Urteil des VG Gelsenkirchen vom 30.08.2006

VG Gelsenkirchen: körperliche behinderung, geistige behinderung, unterbringung, trennung, haus, defizit, form, geeignetheit, jugendhilfe, zusammenleben

Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 19 K 1192/06
Datum:
30.08.2006
Gericht:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen
Spruchkörper:
19. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
19 K 1192/06
Schlagworte:
gemeinsame Wohnformen, Hilfe zur Erziehung, geistige Behinderung
Normen:
§ 19 SGB VIII
Tenor:
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung
von Rechtsanwalt I. aus X. wird abgelehnt.
Gründe:
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Das Prozesskostenhilfegesuch ist abzulehnen, weil die Klage mit dem Antrag,
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den Bescheid des Beklagten vom 19. Januar 2006 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 14. März 2006 aufzuheben und den Beklagten zu
verpflichten, die Kosten der Unterbringung in der Einrichtung St. K. - Haus in X. ab dem
1. November 2005 zu übernehmen,
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nicht die hinreichende Aussicht auf Erfolg hat, wie es nach § 166 der
Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - i.V.m. § 114 der Zivilprozessordnung - ZPO -
erforderlich ist.
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Hinreichende Aussicht auf Erfolg bedeutet bei einer an Art. 3 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4
des Grundgesetzes - GG - orientierten Auslegung einerseits, dass Prozesskostenhilfe
nicht erst und nur dann bewilligt werden darf, wenn der Erfolg der beabsichtigten
Rechtsverfolgung gewiss ist, andererseits aber auch, dass Prozesskostenhilfe versagt
werden darf, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen,
die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist.
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Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschluss vom
30. März 2000 - 22 E 500/98 -.
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Die vorliegende Verpflichtungsklage ist aller Voraussicht nach unbegründet. Die
ablehnenden Verwaltungsakte des Beklagten in Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 14. März 2006 sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten (§
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113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hatte nach derzeitigem Kenntnisstand zum
maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides keinen Anspruch
gegen den Beklagten auf Übernahme der Kosten der Unterbringung in der Einrichtung
St. K. - Haus in X. .
Zunächst kann die Klägerin sich nicht auf einen - fortwirkenden - Bewilligungsbescheid
aus dem Jahre 2001 berufen, da dieser Verwaltungsakt mit Bescheid vom 3. Juni 2005
in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juli 2005 aufgehoben und die Hilfe
zum Ende des Monats Oktober 2005 eingestellt worden ist. Die Rechtmäßigkeit dieser
Hilfeeinstellung ist - entgegen der Ansicht der Prozessbevollmächtigten der Klägerin -
nicht mehr zu überprüfen, da sie bestandskräftig geworden ist. Die gegen die
Einstellungs- und Widerspruchsentscheidung erhobenen Klagen (19 K 2842/05 und 19
K 3923/05) waren auf die Feststellung beschränkt, dass die Hinzuziehung eines
Bevollmächtigten für das Vorverfahren erforderlich war. Sie betrafen nicht die Regelung
in der Sache.
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Soweit die Klägerin über ihre Betreuerin unter dem 24. Oktober 2005 neuerlich die
gemeinsame Unterbringung mit ihrem Sohn in der Einrichtung St. K. -Haus in X.
beantragt hat, dürften die materiellen Voraussetzungen der allein in Betracht
kommenden Anspruchsgrundlage des § 19 Sozialgesetzbuch Achtes Buch Kinder- und
Jugendhilfe - SGB VIII - nicht erfüllt sein. Ggf. konkurrierende Ansprüche auf Hilfe zur
Erziehung gemäß § 27 SGB VIII kommen hier schon deshalb nicht in Betracht, da die
Klägerin insoweit mangels Sorgeberechtigung für das Kind nicht aktivlegitimiert ist.
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Zur Begründung nimmt die Kammer Bezug auf die zutreffenden Ausführungen in den
angefochtenen Bescheiden (§ 117 Abs. 5 VwGO). Zu ergänzen ist Folgendes:
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Nach § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII sollen Mütter oder Väter, die allein für ein Kind unter
sechs Jahren zu sorgen haben oder tatsächlich sorgen, gemeinsam mit dem Kind in
einer geeigneten Wohnform betreut werden, wenn und solange sie auf Grund ihrer
Persönlichkeitsentwicklung dieser Form der Unterstützung bei der Pflege und Erziehung
des Kindes bedürfen. § 19 SGB VIII zielt auf den Personenkreis von Vätern/Müttern mit
schwerwiegenden persönlichen, familiären, sozialen und/oder emotionalen
Schwierigkeiten, die zu einem eigenverantwortlichen selbständigen Leben gemeinsam
mit dem Kind noch nicht in der Lage sind und die den beschützenden Rahmen einer auf
ihre individuelle Situation abgestimmten Hilfe in einer Einrichtung oder sonstigen
Wohnform benötigen.
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Wiesener/Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII, Kinder- und Jugendhilfe, 3. Aufl.
2006, § 19 Rn. 1 u. 15.
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Die Hilfe nach § 19 SGB VIII ist persönlichkeitsindiziert, d.h. die Mutter oder der Vater ist
aus in ihrer/seiner Person liegenden Gründen nicht in der Lage, das Kind zu erziehen. In
Rede steht damit ein Defizit gerade als Erzieherpersönlichkeit.
13
Kunkel, in: LPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2006, § 19 Rn. 3.
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Das von § 19 SGB VIII vorausgesetzte Persönlichkeitsdefizit der Mutter oder des Vaters
kann auch auf eine seelische, geistige oder körperliche Behinderung zurückgehen. Das
spezifisch jugendhilferechtliche Ziel der Behebung oder Milderung dieses
Persönlichkeitsdefizits besteht nämlich darin, eine der Entstehung eines
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Erziehungsdefizits beim Kind vorbeugende Art des Zusammenlebens zu unterstützen
und sicherzustellen.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 30. November 2000 - 22 B 762/00 -, ZfSH/SGB 2002,
28; Beschluss vom 13. Dezember 2000 - 22 B 424/00 - ausdrücklich auch für den Fall
einer „drogenindizierten Psychose".
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Zu dem - vorliegend bei der Klägerin aufgrund geistiger Behinderung wohl gegebenen -
Persönlichkeitsdefizit des Erziehers hinzutreten muss ein potenzielles Erziehungsdefizit
des Kindes im Sinne einer abstrakten Gefahr für seine Entwicklung. Im Unterschied zum
Erziehungsdefizit des § 27 SGB VIII darf bei § 19 SGB VIII noch keine Auffälligkeit oder
Störung beim Kind vorliegen. Wäre dies der Fall müsste Hilfe nach § 27 i.V.m. § 34 oder
§ 31 SGB VIII geleistet werden. Das Persönlichkeitsdefizit des Erziehers muss kausal
für das Erziehungsdefizit des Kindes sein.
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Kunkel, a.a.O., § 19 Rn. 3.
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Schließlich ist Tatbestandsvoraussetzung, dass gerade die Betreuung in der
gemeinsamen Wohnform geeignet und erforderlich ist, das doppelte Defizit zu
beseitigen. Das ist nicht der Fall, wenn eine stationäre Hilfe zur Erziehung nach §§ 27,
33 oder 34 SGB VIII als ebenso geeignet in Betracht kommt.
19
Kunkel, a.a.O., § 19 Rn. 3.
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Vorliegend dürfte zum einen das Erziehungsdefizit beim Sohn der Klägerin bereits
konkret eingetreten und auf das Erzieherdefizit der Mutter zurückzuführen sein. Zum
anderen ist nicht dargetan, dass gerade die (gemeinsame) Betreuung in der bisherigen
Einrichtung geeignet ist, um das aus der Behinderung der Mutter resultierende
Erziehungsdefizit beim Kind zu beseitigen. Dies hat die Kammer bereits in den vom
Vormund des Kindes veranlassten Eil- und Hauptsacheverfahren ausgeführt (vgl.
Beschlüsse vom 21.12.2005 - 19 L 1713/05 - und Urteil vom 19.05.2006 - 19 K 3780/05 -
).
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Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass es sich bei der Entscheidung über die
Notwendigkeit und Geeignetheit der Hilfe um das Ergebnis eines kooperativen
pädagogischen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung des Hilfe Suchenden und
mehrerer Fachkräfte handelt, welches nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt,
jedoch eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten
Belastungssituation enthält, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss; die
verwaltungsgerichtliche Überprüfung hat sich dabei darauf zu beschränken, ob
allgemein gültige fachliche Maßstäbe beachtet worden, keine sachfremden
Erwägungen eingeflossen und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt
worden sind.
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BVerwG, Urteil vom 24. Juni 1999 - 5 C 24.98 -, BVerwGE 109, 155 = FEVS 51, 152.
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Unter Berücksichtigung der nur eingeschränkten Überprüfungsmöglichkeit durch die
Verwaltungsgerichte ist in Würdigung der auch aus dem Verfahren 19 L 1713/05
bekannten Umstände nicht erkennbar, dass die von der Klägerin gewünschte Hilfe im
St. K. -Haus in X. gegenwärtig geeignet ist. Selbst die Vormünderin des Kindes
anerkennt Verhaltensauffälligkeiten bei ihrem Mündel und bestreitet lediglich
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unsubstantiiert das Zusammenleben mit der geistig behinderten Mutter als Ursache
hierfür. Damit können indes nicht die Zweifel an der (fortbestehenden) Geeignetheit der
gemeinsamen Unterbringung, wie sie insbesondere durch die sozialpädiatrische
Begutachtung des Kindes durch das N. -Hospital in X. aufgeworfen und zur Grundlage
des gegenüber der Klägerin ergangenen Aufhebungsbescheides vom 3. Juni 2005
gemacht worden sind, entkräftet werden. Daraus ergibt sich nachvollziehbar das
Hilfeangebot des Beklagten gemäß § 33 SGB VIII, in der näheren Umgebung der Mutter
eine Pflegefamilie für E. zu suchen.
Da Entwicklungsauffälligkeiten und -störungen in der Person des Kindes der Klägerin
bedingen, dass nur noch Hilfe zur Erziehung in Betracht kommen kann,
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vgl. Kunkel, a.a.O. § 19 Rn. 16,
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liegt es bei ihr, den naheliegenden Verdacht einer Ursachenkette zwischen der
geistigen Behinderung der Kindesmutter und der Entwicklungsstörung beim Sohn
auszuräumen. Dies ist aber nicht geschehen. So hat die Vormünderin des Kindes
bislang von einem Besuch beim Kinderpsychologen abgesehen. Die statt dessen von
ihr veranlasste sog. qualifizierte Alltagsbeobachtung ändert daran nichts: Denn nach
dem einschlägigen Bericht vom 15. September 2005 sind „die offensichtlichen
Schwierigkeiten und Belastungen mit dem traumatischen Erleben, die eine Trennung
der Kinder von Eltern unweigerlich auslöst, abzuwägen". Eine eindeutige
Schlussfolgerung vermeidet die Sozialarbeiterin; sie lässt allerdings nicht im Unklaren,
dass Veränderungen im Beziehungsgeflecht zwischen Mutter und Sohn, mindestens
eine räumliche Trennung im Alltag der Einrichtung und die weitere Entlastung der Mutter
von Erziehungsaufgaben, unumgänglich sein dürften. Der Hinweis auf die Schwierigkeit
der Mutter, aggressive Affekte zu regulieren, wobei grundsätzlich Übergänge zu
Misshandlungen nicht auszuschließen seien, wirft insoweit allerdings die Frage auf, ob
das ausreicht. Die Klägerin hat insoweit keine nachvollziehbare Antwort gegeben, was
zu ihren Lasten geht.
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In diesem Zusammenhang ist endlich zu berücksichtigen, dass auch die Betreuerin der
Klägerin schon im Rahmen der Widerspruchsanhörung am 25. Juli 2005 zur Situation in
der Einrichtung angegeben hat, dass die Mutter lediglich die emotionale Versorgung
sicherstellen könne und alles andere, d.h. Betreuung, Versorgung und Erziehung, schon
jetzt von Dritten sichergestellt werde. Dabei sehe die emotionale Zuwendung so aus,
dass die Mutter sich „wie eine Glucke" an ihr Kind klammere und es kaum loslassen
könne. Aus diesem Grund komme eine langsame und vorsichtige Trennung bzw.
Loslösung von Mutter und Kind nicht in Frage, da jene das nicht nachvollziehen könnte.
Damit wird der mutterbezogene Ansatz der Betreuerin deutlich, die eine weitere
gemeinsame Unterbringung offenbar primär deshalb wünscht, weil dadurch der Verbleib
der Mutter in der Außenwohngruppe gesichert werden kann.
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Insofern wird übersehen, dass sich die Defizite des Kindes derart verselbständigt haben,
dass sie gegenüber der Erzieherpersönlichkeitsstörung der Mutter in den Vordergrund
getreten sind. Das belegt die Stellungnahme des St. K. -Hauses vom 2. März 2006, in
der neben anderen, nicht näher beschriebenen Auffälligkeiten des Kindes massive
Probleme bei der Akzeptanz von Regeln und Grenzen beschrieben werden. Die
Bearbeitung dieser Defizite bedürfe unbedingt einer intensiven professionellen
Begleitung. Von der Mutter des Kindes ist in diesem Zusammenhang nur insofern noch
die Rede, als zu ihr eine zur Zeit stabile emotionale Beziehung bestehe. Es ist daher
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wenig plausibel, warum eine Trennung von der Mutter im Falle der Vermittlung in eine
Pflegefamilie die Entwicklung der Beziehungsfähigkeit des Kindes für die Zukunft
nachhaltig negativ beeinflussen würde, obwohl das bisherige Zusammenleben mit der
Klägerin und die geleistete intensive pädagogische Arbeit der Fachkräfte des St. K. -
Hauses nicht verhindert haben, dass es zu den erheblichen Persönlichkeitsstörungen
des Kindes gekommen ist. Vor diesem Hintergrund ist das Ansinnen des Beklagten,
Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege in einer Pflegefamilie in der Nähe des
Einrichtungsortes der Klägerin in Erwägung zu ziehen, jedenfalls nicht von der Hand zu
weisen, auch wenn sich die hierfür antragsberechtigte Vormünderin des Kindes offenbar
dagegen sperrt.
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