Urteil des VG Gelsenkirchen vom 07.10.2003

VG Gelsenkirchen: grobe fahrlässigkeit, arbeitslosenhilfe, verwaltungsakt, sozialhilfe, rechtswidrigkeit, unverzüglich, rückforderung, vollstreckung, psychotherapie, psychiatrie

Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 2 K 3594/01
Datum:
07.10.2003
Gericht:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen
Spruchkörper:
2. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
2 K 3594/01
Tenor:
Der Leistungsbescheid des Beklagten vom 4. November 1999 in der
Gestalt des Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 10. Juli 2001
wird aufgehoben. Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
Gerichtskosten werden nicht erhoben. Das Urteil ist hinsichtlich der
Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die
Vollstreckung seitens der Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe
des jeweils beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht die
Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit leistet.
T a t b e s t a n d :
1
Die Klägerin wendet sich gegen die teilweise Rückforderung von laufend bezogenen
ergänzenden Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz für die Zeit vom 20. August
1997 bis zum 28. Februar 1999.
2
Am 21. Juli 1997 stellte die Klägerin einen - verkürzten - Antrag auf Gewährung von
Leistungen der Sozialhilfe. Dabei legte sie einen Bewilligungsbescheid des
Arbeitsamtes Essen vom 11. Juli 1997 vor, der mit Wirkung vom 6. August 1997 eine
wöchentliche Arbeitslosenhilfe von 188,40 DM festsetzte, woraus sich eine monatliche
Arbeitslosenhilfe in Höhe von 816,40 DM errechnete. Die Festsetzung der Leistung
erfolgte - wie im Bescheid ausdrücklich angegeben - vorläufig, die endgültige
Festsetzung sollte durch gesonderten Bescheid erfolgen. Die Klägerin verpflichtete sich
mit ihrer Unterschrift unter dem Antrag vom 21. Juli 1997 u.a., jede Veränderung in ihren
Einkommensverhältnissen stets und unaufgefordert dem Sozialamt anzugeben. In
seinen in der Folgezeit mit Bescheiden vom 22. Juli 1997, vom 20. August 1997, vom
19. November 1997, vom 19. Mai 1998, vom 21. Juni 1998, vom 22. Juli 1998 und vom
20. Januar 1999 bewilligten Leistungen von ergänzender Hilfe zum Lebensunterhalt,
rechnete der Beklagte eine monatliche Arbeitslosenhilfe in Höhe von 816,40 DM an.
Sämtlichen Bescheiden war die Belehrung beigefügt, u.a. jede Änderung in den
Einkommensverhältnissen unverzüglich der Bewilligungsbehörde mitzuteilen.
Tatsächlich bezog die Klägerin Arbeitslosenhilfe in der Zeit vom 6. August 1997 bis 31.
Dezember 1997 in Höhe von 226,80 DM wöchentlich (= 985,50 DM monatlich), in der
Zeit vom 1. Januar 1998 bis zum 31. Dezember 1998 in Höhe von 227,99 DM
wöchentlich (= 990,67 DM monatlich) und in der Zeit vom 1. Januar 1999 bis zum 28.
Februar 1999 von 228,48 DM wöchentlich (= 992,80 DM monatlich).
3
Befragt zu diesen erhöhten Leistungen der Arbeitslosenhilfe gab die Klägerin bei ihrer
Vorsprache am 5. Februar 1999 an, ihr sei die Erhöhung nicht richtig bewusst
geworden. Sie bitte, die Überzahlung auszurechnen und in Raten einzubehalten. Sie
erkläre ausdrücklich, dass sie die Änderung nicht bewusst verschwiegen habe, da sie
die Änderungsbescheide nicht erhalten habe.
4
Mit Rückforderungsbescheid vom 4. November 1999 hob der Beklagte seine
Bewilligungsbescheide vom 22. Juli 1997, vom 20. August 1997, vom 19. November
1997, vom 19. Mai 1998, vom 21. Juni 1998, vom 22. Juli 1998 und vom 20. Januar
1999 in Höhe jeweils monatsweise spezifizierter Überzahlungsbeträge auf und forderte
die Klägerin zur Rückzahlung von insgesamt 1.675,94 DM auf.
5
Hiergegen legte die Klägerin am 23. November 1999 Widerspruch ein. Es sei für sie
nicht erkennbar gewesen, unberechtigte Mehrzahlungen erhalten zu haben.
Änderungsbescheide habe sie nicht bekommen. Sie sei gutgläubig gewesen und von
der Richtigkeit der Zahlungen ausgegangen. Für einen Laien sie zudem die richtige
Berechnung von Sozialleistungen kaum durchschaubar. In der Regel müsse sie davon
ausgehen, dass die erbrachte Leistung aufgrund einer richtigen Berechnung erfolge. Sie
genieße insofern Vertrauensschutz.
6
Mit Widerspruchsbescheid vom 10. Juli 2001 wies der Beklagte den Widerspruch
zurück. Die Klägerin habe entgegen ihrer Verpflichtung die Veränderungen in ihren
Einkommensverhältnissen dem Beklagten nicht mitgeteilt. Vertrauensschutz genieße
sie daher nicht.
7
Am 8. August 2001 hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.
8
Zur Begründung verweist sie auf ihre Ausführungen im Widerspruchsverfahren und trägt
unter Vorlage mehrerer fachärztlicher Stellungnahmen zusammengefasst ergänzend
vor: Sie habe sich seit längerer Zeit in einem besonderen psychischen Zustand
befunden, der es ihr nicht ermöglicht habe, die Übersicht zu bewahren und ihre
persönlichen Dinge angemessen zu regeln.
9
Die Klägerin beantragt,
10
den Leistungsbescheid des Beklagten vom 4. November 1999 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 10. Juli 2001 aufzuheben.
11
Der Beklagte beantragt,
12
die Klage abzuweisen.
13
Zur Begründung bezieht sie sich im Wesentlichen auf den Inhalt der angefochtenen
Bescheide.
14
Durch Beschluss vom 26. Juni 2003 hat die Kammer den Rechtsstreit auf den
Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
15
Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer (erneuten) mündlichen Verhandlung
verzichtet.
16
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.
17
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
18
Das Gericht entscheidet ohne mündliche Verhandlung, da die Beteiligten auf eine
solche verzichtet haben, § 101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -.
19
Der Leistungsbescheid des Beklagten vom 4. November 1999 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides des Beklagten vom 10. Juli 2001 ist rechtswidrig und verletzt
die Klägerin in ihren Rechten, vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
20
Rechtsgrundlage der Rücknahmeentscheidung des Beklagten ist § 45 Abs. 1 i.V.m.
Abs. 2 und 4 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch - SGB X -. Danach wird ein
Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet, mit
Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen, soweit er rechtswidrig ist. Dies gilt
jedoch nur dann, wenn ein Vertrauen des Begünstigten auf den Bestand des
Verwaltungsaktes unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme
nicht schutzwürdig ist. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte u.a. nicht berufen,
soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder
grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat
bzw. er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober
Fahrlässigkeit nicht kannte.
21
Rechtswidrig waren die Bewilligungsbescheide vom 22. Juli 1997, vom 20. August
1997, vom 19. November 1997, vom 19. Mai 1998, vom 21. Juni 1998, vom 22. Juli 1998
und vom 20. Januar 1999 insoweit, als der Klägerin ein höheres als das angerechnete
Einkommen zur Verfügung stand. Hilfe zum Lebensunterhalt ist gemäß § 11 Abs. 1 Satz
1 des Bundessozialhilfegesetzes - BSHG - dem zu gewähren, der seinen notwendigen
Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, vor allem
aus seinem Einkommen und Vermögen, beschaffen kann. Zum Einkommen im Sinne
der sozialhilferechtlichen Bestimmungen gehören grundsätzlich alle Einkünfte in Geld
oder Geldeswert mit Ausnahme der Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz, der
Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz und der Renten oder Beihilfen, die
nach dem Bundesentschädigungsgesetz für Schäden an Leben sowie an Körper oder
Gesundheit gewährt werden, bis zur Höhe der vergleichbaren Grundrente nach dem
Bundesversorgungsgesetz, § 76 Abs. 1 BSHG. Leistungen der Arbeitslosenhilfe
rechnen hierzu.
22
Vgl. z.B. Brühl in: Birk u.a., Bundessozialhilfegesetz, Lehr- und Praxiskommentar, 6.
Auflage, Baden-Baden 2003, § 76 Rn 19.
23
Die von der Klägerin im hier interessierenden Zeitraum bezogenen Leistungen der
Arbeitslosenhilfe führten dazu, dass die der Klägerin bewilligten Leistungen der
Sozialhilfe jedenfalls in dem Umfang rechtswidrig waren, in dem sie der Beklagte
seinem Rückforderungsbescheid vom 4. November 1999 zu Grunde gelegt hat.
Angemerkt sei allerdings: Die Ermittlung der Anrechnungsbeträge aus der
Arbeitslosenhilfe erscheint nicht von Vornherein durchweg plausibel (vgl. Beiakte Heft 1,
Blatt 145 R). Die vom Beklagten für die Zeit ab 1. Januar 1999 zu Grunde gelegte
Berechnung geht dagegen nachvollziehbar von einem wöchentlichen Zahlbetrag aus,
24
der für eine tageweise Berechnung durch 7 dividiert wird. Die monatsweise Berechnung
erfolgt dergestalt, dass der ermittelte „Tagessatz" mit 365 multipliziert und dieses
Ergebnis wiederum durch 12 dividiert wird (Beiakte Heft 1 Bl. 146). Diese
Berechnungsweise ist nachvollziehbar und hinreichend genau. Sie ist nach Auffassung
der Kammer daher auch dem gesamten hier interessierenden Zeitraum zu Grunde zu
legen. Daraus ergibt sich für den Monat August 1997 (12 Bewilligungstage) ein
Anrechnungsbetrag von 388,80 DM. Für die Monate September bis Dezember 1997
ergibt sich ein Anrechnungsbetrag in Höhe von monatlich 985,50 DM. Im Jahre 1998 ist
monatlich ein Anrechnungsbetrag von 990,67 DM anzunehmen, für das Jahr 1999 ein
Monatsbetrag von 992,80 DM. Angesichts dessen ist erkennbar, dass der Beklagte die
Anrechnungsbeträge für die Zeit vom 20. August 1997 bis zum 31. Dezember 1998 in
seinem Rückforderungsbescheid um jeweils ein Geringes zu niedrig angesetzt hat.
Allerdings kann die Klägerin schutzwürdiges Vertrauen für sich in Anspruch nehmen.
Dies betrifft sowohl § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X als auch § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3
SGB X, da die Klägerin aufgrund ihrer persönlichen Umstände jedenfalls den Vorwurf
grober Fahrlässigkeit ausräumen konnte.
25
Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X nicht
berufen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte grob
fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. Dem
steht es gleich, wenn die Verpflichtung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgesetzbuch
Allgemeiner Teil - SGB I -, wonach derjenige, der Sozialleistungen erhält, Änderungen
in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind, unverzüglich mitzuteilen hat,
grob fahrlässig nicht erfüllt wird. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte gemäß § 45
Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X auch nicht berufen, soweit er die Rechtswidrigkeit des
Verwaltungsaktes infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Die in § 45 Abs. 2 Satz 3
SGB X vorausgesetzte grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die
erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, vgl. § 45 Abs. 2 Satz 3
Nr. 3 SGB X. Dabei normiert das Gesetz einen subjektiven Fahrlässigkeitsbegriff, d.h. es
kommt nicht darauf an, wie sich ein normaler, ordentlicher und gewissenhafter Mensch
in der betreffenden Lage verhalten würde.
26
So aber der im Zivilrecht maßgebliche Fahrlässigkeitsmaßstab, vgl. z.B. Battes in:
Erman, Bürgerliches Gesetzbuch, 10. Auflage, Münster u.a. 2000, § 276 Rn 19 m.w.N.
27
Für die Frage der groben Fahrlässigkeit kommt es im vorliegenden Zusammenhang
vielmehr auf die persönliche Urteils- und Kritikfähigkeit, das Einsichtsvermögen und
Verhalten des konkreten Leistungsempfängers, sowie auf die besonderen Umstände
des Falles an. Grobe Fahrlässigkeit setzt hiernach eine Sorgfaltspflichtverletzung
ungewöhnlich hohen Ausmaßes, d.h. eine besonders grobe und auch subjektiv
schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung voraus, die das gewöhnliche Maß der
Fahrlässigkeit erheblich übersteigt. Subjektiv schlechthin unentschuldbar ist ein
Verhalten, wenn schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt
werden, also nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss.
28
Vgl. die grundlegende Entscheidung des Bundessozialgerichts, Urteil vom 31. August
1976 - 7 RAr 112/74 -, BSGE 42, S. 184 ff. (S. 187).
29
Einem Fahrlässigkeitsvorwurf dürfte die Klägerin grundsätzlich wohl nicht entgehen
können. Als Bezieherin von Leistungen der Sozialhilfe war ihr bekannt, Änderungen der
30
Einkommensverhältnisse dem Beklagten melden zu müssen. Dies hat sie noch am 21.
Juli 1997 durch ihre Unterschrift unter die entsprechende Verpflichtungserklärung
dokumentiert (Beiakte Heft 1 Bl. 100 R). Ihr war auch an Hand des
Bewilligungsbescheides des Arbeitsamtes Essen vom 11. Juli 1997 bekannt, dass die
dortige Leistungsfestsetzung nur eine Vorläufige war (Beiakte Heft 1 Bl. 103). Zudem
weisen die Bewilligungsbescheide des Beklagten durchgehend einen
Anrechnungsbetrag „Arbeitslosenhilfe 816,40 DM" auf, also einen Betrag, der auch für
die Klägerin erkennbar zu niedrig war. Zudem enthalten alle Bewilligungsbescheide die
weitere Belehrung über die Pflicht, Änderungen in den Einkommensverhältnissen
unverzüglich dem Beklagten mitzuteilen. Diesen Verpflichtungen ist die Klägerin nicht
nachgekommen. Die besondere persönliche Situation der Klägerin im
Bewilligungszeitraum rechtfertigt allerdings die Feststellung, ihr Verhalten beruhe auf
einem minderen Grad als dem der groben Fahrlässigkeit. Zur Beleuchtung der
persönlichen Situation der Klägerin im Bewilligungszeitraum sind neben der
psychologischen Bescheinigung des Dipl.-Psychologen Q. vom 14. November 2001 die
fachärztlichen Gutachten des Dr. med. C. , Arzt für Psychiatrie und Neurologie,
Psychotherapie, vom 20. März 1997 und vom 10. Dezember 1998, des Prof. Dr. med. T. ,
Universitätsklinikum F. , vom 14. Februar 1996, und des Dr. med. , Arzt für
Psychiatrie/Psychotherapie, vom 26. Januar 1999 zu Grunde zu legen. Aus den in
diesen Gutachten mitgeteilten Tatsachen und ärztlichen Befunden drängt sich der
Schluss auf, dass die Klägerin im hier interessierenden Zeitraum ausschließlich mit dem
Gelingen ihrer Geschlechtsrolle beschäftigt war (vgl. die Formulierung auf S. 7 des
Gutachtens vom 20. März 1997). Zu berücksichtigen ist insoweit zunächst der
ärztlicherseits bejahte - hohe (Gutachten vom 20. März 1997, S. 8) - Leidensdruck der
Klägerin (vgl. § 1 Abs. 1 bzw. § 8 Abs. 1 des Transsexuellengesetzes: „ ... und seit
mindestens drei Jahren unter dem Zwang steht, ihren Vorstellungen entsprechend zu
leben ..."). Weiterhin stand die Klägerin zur Vorbereitung des operativen Wechsels der
äußeren Geschlechtsmerkmale in einer Hormonbehandlung. Darüber hinaus wurde die
Klägerin ständig mit der eigenen Situation konfrontiert. Diese Konfrontation beruhte
zunächst auf den behandlungsbedürftigen eigenen seelischen Problemen, die mit dem
Wechsel der Geschlechtszugehörigkeit verbunden waren. Die Klägerin sah sich auch
immer wieder durch ihre Umgebung zur Auseinandersetzung mit ihrer eigenen
Lebensentscheidung und deren Rechtfertigung gezwungen: Sei es durch bedrückende
familiäre Umstände (so im Verhältnis zur Mutter der Klägerin), sei es im Bekannten- und
Freundeskreise oder auch in der Nachbarschaft (so z.B. bei der Identitätskrise im
Dezember 1997 und den Ereignissen im Frühjahr 1998). In dieses Bild fügt sich
unschwer die Feststellung einer Überforderungsreaktion (Gutachten vom 26. Januar
1999) der Klägerin ein. Unmittelbar verknüpft mit dem langwierigen Verfahren des
Wechsels der Geschlechtszugehörigkeit ist dabei die Sicherung der materiellen
Lebensgrundlage, um die sich die Klägerin immer wieder bemühen musste und bemüht
hat. So hat sie z.B. unter dem 21. Juli 1997 einen Sozialhilfeantrag gestellt und auch
notwendige Unterlagen - insbesondere den vorläufigen Bewilligungsbescheid des
Arbeitsamtes F. vom 11. Juli 1997 - vorgelegt. Dieser Sozialhilfeantrag beruhte auf der
Feststellung der Klägerin, das bisher gezahlte Arbeitslosengeld sei in Arbeitslosenhilfe
umgewandelt worden, so dass sie mit ihren Einkünften unter dem Regelsatz liege
(Beiakte Heft 1 Bl. 100). Weiterhin war die Klägerin - wie ihr Schreiben vom 14. Oktober
1997 an den Beklagten zeigt - ebenfalls in der Lage, mit nachvollziehbarer Begründung
(erfolgreich) eine Bekleidungspauschale zu beantragen (Beiakte Heft 1 Bl. 113). Diese
Umstände - wie auch ihre regelmäßigen Kontakte zum Arbeitsamt F. (vgl. z.B. Beiakte
Heft 2 Bl. 291, Fortzahlungsantrag auf Arbeitslosenhilfe vom 21. Juli 1998) - zeigen,
dass die Klägerin zielstrebig ihre eigenen Angelegenheiten, soweit es den Zufluss von
Einkommen betrifft, verfolgte. Diese Zielstrebigkeit war allerdings nach Lage der Dinge
ihrem primären Ziel der erfolgreichen Geschlechtsumwandlung unmittelbar zu- und
untergeordnet. Dies vorausgesetzt, wird deutlich, dass weitere Pflichten, die aus dem
Bezug von Einkommen flossen, für die Klägerin von nachrangiger Bedeutung waren
und angesichts ihrer persönlichen Belastung - und Überforderung - auch nur sein
konnten. Jedenfalls gehörte die Beachtung ihrer Mitwirkungspflichten, deren Verletzung
zur Rechtswidrigkeit der Bewilligungsbescheide führte, in der besonderen Situation der
Klägerin nicht mehr zu den einfachsten, ganz naheliegenden Überlegungen, deren
Beachtung in diesem konkreten Fall jedem einleuchten musste.
Die gemäß § 114 Satz 2 VwGO grundsätzlich zu berücksichtigenden ergänzenden
Ermessenserwägungen des Beklagten in seinem Schriftsatz vom 25. August 2003
können hier kein anderes Ergebnis rechtfertigen, da der im vorliegenden Fall
entscheidende Vertrauensschutzgedanke Teil der zwingenden Regelung in § 45 Abs. 2
SGB X ist.
31
Die dadurch entstehende Situation einer rechtswidrigen Bewilligung von Leistungen der
Sozialhilfe, deren Rückforderung gleichwohl ausgeschlossen ist, mag zwar
unbefriedigend erscheinen, ist aber durch die gesetzliche Regelung, die Rückforderung
in Fällen wie hier von einem besonderen Schuldvorwurf abhängig zu machen, im
Gesetz selbst angelegt und vorausgesetzt.
32
Nach alledem stellt sich die teilweise Aufhebung der Bewilligungsbescheide im
Rückforderungsbescheid vom 4. November 1999 ihrerseits als rechtswidrig dar.
Zugleich wird die Klägerin durch die teilweise Aufhebung der Bewilligungsbescheide in
ihren Rechten verletzt.
33
Demzufolge erweist sich auch die auf § 50 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 SGB X, wonach
bereits erbrachte Leistungen zu erstatten sind, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben
worden ist, gestützte Aufforderung des Beklagten, den Gesamtbetrag von 1.675,94 DM
dem Beklagten zu erstatten, als rechtswidrig. Diese Aufforderung verletzt ebenfalls die
Klägerin in ihren Rechten und ist daher gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben.
34
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.
35
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in
Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung.
36