklagte vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
T a t b e s t a n d :
1
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Erstattung von Kosten, die ihr durch zu
Gunsten von L. T. erbrachte Leistungen entstanden sind.
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Der am 30. März 1995 geborene L. lebte nach der Trennung seiner unverheirateten
Eltern seit Mai 2003 im Einverständnis beider sorgeberechtigter Elternteile bei seinem
Vater W.B. in S. . Im Jahre 2005 wurde W.B. das Aufenthaltsbestimmungsrecht für L.
übertragen. In S. besuchte L. eine Förderschule für Geistigbehinderte des D. -
Verbandes.
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Am 8. Juni 2006 wandte sich L. Mutter, G.S., in Sorge um L. Wohlergehen an das
Jugendamt der Klägerin. Ergebnis des Gespräches war, dass sich L. Mutter an das
Jugendamt der Beklagten wenden werde. Am 10./11. Juni 2006 besuchte G.S. ihren
Sohn bei dessen Vater. Aufgrund der Schilderungen L. zu Lebensumständen bei
seinem Vater wurde L. nach Überweisung durch einen Kinderarzt am 12. Juni 2006 von
seinen Eltern in das St. W. -Krankenhaus in D1. gebracht und dort stationär
aufgenommen.
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Am 13. Juni 2006 sprach G.S. erneut im Jugendamt der Klägerin vor und äußerte ihre
Sorge um L. : Ihr Sohn nässe und kote ein, seine Zähne seien schlecht, er sei seit einem
Jahr nicht mehr beim Kinderarzt gewesen, er esse und trinke nicht mehr und sei
Gewalttätigkeiten seines Vaters ausgesetzt. Am 14. Juni 2006 suchte G.S. eine Anwältin
auf, welche unter dem 16. Juni 2006 beim Amtsgericht S. (Az.: 44 F 112/06) die
Übertragung der elterlichen Sorge auf G.S. beantragte. Ferner beantragte G.S. im Wege
einstweiliger Anordnung die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts für L. auf
G.S.
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Während L. Klinikaufenthalt verständigten sich L. Eltern L. Wunsch entsprechend
darauf, dass L. zu seiner Mutter ziehe.
6
Am 19. Juni 2006 sprach W.B. beim Jugendamt der Beklagten vor. Er teilte mit, dass
G.S. und er hätten beschlossen, dass L. in den Haushalt seiner Mutter wechsle. Er
werde L. bei allen Ämtern in S. abmelden. Weitere Unterstützung seitens des
Jugendamts der Beklagten lehnte er ab, da die Kindeseltern bereits ihre Entscheidung
getroffen hätten.
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Ebenfalls am 19. Juni 2006 wandte sich das Krankenhaus an das Jugendamt der
Klägerin, um sich abzusichern, ob L. zu seiner Mutter, die nicht immer voll belastbar sei,
entlassen werden könne. Das Jugendamt formulierte keine ausdrücklichen Einwände.
Am 19. Juni 2006 wurde L. sodann in gutem Allgemeinzustand aus dem St. W. -Hospital
entlassen. Er freute sich zu diesem Zeitpunkt sichtlich, zu seiner Mutter zu ziehen.
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Schon am darauffolgenden Tag, am 20. Juni 2006, sah sich G.S. mit der neuen Situation
überfordert. Eine Mitarbeiterin des Sozialdienstes katholischer Frauen, die G.S. seit
2004 begleitete, wandte sich am 20. Juni 2006 an das Jugendamt der Klägerin, da nach
Einschätzung dieser Mitarbeiterin G.S. mit der Versorgung ihres Sohnes völlig
überfordert sei. G.S. sehe auch ein, dass sie ihrem Sohn nicht gerecht werden könne.
Weitere Gespräche am gleichen Tag folgten.
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W.B. wurde telefonisch vom Jugendamt der Klägerin am 20. Juni 2006 davon
unterrichtet, dass Hilfebedarf für L. bestehe. Er erklärte sich bereit, L. bei sich
aufzunehmen, äußerte jedoch die Auffassung, gegebenenfalls müsse dauerhaft eine
Alternative gefunden werden. In dem anschließenden Gespräch im Jugendamt der
Klägerin waren sich die Eltern einig, dass L. wieder beim Vater leben solle. In den
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nächsten Tagen bzw. Wochen solle der Hilfebedarf durch die Jugendämter der Klägerin
und der Beklagten erörtert werden, beide Elternteile wünschten Unterstützung. Eine
Inobhutnahme in einer Wohngruppe lehnten die Eltern ab, da L. dort ganz fremd wäre
und sich dann gegebenenfalls nochmals wieder umgewöhnen müsse. G.S. und W.B.
konnten sich allerdings grundsätzlich eine stationäre Hilfe für L. zum Beispiel in einem
Internat vorstellen. Bei einem weiteren Gespräch beim Jugendamt der Beklagten am 28.
Juni 2006 lehnten beide Elternteile eine ambulante Hilfe ab und wünschten eine
stationäre Unterbringung L. . Am 30. Juni 2006 versicherte G.S. im familiengerichtlichen
Verfahren u.a. an Eides Statt, sie werde sich - auch mit Unterstützung einer
sozialpädagogischen Familienhilfe - um L. kümmern.
Am 3. Juli 2006 war L. - nach einem Aufenthalt bei seiner Tante - wieder bei seiner
Mutter. Im Einverständnis mit seinen Eltern nahm das Jugendamt der Klägerin L. am 4.
Juli 2006 in seine Obhut. Seither lebt L. - in regelmäßigem Kontakt mit seinen Eltern - in
der Außenwohngruppe E. des Kinderwohnheims E1. .
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In dem o.a. familiengerichtlichen Verfahren vor dem Amtsgerichts S. erklärten sowohl
W.B. als auch G.S. im Termin am 15. August 2006, sie seien sich darüber einig, dass es
L. in E1. am besten gehe. Sie seien damit einverstanden, dass L. weiterhin in E1. in der
betreuten Wohngruppe verbleibe. Dies erscheine - so das Familiengericht in einem
Hinweis - nach Aktenlage auch als die bestmögliche Lösung. Sorgerechts- und
Aufenthaltsbestimmungsrechtsverfahren wurden für erledigt erklärt.
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Mit Schreiben vom 6. Juli 2006 wies die Klägerin die Beklagte darauf hin, dass nach
Auffassung der Klägerin L. seinen gewöhnlichen Aufenthalt zuletzt bei W.B. gehabt
habe. Daraus folge die Zuständigkeit der Beklagten für den Hilfefall.
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Eine Übernahme des Hilfefalles in die eigene Zuständigkeit lehnte die Beklagte mit
Schreiben vom 7. September 2006 gegenüber der Klägerin ab. Aufgrund der - im
Einzelnen beschriebenen - Umstände der Entlassung L. aus dem Krankenhaus sei der
gewöhnliche Aufenthalt L. in E1. begründet worden.
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Im nachfolgenden Schriftwechsel beharrten die Beteiligten auf ihren wechselseitigen
Positionen. Die Klägerin setzte der Beklagten zuletzt mit Schreiben vom 23. März 2007
eine Frist bis zum 20. April 2007 zur Übernahme des Hilfefalles. Ferner machte sie
einen weiteren Kostenerstattungsanspruch auf Grund pflichtwidrigen Verhaltens der
Beklagten geltend.
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Am 22. Juni 2007 hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.
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Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor:
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Die Beklagte habe die bisher entstandenen Kosten für L. Unterbringung zu ersetzen und
den Hilfefall in eigener Zuständigkeit fortzuführen.
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Die gesamten Umstände sprächen dafür, dass L. bei seiner Mutter in E1. keinen
gewöhnlichen Aufenthalt begründet habe und auch gar nicht habe begründen können.
Angesichts der psychischen Überforderung von G.S., die allen Beteiligten - auch den
Mitarbeitern der Beklagten - bekannt gewesen sei, habe sich ein gewöhnlicher
Aufenthalt L. in E1. nicht verwirklichen lassen.
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Grundsätzlich sei die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts zwar unabhängig von
einer bestimmten Zeitdauer, die Zeitdauer dürfe aber nicht nur einen vorübergehenden
Zeitraum umfassen. Bloß vorübergehend sei ein Aufenthalt, der von Anfang an nur für
kurze Zeit geplant gewesen sei, wie z.B. Besuchs- oder Zwischenaufenthalte. Darum
handele es sich hier. Den Kindeseltern sei nämlich von Anfang an bewusst gewesen,
dass sich G.S. angesichts ihrer psychischen Probleme gar nicht um den gemeinsamen
Sohn habe kümmern können. Es habe insoweit von Anfang an fest gestanden, dass der
Aufenthalt am 19. Juni 2006 nur ein vorübergehender Zwischenaufenthalt habe sein
können. Daran ändere auch der durch G.S. gestellt auf Übertragung des
Aufenthaltsbestimmungsrechts nichts, da diesem Antrag nicht stattgegeben worden sei.
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Ferner habe sich gezeigt, dass G.S. aus psychischen Gründen nicht in der Lage
gewesen sei, ihren Sohn angemessen zu betreuen und zu versorgen, denn ihre
psychosoziale Gesundheit sei weiterhin krisenhaft. Auf Grund erneuter massiver
depressiver Schübe habe sie in der zweiten Jahreshälfte 2007 lediglich schriftlichen
Kontakt zu L. halten können. Außerdem sei sie zum Teil nicht in der Lage gewesen, ihre
Wohnung zu verlassen. Auch gegenüber der G.S. begleitenden Mitarbeitern des
Sozialdienstes katholischer Frauen E1. habe G.S. schon im Vorfeld der
Krankenhausentlassung geäußert, dass sie L. auf keinen Fall einer Gefährdung durch
seinen Vater habe aussetzen wollen. Sie wolle es "ein paar Tage schaffen", L. zu
betreuen, sie fühle sich aber nicht in der Lage, dauerhaft die Versorgung von L. zu
übernehmen. Für die Mitarbeiterin des Sozialdienstes katholischer Frauen
erwartungsgemäß habe sich G.S. schon nach einer Nacht mit der Betreuung von L.
überfordert gefühlt. Diese Umstände belegten, dass dem Wunschdenken von G.S. zum
Trotz objektiv zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit bestanden habe und bestehe, L. bei
ihr leben zu lassen.
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Die weiter geltend gemachten Kosten für Verwaltungsmehraufwand seien durch ein - im
Einzelnen dargestelltes - pflichtwidriges Verhalten der Beklagten verursacht und
aufgrund dieser Pflichtwidrigkeit ebenfalls zu ersetzen.
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Die Klägerin beantragt,
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festzustellen, dass die Beklagte für den Hilfefall L. T. örtlich zuständig ist.
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Die Beklagte zu verurteilen an die Klägerin, die bisher entstandenen Kosten für die
Unterbringung von L. T. im Kinderwohnheim in E1. (Zeitraum: Beginn der Unterbringung
bis zum Tag der mündlichen Verhandlung) zu erstatten.
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Die Beklagte zu verurteilen an die Klägerin Verwaltungskosten in Höhe von 10.000,00
Euro zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
27
die Klage abzuweisen.
28
Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor:
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Dass sich L. nur für kurze Zeit bei seiner Mutter aufgehalten habe, hindere nicht die
Begründung des gewöhnlichen Aufenthaltes. Den Kindeseltern sei bei der Aufnahme L.
durch seine Mutter nach L. Krankenhausaufenthalt auch nicht bewusst gewesen, dass
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sie sich aufgrund ihrer psychischen Probleme nicht ausreichend um L. werde kümmern
können. Hilfen des Jugendamtes um der Überforderung von G.S. vorzubeugen, seien zu
diesem Zeitpunkt noch nicht in Anspruch genommen worden. Es sei auch der Wunsch
von G.S. gewesen, L. bei sich aufzunehmen.
Durch Beschluss vom 5. März 2008 hat die Kammer den Rechtsstreit auf den
Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte
sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
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Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.
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Für die Tragung der Kosten der Unterbringung L. im Kinderwohnheim E1. ist die
Beklagte nicht zuständig, da L. seinen gewöhnlichen Aufenthalt mit der Entlassung aus
dem Krankenhaus am 19. Juni 2006 in E1. begründet und dort behalten hat. Im
Einzelnen:
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Der geltend gemachte Erstattungsanspruch (Klageantrag zu 2.) besteht nicht. Gemäß §
89c Abs. 1 Satz 2 des Sozialgesetzbuches - Achtes Buch - (SGB VIII) sind Kosten, die
ein örtlicher Träger im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86 d SGB VIII aufgewendet
hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, dessen Zuständigkeit durch den
gewöhnlichen Aufenthalt nach §§ 86, 86a und 86 b SGB VIII begründet wird.
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Gemäß § 86 d SGB VIII ist der örtliche Träger vorläufig zum Tätigwerden verpflichtet, in
dessen Bereich sich das Kind vor Beginn der Leistung tatsächlich aufhält, sofern die
örtliche Zuständigkeit nicht feststeht oder der zuständige örtliche Träger nicht tätig wird.
Die Klägerin ist angesichts des Streites der Beteiligten über die örtliche Zuständigkeit im
Hilfefall L. T. aus seiner Sicht auf der Grundlage dieser Regelung tätig geworden, da
sich L. am 4. Juli 2006, dem Tag der Inobhutnahme und des Beginns der Unterbringung
im Kinderwohnheim E1. , tatsächlich bei seiner Mutter in E1. aufhielt. Gleichwohl kann
die Klägerin keine Kostenerstattung beanspruchen, da die Beklagte für diesen Hilfefall
örtlich nicht zuständig war und ist. Vor Leistungsbeginn am 4. Juli 2006 hatte L. seinen
gewöhnlichen Aufenthalt nicht (mehr) in S. , sondern in E1. .
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Für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB VIII ist der örtliche Träger zuständig,
in dessen Bereich die Eltern ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, § 86 Abs. 1 Satz 1
SGB VIII. Haben die Elternteile - wie hier - verschiedene gewöhnliche Aufenthalte (S.
und E1. ), so ist der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich der
personensorgeberechtigte Elternteil seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat; dies gilt auch
dann, wenn ihm einzelne Angelegenheiten der Personensorge entzogen sind, § 86 Abs.
2 Satz 1 SGB VIII. Steht die Personensorge den Eltern gemeinsam zu - ebenfalls wie
hier -, so richtet sich die Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des
Elternteils, bei dem das Kind oder der Jugendliche vor Beginn der Leistung zuletzt
seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII.
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Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die
erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend
verweilt, § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I.
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Maßgeblich sind dabei die tatsächlichen Umstände im Zeitpunkt des Zuzugs. Zu diesem
Zeitpunkt muss der Betroffene tatsächlich einen neuen Aufenthalt begründen und
darüber hinaus die Absicht haben, bis auf weiteres im Sinne eines zukunftsoffenen
Verbleibens am Ort dieses neuen Aufenthaltes den Mittelpunkt seiner
Lebensbeziehungen zu haben. Bei Minderjährigen wird der gewöhnliche Aufenthalt
regelmäßig durch die personensorgeberechtigten Eltern bestimmt. Ob die mit der
tatsächlichen Aufenthaltsbegründung verbundene Absicht sich - rückschauend
betrachtet - auch verwirklicht, spielt keine Rolle.
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Vgl. Zum Ganzen etwa Münder u.a., Frankfurter Kommentar zum SGB VIII: Kinder- und
Jugendhilfe, 5. Auflage Weinheim u.a. 2006, § 86 Rnrn. 2 ff. m.w.N.
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Der gewöhnliche Aufenthalt L. wurde mit dessen Entlassung aus dem St. W. -Hospital in
D1. am 19. Juni 2006 in E1. begründet. Seine personensorgeberechtigten Eltern waren
sich darüber einig, dass L. seinem Wunsche entsprechend nach dem
Krankenhausaufenthalt zu seiner Mutter zieht und dort den Mittelpunkt seiner
Lebensbeziehungen hat. Allein dies vermag u.a. die Freude L. am Entlassungstag zu
erklären und auch nur dadurch wird die Erklärung von W.B. gegenüber dem Jugendamt
der Beklagten am 19. Juni 2006 verständlich, dass er L. von allen Ämtern usw. in S.
abmelden werde.
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Objektive tatsächliche Hinderungsgründe, die es von Vornherein ausgeschlossen
haben, dass L. den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen bei seiner Mutter in E1. hat,
sind nicht feststellbar.
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Vgl. zum Aspekt der objektiven Hinderungsgründe z.B. Schellhorn in:
Schellhorn/Fischer/Mann, SGB VIII, 3. Auflage, München 2007, § 86 Rn 26; Münder,
a.a.O., Rn. 3.
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Es kann dabei unterstellt werden, dass G.S. aufgrund ihrer persönlichen
Lebensumstände und der hieraus resultierenden psychischen Situation, die u.a. die
G.S. seit 2004 begleitende Mitarbeiterin des Sozialdienstes katholischer Frauen in
ihrem unter dem 4. März 2008 der Klägerin übersandten "Bericht zur Situation von L. T.
im Sommer 2006" geschildert hat, nicht in der Lage war, allein für L. zu sorgen. Fest
steht nach dem Verhalten von G.S., dass sie auf keinen Fall eine dauerhafte Rückkehr
L. zu seinem Vater wollte. Die Äußerungen von G.S. in dem genannten Bericht der
Mitarbeiterin des Sozialdienstes katholischer Frauen sind ebenso eindeutig wie die
Antragsschrift im Verfahren vor dem Familiengericht S. : Trotz ihrer psychischen
Situation sah sich G.S. stets in der Verantwortung, ihren Sohn zu schützen und suchte
dazu Unterstützung bzw. Hilfe zur Erziehung. Diese Einschätzung der Mitarbeiterin des
Sozialdienstes katholischer Frauen teilt das Gericht.
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Dass es sich hierbei um ein bloßes Wunschdenken von G.S. handelt, wie die Klägerin
meint, lässt sich nicht erkennen. Der Klägerin standen mit den Mitteln der (ambulanten)
Hilfe zur Erziehung gemäß § 27 ff. SGB VIII Möglichkeiten zur Verfügung, G.S. intensiv
zu unterstützen. In ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 30. Juni 2006, abgegeben
gegenüber dem Familiengericht S. , erklärte G.S. unmissverständlich: "Ich möchte, dass
L. bei mir lebt. Ich werde mich - auch mit Unterstützung einer sozialpädagogischen
Familienhilfe - um L. kümmern." Im Gespräch im Jugendamt der Klägerin am 20. Juni
2006 erklärten beide Eltern, sich dauerhaft nicht ohne Hilfe in der Lage zu sehen, sich
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um L. kümmern zu können. G.S. machte dabei deutlich, dass sie gerne über ihre
Grenzen hinauswachsen würde, um L. bei sich wohnen zu lassen, jedoch deutlich
überfordert sei. Am 28. Juni 2006 wurden gegenüber den Kindeseltern im Rahmen
eines Gespräches beim Jugendamt der Beklagten ambulante Maßnahmen angeregt
und ein Antrag auf Hilfe zur Erziehung ausgehändigt, G.S. bat um Bedenkzeit, stellte
diesen Antrag aber nicht. Im Gespräch selbst hatten beide Kindeseltern ambulante
Maßnahmen noch abgelehnt.
Es lässt sich angesichts dessen nicht feststellen, dass die Hindernisse, die einer
Betreuung L. durch seine Mutter entgegenstanden, so geartet waren, dass schon bei der
Entlassung L. aus dem Krankenhaus feststand, dass L. Mutter ihn auf keinen Fall werde
betreuen können. Auch wenn G.S. gegenüber dem Jugendamt der Beklagten ambulante
Maßnahmen am 28. Juni 2006 noch abgelehnt hat, so hat sie zwei Tage später in ihrer
eidesstattlichen Versicherung gerade solche Maßnahmen selbst genannt. Die von G.S.
dabei selbst ins Gespräch gebrachte sozialpädagogische Familienhilfe soll gemäß § 31
SGB VIII durch intensive Betreuung und Begleitung Familien in ihren
Erziehungsaufgaben, bei der Bewältigung von Alltagsproblemen, der Lösung von
Konflikten und Krisen sowie im Kontakt mit Ämtern und Institutionen unterstützen und
Hilfe zur Selbsthilfe geben. Sie ist in der Regel auf längere Dauer angelegt und erfordert
die Mitarbeit der Familie. Von dieser Möglichkeit wurde kein Gebrauch gemacht.
Daneben stellt sich auch die Frage, weshalb für L. zur Entlastung seiner Mutter nicht
auch die Möglichkeit des § 32 SGB VIII im Einzelnen erwogen wurde: Hilfe zur
Erziehung in einer Tagesgruppe soll die Entwicklung des Kindes oder des
Jugendlichen durch soziales Lernen in der Gruppe, Begleitung der schulischen
Förderung und Elternarbeit unterstützen und dadurch den Verbleib des Kindes oder des
Jugendlichen in seiner Familie sichern. Die Hilfe kann auch in geeigneten Formen der
Familienpflege geleistet werden.
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Anhaltspunkte dafür, dass bei einer solch intensiven Form ambulanter Betreuung L. sein
Verbleib bei seiner Mutter gleichwohl von Vornherein auf jeden Fall ausgeschlossen
sein sollte, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Angesichts der
Erziehungsverpflichtung der Eltern, vgl. § 1 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII, und dem bloßen
Wächteramt der staatlichen Gemeinschaft, § 1 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII, - Vorschriften,
welche die verfassungsrechtlichen Vorgaben auf einfachgesetzlicher Ebene
wiederholen - verbleibt es daher bei der Entscheidung der Personensorgeberechtigten
L. , dass er mit der Krankenhausentlassung zukunftsoffen bei seiner Mutter den
Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen haben sollte.
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Die weiteren Aufenthaltswechsel L. - "Rückkehr" zu seinem Vater, Aufenthalt bei seiner
Tante - haben keinen neuen gewöhnlichen Aufenthalt begründen können. Die
personensorgeberechtigten Eltern waren sich darüber einig, dass die "Rückkehr" L. zu
seinem Vater nur vorübergehender Natur sein sollte. Alles andere hätte auch den
vielfach von G.S. geäußerten Sorgen in Bezug auf einen Aufenthalt L. bei seinem Vater
widersprochen.
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Angesichts der vorstehenden Ausführungen besteht auch keine Handhabe, die örtliche
Zuständigkeit der Beklagten für die Fortdauer des Hilfefalles L. T. festzustellen
(Klageantrag zu 1.).
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Schließlich hat die Klägerin auch keinen Anspruch auf die von ihr begehrten
Verwaltungskosten in Höhe von 10.000,00 Euro (Klageantrag zu 3.). Hat der örtliche
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Träger die Kosten - hier diejenigen nach § 86 d SGB VIIII - deshalb aufgewendet, weil
der zuständige örtliche Träger pflichtwidrig gehandelt hat, so hat der zuständige örtliche
Träger zusätzlich einen Betrag in Höhe eines Drittels der Kosten, mindestens jedoch 50
Euro zu erstatten. Die Anspruchsvoraussetzungen sind schon deshalb nicht gegeben,
weil die Beklagte - wie ausgeführt - seit dem 19. Juni 2006 nicht mehr der für L. T.
zuständige örtliche Träger für Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe war.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m.
§§ 708 Nr. 11, 709, 711 der Zivilprozessordnung.
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