Urteil des VG Gelsenkirchen vom 24.01.2011

VG Gelsenkirchen (richtlinie, arbeitnehmer, kläger, abgeltung, erkrankung, beendigung, bundesrepublik deutschland, gerichtshof, bezug, höhe)

Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 12 K 331/10
Datum:
24.01.2011
Gericht:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen
Spruchkörper:
12. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
12 K 331/10
Schlagworte:
Urlaubsentgelt, Beamter, Krankheit, vorzeitige Zurruhesetzung, Urlaub,
Dienstunfähigkeit, Arbeitnehmer, Erholungsurlaub
Normen:
RL 2003/88/EG § 7 Abs. 2
Leitsätze:
1. Dem Beamten steht aus Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88/EG rin
Anspruch auf Abgeltung des aus Krankheitsgründen nicht genommenen
Mindesturlaubs (20 Tage im Jahr) zu.
2. Der Anspruch auf Urlaubsentgelt wird durch die im Jahr gewährten
Urlaubstage reduziert.
Tenor:
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 0. Dezember
2009 und des Widerspruchsbescheides vom 14. Januar 2010
verpflichtet, dem Kläger für 10 Urlaubstage aus dem Jahr 2008 eine
finanzielle Abgeltung in europa-rechtlich vorgegebener Höhe zu
gewähren.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder
Hinterlegung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils
vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der
Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu
vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand:
1
Der Kläger begehrt die finanzielle Abgeltung seines wegen Erkrankung nicht
2
genommenen Erholungsurlaubs. Der im Jahr 1953 geborene Kläger stand als
Postbetriebsassistent im Dienst der Beklagten. Ab dem 26. April 2008 bis zum 30.
August 2008 war er dienstunfähig erkrankt. Vor seiner Erkrankung hatte er im Jahr 2008
bereits drei Tage Erholungsurlaub beantragt und angetreten. Mit Wirkung vom 1.
September 2008 wurde er vorzeitig in den Ruhestand versetzt.
Mit Schreiben vom 27. März 2009 beantragte der Kläger die finanzielle Abgeltung
seines nicht genommenen Urlaubs. Zur Begründung trug er vor, dass sich ein solcher
Anspruch aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 20. Januar 2009 ergebe.
Er habe auf Grund seiner Erkrankung seinen Erholungsurlaub nicht antreten können.
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Mit Bescheid vom 10. Dezember 2009 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab.
Die Ansprüche auf Erholungsurlaub aus den Jahren 2008/2009 seien - soweit noch
nicht in Anspruch genommen - inzwischen verfallen. Nach der Zurruhesetzung zum 1.
September 2008 und dem damit verbundenen Wegfall der Dienstleistungspflicht sei
auch der Anspruch auf Gewährung von Erholungsurlaub endgültig verfallen. Der
Erholungsurlaub eines Beamten sei nicht eine Gegenleistung für erbrachte Arbeit,
sondern diene dazu, die Arbeitskraft des Beamten aufzufrischen und zu erhalten. Dieser
Zweck könne nicht mehr erreicht werden, wenn der Betroffene aus dem aktiven
Beamtenverhältnis ausgeschieden sei. Da die Urlaubsansprüche somit verfallen seien,
komme eine finanzielle Abgeltung nicht in Betracht. Hierfür fehle es bereits an einer
gesetzlichen Grundlage. Auch aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
zur Arbeitszeitrichtlinie lasse sich kein Anspruch auf eine finanzielle Entschädigung
herleiten. Die zitierte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 20. Januar
2009 beziehe sich ausdrücklich nur auf Arbeitnehmer und sei auf das
Beamtenverhältnis nicht übertragbar.
4
Den Widerspruch des Klägers vom 29. Dezember 2009 wies die Beklagte durch
Widerspruchsbescheid vom 14. Januar 2010 zurück.
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Der Kläger hat am 28. Januar 2010 die vorliegende Klage erhoben. Zur Begründung
trägt er vor, dass die Richtlinie 2003/88/EG nicht nur für Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, sondern auch für Beamtinnen und Beamte gelte.
6
Der Kläger beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 10. Dezember 2009 und des
Widerspruchsbescheides vom 14. Januar 2010 zu verpflichten, ihm für 10 Urlaubstage
aus dem Jahr 2008 eine finanzielle Abgeltung in europarechtlich vorgegebener Höhe zu
gewähren.
8
Die Beklagte beantragt,
9
die Klage abzuweisen.
10
Zur Begründung verweist sie darauf, dass es an einer positiv-rechtlichen Regelung für
den Fall einer Geldabfindung für nicht erteilten Erholungsurlaub fehle. Die vom
Europäischen Gerichtshof angestellten Erwägungen zum Anspruch eines
Arbeitnehmers auf Zahlung eines Urlaubsentgeltes seien auf das Beamtenverhältnis
nicht übertragbar. Es gelte insoweit die strukturelle Andersartigkeit des
Beamtenverhältnisses, die eine Vergütung einzelner Tätigkeiten und so auch ein
11
Entgelt für den Urlaub nicht vorsehe, sondern von einer umfassenden Einbindung des
Beamten in ein Rechts- und Pflichtverhältnis ausgehe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug
genommen.
12
Entscheidungsgründe:
13
Die Klage hat Erfolg. Sie ist als Verpflichtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 2 der
Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zulässig, da die Entscheidung über die
Urlaubsabgeltung in Geld ebenso wie die Entscheidung über die Urlaubsgewährung
selbst ein Verwaltungsakt ist.
14
Vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 4. August 2010 - 13 K 8443/09 -; VG Hannover, Urteil
vom 29. April 2010 - 13 A 3250/09 -; VG München, Urteil vom 17. November 2009 - M 5
K 09.1324 - (jeweils juris).
15
Die Klage ist begründet. Die Ablehnung der Beklagten durch Bescheid vom 10.
Dezember 2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14. Januar 2010 ist
rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO). Dem
Kläger steht für zehn Urlaubstage aus dem Jahr 2008 ein Anspruch auf finanzielle
Abgeltung zu.
16
Der geltend gemachte Ausgleichsanspruch kann zwar nicht aus den Vorschriften des
Beamtenrechts hergeleitet werden. Weder Bundes- noch Landesrecht sehen für Beamte
eine Abfindung für nicht genommenen Erholungsurlaub vor. Auch eine analoge
Anwendung des unmittelbar nur für Arbeitnehmer geltenden § 7 Abs. 4
Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) kommt nicht in Betracht.
17
Vgl. dazu ausführlich OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 30. März 2010 - 2 A 11321/09 -
(juris).
18
Rechtsgrundlage für den Anspruch des Klägers ist jedoch Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie
2003/88/EG. Danach darf der bezahlte Mindesturlaub außer bei Beendigung des
Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Abgeltung ersetzt werden.
19
Der Kläger unterfällt als Beamter dem Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/88/EG.
Der Begriff des Arbeitnehmers im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie ist
europarechtlich zu definieren. Nach Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie gilt sie für alle privaten
oder öffentlichen Tätigkeitsbereiche im Sinne des Art. 2 der Richtlinie 89/391/EWG (ABl.
L 183 vom 29. Juni 1989, S. 1 - 8). Diese Vorschrift sieht bestimmte Einschränkungen
bei der Anwendung im Bereich der Streitkräfte und der Polizei vor. Hieraus folgt im
Umkehrschluss, dass die Richtlinie grundsätzlich auch Beamte erfasst.
20
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. Mai 2009 - 1 A 2652/07 -; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil
vom 30. März 2010 - 2 A 11321/09 -; VG Düsseldorf, Urteil vom 4. August 2010 - 13 K
8443/09 -; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 4. August 2009 - 1 L 667/09 -; VG
Frankfurt, Beschluss vom 25. Juni 2010 - 9 K 836/10.F -; a. A. VG Koblenz, Urteil vom
21. Juli 2009 - 6 K 1253/09.KO -; VG Hannover, Urteil vom 15. Oktober 2009 - 13 A
2003/09 - (jeweils juris).
21
Dem Kläger steht auch unmittelbar aus Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88/EG ein
Anspruch auf Abgeltung des aus Krankheitsgründen nicht genommenen
Mindesturlaubs, wie er durch Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG gewährleistet ist,
zu.
22
Für den Fall einer nicht fristgemäß erfolgten Vollziehung einer Richtlinie durch einen
Mitgliedstaat hat der Europäische Gerichtshof dem privaten Einzelnen das Recht
zuerkannt, sich vor den mitgliedstaatlichen Gerichten gegenüber entgegenstehendem
nationalen Recht auf durch die Richtlinie auferlegte Verpflichtungen zu berufen, sofern
diese klar und unbedingt sind und zu ihrer Anwendung insoweit keines Ausführungsakts
mehr bedürfen. Denn mit der den Richtlinien durch Art. 288 Abs. 3 AE UV / Art. 249 Abs.
3 EGV zuerkannten verbindlichen Wirkung wäre es unvereinbar, grundsätzlich
auszuschließen, dass sich betroffene Personen auf die durch die Richtlinie auferlegte
Verpflichtung berufen können. Insbesondere in den Fällen, in denen etwa die
Gemeinschaftsbehörden die Mitgliedsstaaten durch Richtlinie zu einem bestimmten
Verhalten verpflichten, würde die praktische Wirksamkeit einer solchen Maßnahme
abgeschwächt, wenn die Einzelnen sich vor Gericht hierauf nicht berufen und die
staatlichen Gerichte sie nicht als Bestandteil des Gemeinschaftsrechts berücksichtigen
könnten. Daher kann ein Mitgliedsstaat, der die in der Richtlinie vorgeschriebenen
Durchführungsmaßnahmen nicht fristgemäß erlassen hat, dem Einzelnen nicht
entgegenhalten, dass er die aus dieser Richtlinie erwachsenden Verpflichtungen nicht
erfüllt hat. Demnach können sich die Einzelnen in Ermangelung von fristgemäß
erlassenen Durchführungsmaßnahmen auf Bestimmungen einer Richtlinie, die inhaltlich
als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, gegenüber allen innerstaatlichen,
nicht richtlinienkonformen Vorschriften berufen; Einzelne können sich auf diese
Bestimmungen auch berufen, soweit diese Rechte festlegen, die dem Staat gegenüber
geltend gemacht werden können.
23
EuGH, Urteil vom 19. Januar 1982 - Rs. 8/81 - Becker, Slg. 1982, 53, Rdn. 23 ff.; dem
folgend BVerfG, Beschluss vom 8. April 1987 - 2 BvR 687/85 -, BVerfGE 75, 223 (239
ff.).
24
Diese Voraussetzungen liegen in Bezug auf Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88/EG vor.
Die Umsetzungsfrist für diese Bestimmung ist abgelaufen. Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie hat
Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 93/104/EG vom 23. November 1993 über bestimmte Aspekte
der Arbeitszeitgestaltung (ABl. L 307 vom 13. Dezember 1993, S. 18) übernommen, der
bereits in der Ursprungsfassung dieser Richtlinie mit dem heutigen Wortlaut enthalten
war. Gemäß Art. 18 Abs. 1 a) der Richtlinie 93/104/EG waren die Mitgliedstaaten
verpflichtet, diese Richtlinie bis zum 23. November 1996 umzusetzen. Die neue
Kodifizierung durch die Richtlinie 2003/88/EG hat diese Umsetzungsfrist
unberücksichtigt gelassen (Art. 27 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG).
25
Ebenso OVG NRW, Urteil vom 7. Mai 2009 - 1 A 2652/07 -; VG Düsseldorf, Urteil vom 4.
August 2010 - 13 K 8443/09 -; vgl. auch VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 4. August
2009 - 1 L 667/09 - (jeweils juris).
26
Eine Umsetzung der Richtlinie ist insoweit bislang nicht erfolgt. Die das
Rechtsverhältnis der Beteiligten betreffenden nationalen Regelungen (insbesondere die
Erholungsurlaubsverordnung) enthalten keine Bestimmung, aus der sich - direkt oder im
Wege richtlinienkonformer Auslegung - ein Abgeltungsanspruch für krankheitsbedingt
27
nicht in Anspruch genommenen Erholungsurlaub ergibt.
Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88/EG ist in Bezug auf den Abgeltungsanspruch von
Erholungsurlaub auch inhaltlich unbedingt und hinreichend genau. Zwar regelt die
Vorschrift ihrem Wortlaut nach nur, dass der bezahlte Mindestjahresurlaub, außer bei
Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt
werden darf. Hieraus hat der Europäische Gerichtshof über das unmittelbar geregelte
Verbot hinaus jedoch abgeleitet, dass Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88/EG
einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten entgegensteht, nach denen
für nicht genommenen Jahresurlaub am Ende des Arbeitsverhältnisses keine finanzielle
Vergütung gezahlt wird, wenn der Arbeitnehmer während des gesamten
Bezugszeitraums und/oder Übertragungszeitraums oder eines Teils davon
krankgeschrieben bzw. im Krankheitsurlaub war und deshalb seinen Anspruch auf
bezahlten Jahresurlaub nicht ausüben konnte. Der Arbeitnehmer habe in dieser
Situation einen sich aus Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88/EG ergebenden Anspruch
auf Abgeltung des wegen Krankheit nicht genommenen Urlaubs, für dessen
Berechnung das gewöhnliche Arbeitsentgelt des Arbeitnehmers, das während der dem
bezahlten Jahresurlaub entsprechenden Ruhezeit weiterzuzahlen sei, maßgebend sei.
28
Urteil vom 20. Januar 2009 - C 350/06 und C 520/06 - (juris).
29
Damit ist Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88EG in der Auslegung, die er durch das Urteil
des Europäischen Gerichtshofs erfahren hat, in Bezug auf den Abgeltungsanspruch von
Erholungsurlaub hinreichend genau.
30
VG Düsseldorf, Urteil vom 4. August 2010 - 13 K 8443/09 -; VG Berlin, Urteil vom 10.
Juni 2010 - 5 K 175.09 -; a. A. VG München, Urteil vom 17. November 2009 - M 5 K
09.1324 - (jeweils juris).
31
Dem Abgeltungsanspruch des Klägers steht auch Art. 15 der Richtlinie nicht entgegen.
Nach diesem Artikel bleibt das Recht der Mitgliedstaaten unberührt, für die Sicherheit
und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer günstigere Rechts- und
Verwaltungsvorschriften anzuwenden oder zu erlassen oder die Anwendung von für die
Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer günstigeren Tarifverträgen
oder Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern zu fördern oder zu gestatten.
Bestehen in diesem Sinne günstigere Regelungen, gehen diese den Bestimmungen der
Richtlinie vor.
32
An einer streitgegenstandsgleichen nationalen Bestimmung mangelt es. Für die
Abgeltung von wegen Krankheit nicht genommenen Urlaubs vor Eintritt in den
Ruhestand bestehen in der Bundesrepublik Deutschland keine günstigeren
Regelungen.
33
Soweit das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz in seinem Urteil vom 30. März
2010 - 2 A 11321/09 - im Hinblick auf diese Frage eine "strukturelle Betrachtung"
vornimmt und ausführt,
34
"Insoweit ist aber zu berücksichtigen, dass die Richtlinie 2003/88/EG zwar keine
ausdrückliche Abweichung von deren Art. 7 zulässt. Jedoch bleibt das Recht der
Mitgliedstaaten, für die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer
günstigere Rechtsvorschriften anzuwenden, gemäß Art. 15 RL 2003/88/EG unberührt.
35
Bei den für den Fall einer dienstunfähigen Erkrankung geltenden beamtenrechtlichen
Vorschriften handelt es sich um solcherart für den Beamten vorteilhaftere Regelungen.
Ihm muss daher in den Fällen, in denen er krankheitsbedingt an der Inanspruchnahme
des Urlaubs gehindert war und diesen wegen seines Ausscheidens aus dem aktiven
Dienstverhältnis auch nicht nachträglich nehmen konnte, kein Abgeltungsanspruch
eingeräumt werden.
Dabei ist der Gegenüberstellung der europarechtlichen sowie der nationalen
Schutzvorschriften nicht eine punktuelle, sondern eine strukturelle Betrachtung
zugrunde zu legen. Ein allein auf die Frage der nachträglichen Urlaubsvergütung
abstellender Vergleich ließe andere zugunsten des Beamten in der konkreten Situation
greifende günstigere Schutzmaßnahmen unberücksichtigt. Folge dessen wäre, dass mit
der Zuerkennung eines Abgeltungsanspruchs die den Mindeststandard der Richtlinie
insgesamt ohnehin überschreitende Situation des Beamten sowohl gegenüber den
europarechtlichen Vorgaben wie auch im Vergleich mit Arbeitnehmern zusätzlich
verbessert würde." (juris, Rn. 31 f.),
36
folgt die Kammer dem nicht. Die im deutschen Recht verankerten Unterschiede
zwischen Beamten und Arbeitnehmern können für sich genommen keinen Ausschluss
des Abgeltungsanspruchs begründen. Denn geht man - wie ausgeführt - davon aus,
dass Beamte trotz ihres im öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis gründenden
besonderen Status "Arbeitnehmer" im Sinne der Richtlinie sind, so haben die nach
deutschen Recht bestehenden "strukturellen" Unterschiede bei der weiteren
Begründung des Anspruchs außer Betracht zu bleiben.
37
Mag auch das deutsche Beamtenrecht für den Fall einer zur dauernden
Dienstunfähigkeit führenden Erkrankung für den Beamten günstige Regelungen
bereithalten und ihm insgesamt eine im Vergleich zu nicht über den Beamtenstatus
verfügenden Arbeitnehmern verbesserte Rechtsstellung einräumen, so ist eine
Heranziehung anderer, jenseits des Regelungsgegenstandes der Richtlinie liegender
nationaler Bestimmungen zur Kompensation von gegenüber den Richtlinienvorgaben
bestehenden Nachteilen nicht möglich. Eine derartige Erweiterung des Kreises
"günstiger Regelungen" würde dem Regelungswillen des Richtliniengebers und vor
allem dem Gebot der praktischen Wirksamkeit ("Effet utile") des europäischen Rechts
widersprechen, wenn das europäische Recht - wie hier - in der Richtlinie bestimmte
Mindeststandards vorschreibt, hinter denen das nationale Recht nicht zurückbleiben
darf.
38
Ebenso EuGH, Urteil vom 1. Dezember 2005 - Rs. C 14/04 -, juris, Rdn. 53:
"Unabhängig von der Anwendung solcher [günstigerer] nationaler Bestimmungen muss
jedoch die praktische Wirksamkeit der Rechte, die den Arbeitnehmern durch die
Richtlinie 93/104 verliehen werden, in vollem Umfang gewährleistet werden, was
notwendig die Verpflichtung für die Mitgliedstaaten impliziert, die Einhaltung jeder der in
dieser Richtlinie aufgestellten Mindestvorschriften zu gewährleisten."
39
Überdies bliebe bei einem solchen Ansatz auch offen, in welchem Umfang nationale
Bestimmungen in die Vergleichsbetrachtung einbezogen werden dürften. Deren
Auswahl und Bewertung läge dann bei dem zur Entscheidung des konkreten Streitfalls
berufenen nationalen Gericht mit der Folge, das jeweils unterschiedlich weite
Regelungsbereiche - und zudem zwischen den Mitgliedstaaten differierend - in den
Blick genommen würden; auch dies wäre mit dem auch für Richtlinien geltenden Gebot
40
der praktischen Wirksamkeit nicht zu vereinbaren.
VG Düsseldorf, Urteil vom 4. August 2010 - 12 K 8443/09 - (juris).
41
Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen kann eine gegenüber Art. 7 Abs. 2 der
Richtlinie für den Kläger günstigere Regelung nicht angenommen werden, weil ihm als
Beamten im Falle der Erkrankung bis zur Zurruhesetzung seine Bezüge in vollem
Umfang gezahlt werden, Arbeitnehmer dagegen nur im Rahmen des
Entgeltfortzahlungsgesetzes einen Anspruch auf Fortzahlung ihres Arbeitslohns haben
und danach auf das Krankengeld verwiesen sind.
42
So aber OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 30. März 2010 - 2 A 11321/09 -;
43
Zwar entstehen deshalb bei der Erkrankung eines Beamten - anders als im Falle eines
Arbeitnehmers - weder für den Dienstherrn finanzielle Vorteile durch ein Freiwerden von
der Entgeltpflicht noch für den Beamten Nachteile infolge einer Verringerung der
Besoldung. Insoweit mag dem OVG Rheinland-Pfalz zuzugeben sein, dass im Hinblick
auf finanzielle Einbußen eine "Notwendigkeit" zu einem Ausgleich nicht besteht. Darauf
kommt es jedoch nicht an. Der Europäische Gerichtshof ließ sich gerade nicht von der
Vorstellung leiten, dass in den von ihm entschiedenen Fällen die Beschäftigten
während ihrer langen Krankheit nur eine gegenüber dem normalen Entgelt reduzierte
Vergütung erhalten. Wie sich aus der Vorgabe des Europäischen Gerichtshofs zur
Berechnung der Urlaubsabgeltung schließen lässt, werden die Bezüge des
dienstunfähigen Arbeitnehmers nicht mit denen eines vergleichbaren gesunden
Arbeitnehmers saldiert. Vielmehr steht die Urlaubsabgeltung ohne Rücksicht auf
denjenigen Betrag zu, den der dienstunfähige Arbeitnehmer bereits erhalten hat.
44
VG Berlin, Urteil vom 10. Juni 2010 - 5 K 175.09 -.
45
Mit dem Eintritt des Klägers in den Ruhestand lag auch eine Beendigung des
Arbeitsverhältnisses im Sinne des Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88/EG vor. Dem steht
nicht entgegen, dass sich bei einem Beamten das aktive Beamtenverhältnis mit der
Zurruhesetzung in ein Ruhestandsverhältnis umwandelt und das Rechtsverhältnis zum
Dienstherrn fortbesteht.
46
So aber VG Koblenz, Urteil vom 3. November 2009 - 2 K 180/09.KO -; VG München,
Urteil vom 17. November 2009 - M 5 K 09.1324 -, VG Düsseldorf, Urteil vom 4. Juni 2010
- 26 K 3499/09 - (jeweils juris).
47
Bei der Definition des Tatbestandsmerkmals "Beendigung des Arbeitsverhältnisses"
haben die nach deutschem Recht begründeten "strukturellen" Unterschiede zwischen
Beamten und Arbeitnehmern ebenfalls außer Betracht zu bleiben, um den eröffneten
Anwendungsbereich für Beamte nicht leerlaufen zu lassen. Maßgeblich für die
Definition des Tatbestandsmerkmals ist deshalb der Regelungsgehalt der Norm unter
Berücksichtigung der vom Europäischen Gerichtshof vorgenommenen Auslegung. Nach
ihrem Wortlaut verfolgt die Bestimmung zunächst das Ziel, dass sich ein noch im Dienst
stehender Arbeitnehmer seinen Erholungsurlaub nicht "abkaufen" lassen darf. Darüber
hinaus soll sie nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dem
Arbeitnehmer aber das finanzielle Äquivalent seines Urlaubsanspruchs sichern, wenn
er seinen Urlaubsanspruch aufgrund seiner Erkrankung nicht realisieren konnte und
aufgrund der Beendigung des Arbeitsverhältnisses auch nicht mehr realisieren kann.
48
Damit bezeichnet der Begriff der Beendigung des Arbeitsverhältnisses einen Zustand, in
dem der Arbeitnehmer nicht mehr zur Dienstleistung verpflichtet ist und entsprechend
keinen Urlaub mehr nehmen kann, unabhängig davon, ob der frühere Arbeitgeber oder
Dienstherr mit Rücksicht auf das frühere Arbeitsverhältnis Versorgungs-,
Betriebsrentenleistungen oder ähnliches gewährt.
Vgl. EuGH, Urteil vom 20. Januar 2009 - C 350/06 und C 520/06 -, juris, Rdn. 56: "Wenn
das Arbeitsverhältnis endet, ist es nicht mehr möglich, tatsächlich bezahlten
Jahresurlaub zu nehmen.", VG Düsseldorf, Urteil vom 5. August 2010 - 13 K 8443/09 -;
VG Berlin, Urteil vom 10. Juni 2010 - 5 K 175.09 -; VG Frankfurt, Beschluss vom 25. Juni
2010 - 9 K 836/10.F - (jeweils juris).
49
Dieser Zustand ist aber nicht nur dann erreicht, wenn die Rechtsbeziehungen zu dem
bisherigen Arbeitgeber oder Dienstherrn gänzlich beendet sind, sondern liegt auch dann
vor, wenn diese derart umgestaltet sind, dass jedenfalls die Dienstleistungspflicht des
Arbeitnehmers entfällt. Eine solche Situation ist bei dem Eintritt eines Beamten in den
Ruhestand gegeben. Die Dienstleistungspflicht des Beamten erlischt und damit
einhergehend die Möglichkeit, Urlaub zu nehmen. Demzufolge ist das
Ruhestandsverhältnis eines Beamten nicht als fortbestehendes Arbeitsverhältnis im
Sinne von Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88/EG zu werten; vielmehr liegt mit seinem
Eintritt in den Ruhestand eine Beendigung seines Arbeitsverhältnisses im Sinne dieser
Bestimmung vor.
50
VG Düsseldorf, Urteil vom 5. August 2010 - 13 K 8443/09 -; VG Berlin, Urteil vom 10.
Juni 2010 - 5 K 175.09 -, Rn. 20, juris; a.A. VG Koblenz, Urteil vom 3. November 2009 -
2 K 180/09.KO -; VG München, Urteil vom 17. November 2009 - M 5 K 09.1324 -; VG
Düsseldorf, Urteil vom 4. Juni 2010 - 26 K 3499/09 - (jeweils juris).
51
Der Anspruch auf Urlaubsabgeltung aus Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88/EG besteht
nur bis zur Höhe des durch Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie gewährleisteten Mindesturlaubs,
demgemäß vier Wochen. In Ansehung der Verteilung der regelmäßigen wöchentlichen
Arbeitszeit auf fünf Arbeitstage entspricht dies für den Kläger einem Mindesturlaub von
20 Tagen im Kalenderjahr. Der darüber hinaus gehende Anspruch auf Erholungsurlaub
nach nationalem Recht, hier nach § 5 EUV, wird von der Gewährleistung des
Abgeltungsanspruchs in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie nicht erfasst.
52
Denn der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 20. Januar 2009, in dem er
den Gewährleistungsgehalt des Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88/EG auch als
Abgeltungsanspruch definiert hat, zugleich in Bezug auf die Frage der Höhe der
Abgeltung auf die "Dauer des Jahresurlaubs im Sinne dieser Richtlinie" (Rn. 58 des
Urteils) abgestellt und nicht etwa auf den nach einzelstaatlichen Regeln eingeräumten,
möglicherweise längeren Urlaub. Die insoweit - die Dauer des Urlaubs betreffende -
günstigere einzelstaatliche Vorschrift (Art. 15 der Richtlinie) nimmt mit ihren zusätzlichen
Rechten nicht an den Gewährleistungen der Richtlinie teil, die sich in beiden Absätzen
des Art. 7 ausdrücklich auf den Mindestjahresurlaub beschränkt.
53
VG Düsseldorf, Urteil vom 4. August 2010 - 13 K 8443/09 - (juris).
54
Die Entkoppelung des Mindestjahresurlaubs im Sinne der Richtlinie von dem
weitergehenden einzelstaatlichen Erholungsurlaub hat zur Folge, dass die
Gewährleistungen aus der Richtlinie immer dann, aber auch nur dann eintreten, wenn
55
und soweit der Arbeitnehmer im jeweiligen Kalenderjahr nicht vier Wochen Urlaub hatte.
Nur dieser Aspekt wird dem primären Zweck der Richtlinie, für Sicherheit und
Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung zu sorgen, gerecht. Es ist deshalb
unerheblich, ob und in welchem Umfang der in einem Kalenderjahr nicht genommene
Mindesturlaub in der Abrechnung aus Ansprüchen desselben oder des Vorjahres
bedient worden wäre. Es reduziert andererseits den Anspruch auf Urlaubsabgeltung,
wenn und soweit der im Verlauf eines Jahres erkrankte Beamte im selben Jahr noch
Urlaubsansprüche des Vorjahres verwendete.
VG Berlin, Urteil vom 10. Juni 2010 - 5 K 175.09 - (juris).
56
Nach diesen Maßstäben steht dem Kläger ein Abgeltungsanspruch für zehn
Urlaubstage aus dem Jahr 2008 zu. Da der Kläger zum 1. September 2008 in den
Ruhestand versetzt wurde, standen ihm für das Kalenderjahr 2008 13 Urlaubstage zu.
Nach der von der Beklagten vorgelegten Urlaubskartei hat der Kläger im Jahr 2008
bereits drei Urlaubstage genommen.
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Für die Berechnung der finanziellen Abgeltung macht der Europäische Gerichtshof die
Vorgabe, dass dem Beschäftigten das gewöhnliche Arbeitsentgelt zusteht (Rn. 62).
Maßgeblich ist das dem Beamten unmittelbar vor der Pensionierung zustehende
Bruttogehalt. Der zeitliche Bezug, mit dem etwaige Gehaltserhöhungen, Änderungen
des Besoldungsdienstalters, des Familienzuschlags usw. während der
Krankheitsperiode außer Acht bleiben, ergibt sich aus der Überlegung, dass die
finanzielle Abgeltung erst nach der "Beendigung des Arbeitsverhältnisses" gezahlt
werden darf und der während der Krankheit aufgelaufene, nicht verjährte Mindest-
jahresurlaub im Fall der Gesundung noch hätte genommen werden dürfen; die
Kommerzialisierung des Urlaubs tritt mithin erst am Ende der aktiven Dienstzeit ein.
58
Das zu zahlende Entgelt ist vom Beklagten bei der Bewilligung wie folgt zu berechnen:
Das Bruttogehalt des letzten Monats vor der Pensionierung mal 3 (Quartalsbetrachtung)
geteilt durch 13 (Wochenzahl des Quartals) geteilt durch 5 (Arbeits-/Urlaubstage je
Woche) mal die Zahl der zustehenden Urlaubstage (hier: 10).
59
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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