Urteil des VG Gelsenkirchen vom 20.04.2010

VG Gelsenkirchen (kläger, ursächlicher zusammenhang, zecke, körperliche integrität, körperschaden, ort, anerkennung, dienstort, bundesamt, gefahr)

Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 12 K 206/08
Datum:
20.04.2010
Gericht:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen
Spruchkörper:
12. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
12 K 206/08
Schlagworte:
Zeckenbiss, Dienstunfall
Normen:
BeamtVG § 31 Abs 1
Tenor:
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides des Eisenbahn-
Bundesamtes vom 24. Juli 2007 und des Widerspruchsbescheides vom
5. Dezember 2007 verpflichtet, den Zeckenbiss vom 20. Juni 2007 als
Dienstunfall anzuerkennen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheits-leistung oder
Hinterlegung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils
vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der
Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu
vollstreckenden Betrages leistet.
T a t b e s t a n d:
1
Der Kläger steht als Technischer Regierungsamtsrat im Dienst der Beklagten. In seiner
Funktion als Sachbearbeiter für Eisenbahnaufsicht ist er zum Zwecke der Bauaufsicht
zu Abnahmen und Inspektionen von Bauwerken und bahntechnischen Anlagen auch im
Außendienst tätig. Er begehrt die Anerkennung eines Zeckenbisses als Dienstunfall.
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Am 20. Juni 2007 war der Kläger mit Außendiensttätigkeiten im Rahmen der
objektbezogenen Eisenbahnaufsicht in Form der Prüfung von Durchlässen und
Stützbauwerken im Netzbezirk G. befasst. Hierbei musste er auch Gestrüpp und hohes
Gras betreten. Nach Beendigung seiner Tätigkeit fuhr er nach Hause und stellte dort am
rechten Fuß (kleiner Zeh) einen Fremdkörper fest und erkannte nach Entfernung, dass
es sich hierbei um eine Zecke handelte.
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Der Kläger meldete den Vorfall am 21. Juni 2007 und beantragte die Anerkennung als
Dienstunfall.
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Durch Bescheid vom 24. Juli 2007 lehnte das Eisenbahn-Bundesamt (Bundesamt) die
Anerkennung des Zeckenbisses vom 20. Juni 2007 als Dienstunfall ab. Zur Begründung
führte das Bundesamt aus, dass der notwendige ursächliche Zusammenhang zwischen
dem Ereignis und den eigentlichen Dienstaufgaben nicht bestehe. Es liege vielmehr
eine reine "Gelegenheitsursache" vor, bei der die Beziehung zum Dienst eine rein
zufällige sei und das schädigende Ereignis nach menschlichem Ermessen bei jedem
anderen nicht zu vermeidenden Anlass in naher Zukunft ebenfalls eingetreten wäre
bzw. hätte eintreten können. Bei Zeckenbissen werde ein ursächlicher Zusammenhang
nur bei solchen Berufsgruppen bejaht, deren berufsbedingte Tätigkeit
schwerpunktmäßig darauf ausgerichtet sei, im Freien ausgeübt zu werden, wie z.B. bei
einem Forstbeamten, der den weit überwiegenden Teil seiner Arbeitszeit im Wald oder
in der freien Natur verbringe. Der tatsächliche Außendiensteinsatz des Klägers (etwa
20% der Arbeitszeit) weise einen solchen Schwerpunkt nicht auf.
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Am 16. August 2007 legte der Kläger gegen den Bescheid vom 24. Juli 2007
Widerspruch ein. Zur Begründung trug er vor, dass sich mit dem Zeckenbiss ein
berufsspezifisches Risiko verwirklicht habe. Es könne dabei keinen Unterschied
machen, ob der Außendiensteinsatz 20%, 50% oder 80% betrage.
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Durch Widerspruchsbescheid vom 5. Dezember 2007 wies das Bundesamt den
Widerspruch des Klägers zurück. Zur Begründung wiederholte es im Wesentlichen
seine Ausführungen im Bescheid vom 24. Juli 2007 und wies darauf hin, dass der
Kläger bei anders gelagertem Schwerpunkt nur gelegentlich im Rahmen der
Bauaufsicht zu Abnahmen und zu Inspektionen von Bauwerken und bahntechnischen
Anlagen im Außendienst unterwegs sei. Bei diesen gelegentlichen Anlässen unterliege
er einer allgemeinen Gefahr, von Zecken und anderen Insekten gebissen zu werden
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Der Kläger hat am 10. Januar 2008 die vorliegende Klage erhoben. Er trägt vor, dass
keine Gelegenheitsursache vorliege, da sich sein besonderes Berufsrisiko realisiert
habe.
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Der Kläger beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Eisenbahn-Bundesamtes vom 24.
Juli 2007 und des Widerspruchsbescheides vom 5. Dezember 2007 zu verpflichten, den
Zeckenbiss vom 20. Juni 2007 als Dienstunfall anzuerkennen.
10
Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie macht erneut geltend, dass die objektbezogene Eisenbahnaufsicht kein erhöhtes
Risiko beinhalte, von Zecken gebissen zu werden.
13
Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
14
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt
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der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
16
Das Gericht kann ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten auf die
Durchführung verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -
).
17
Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind insoweit
rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO) Der
Kläger hat einen Anspruch auf Anerkennung des von ihm angezeigten Zeckenbisses
als Dienstunfall.
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Nach § 31 Abs. 1 S. 1 BeamtVG ist ein Dienstunfall ein auf äußere Einwirkung
beruhendes, plötzliches, örtlich und zeitlich bestimmbares, einen Körperschaden
verursachendes Ereignis, das in Ausübung oder infolge des Dienstes eingetreten ist.
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Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Der Stich einer Zecke ist ein auf äußere
Einwirkung beruhendes, plötzliches Ereignis im Sinne der genannten Vorschrift, durch
das ein Körperschaden verursacht wird. Fallbezogen ist dieses Ereignis örtlich und
zeitlich bestimmbar und in Ausübung bzw. infolge des Dienstes eingetreten.
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Ein Körperschaden liegt vor, wenn der physische oder psychische Zustand eines
Menschen für eine bestimmte Mindestzeit ungünstig verändert ist, wobei es auf die
Schwere des Körperschadens grundsätzlich nicht ankommt und auch kleinere
Körperschäden rechtserheblich sind, wenn der Schaden aus medizinischer Sicht
Krankheitswert besitzt. Eine Behandlungsbedürftigkeit ist nicht erforderlich. Gemessen
hieran bewirkt ein Zeckenbiss einen Körperschaden. Zumindest während der Zeit, in der
die Zecke sich im Körper ihres Opfers festgebissen hat und unter gleichzeitiger
Absonderung eines Sekrets in den Körper des Opfers diesem Blut absaugt, ist der
physische Zustand des Opfers, das dieser Einwirkung (wehrlos) ausgesetzt ist, bis die
Zecke entfernt ist, im Sinne der obigen allgemein gebräuchlichen Definition eines
Körperschadens ungünstig verändert. Angesichts dessen beschränkt sich die
körperliche Beeinträchtigung nicht auf eine geringfügige Hautverletzung. Vielmehr
verschafft die Zecke sich durch ihren Biss unmittelbaren Zugang zu der Blutbahn ihres
Opfers, zapft diese an und verunreinigt die Bissstelle und damit letztlich das Blut ihres
Opfers mit dem von ihr abgesonderten Sekret, das u. a. der Betäubung der betroffenen
Hautstelle und der Ausschaltung der körpereigenen Immunabwehr dient. Hierdurch wird
die körperliche Integrität ihres Opfers in mehr als unerheblichem Umfang beeinträchtigt,
was zur Bejahung eines Körperschadens ausreicht. Dass die betroffene Hautstelle nach
Abfallen oder Entfernen der Zecke nur geringfügig verletzt ist und die Einstichstelle in
der Regel komplikationslos und schnell verheilt, kann den zuvor - während der
Einwirkungszeit der Zecke auf den Körper ihres Opfers, in welchem sie sich für die
Dauer des Saugvorgangs festgebissen hatte - verursachten Körperschaden nicht im
Nachhinein ungeschehen machen. Nach alledem bewirkt der Biss einer Zecke den
Eintritt eines Körperschadens unabhängig davon, ob die Zecke während des
Saugvorgangs auch Krankheitserreger in die Blutbahn ihres Opfers einbringt. Geschieht
letzteres und führt dies später zu einer entsprechenden Erkrankung ihres Opfers, so ist
dann die Frage der Anerkennungsfähigkeit als Dienstunfallfolge aufgeworfen, die sich
fallbezogen (noch) nicht stellt, weil bei dem Kläger bislang eine Folgeerkrankung nicht
eingetreten ist.
21
Vgl. OVG Saarlouis, Urteil vom 22. April 2009 - 1 A 155/08 -.
22
Die Anforderungen des § 31 Abs. 1 S. 1 BeamtVG an die örtliche und zeitliche
Bestimmbarkeit des als Dienstunfall geltend gemachten Ereignisses sind ebenfalls
erfüllt. Ein Ereignis ist örtlich und zeitlich bestimmbar, wenn sich genau feststellen lässt,
wann und wo sich das Ereignis abgespielt hat. Ist der genaue Zeitpunkt eines
plötzlichen Unfallereignisses später nicht mehr bestimmbar, weil es zunächst unbemerkt
geblieben ist und zeitlich keine unmittelbaren Folgen hatte, so muss es zumindest in
einem kurzen Zeitraum stattgefunden haben, der konkret bestimmbar ist.
23
Vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 19. Januar 2006 - 2 B 46.05 -, Schütz/Maiwald,
BeamtR, ES/C II 3.1, Nr. 88.
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Hiernach ist das Ereignis örtlich und zeitlich bestimmbar, weil, von der Beklagten
insoweit auch nicht bestritten, der Kläger am 20. Juni 2007 während der Inspektion von
Durchlässen und Stützbauwerken im Netzbezirk G. durch hohes Gras gelaufen und dort
von einer Zecke gebissen worden ist.
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Entgegen der Auffassung der Beklagten hat der Kläger den Zeckenbiss auch in
Ausübung bzw. infolge des Dienstes im Sinne des § 31 Abs. 1 S. 1 BeamtVG erlitten.
Dieses Tatbestandsmerkmal verlangt neben dem Kausalitätszusammenhang zwischen
Ereignis und Schaden einen bestimmten Zusammenhang zwischen dem Ereignis und
der Ausübung des Dienstes. Insoweit genügt nicht jedweder ursächlicher
Zusammenhang mit der Ausübung des Dienstes, vielmehr bedarf es einer besonders
engen ursächlichen Verknüpfung mit dem Dienst, da der Vorschrift des § 31 Abs. 1 S. 1
BeamtVG nach ihrem Sinn und Zweck das Kriterium der Beherrschbarkeit des Risikos
der Geschehnisse im Dienst durch den Dienstherr zugrundeliegt. Der Beamte steht bei
Unfällen, die sich innerhalb des vom Dienstherrn beherrschbaren Risikobereichs
ereignen, unter dem besonderen Schutz der beamtenrechtlichen Unfallfürsorge.
26
BVerwG, Urteil vom 15. November 2007 - 2 C 24/06 -.
27
Ferner ist anerkannt, dass nicht als Ursachen im Rechtssinn sogenannte
Gelegenheitsursachen anzusehen sind, bei denen zwischen dem eingetretenen
Schaden und dem Dienst eine rein zufällige Beziehung besteht und das schädigende
Ereignis nach menschlichem Ermessen bei jedem anderen nicht zu vermeidenden
Anlass in naher Zukunft ebenfalls eingetreten wäre. Ein Kausalzusammenhang besteht
somit regelmäßig nicht, wenn der Geschädigte einer allgemeinen, jeden anderen auch
treffenden Gefahr erlegen ist.
28
BVerwG, Urteil vom 20. Februar 1998 - 2 B 81/97 -.
29
Der Kläger war zur Zeit des Zeckenbisses am 20. Juni 2007 im Rahmen der
Eisenbahnaufsicht für seinen Dienstherrn im Außendienst tätig. Er prüfte Durchlässe
und Stützbauwerke bei der DB AG im Netzbezirk G. und betrat hierbei auch Gestrüpp
und ungemähtes Gras. Er hat sich damit im dienstlichen Auftrag in einem Gebiet
aufgehalten, das regelmäßig von Zecken bevölkert wird. Dieser Gefahr wäre der Kläger
nicht im gleichen Maße ausgesetzt gewesen, wenn er sich nicht im Dienst befunden
hätte. Zwar kommen Zecken in ganz Deutschland bis 1000 Meter Höhe vor. Beliebte
Aufenthaltsorte sind buschige Wald- und Wegränder, Laub- und Nadelwälder, hier vor
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allem lichte Gehölze mit Unterwuchs sowie Parkanlagen und Gärten mit Büschen und
Sträuchern als Unterholz. Anders als bei sonstigen Insektenstichen (z.B.
Wespenstichen) kann die Gefahr eines Zeckenbisses bei diesen Aufenthaltsorten der
Zecken aber noch nicht als allgemeines Lebensrisiko angesehen werden. Ein Risiko
besteht eben nur für Personen, die sich in entsprechenden Gebieten aufhalten; für
andere Personen hingegen nicht. Hat der Kläger nunmehr auf dienstlicher
Veranlassung ungemähtes Gras betreten und sich dort längere Zeit aufgehalten, so
verwirklichte sich durch den Zeckenbiss ein berufsbedingt gesteigertes Risiko, von einer
Zecke gebissen zu werden.
Hierbei ist es entgegen der Ansicht der Beklagten nicht von Bedeutung, ob der Kläger
zum Zeitpunkt des Unfallereignisses mit dem für sein Amt typischen Aufgaben verrichtet
hat. Die Frage der Dienstbezogenheit ist nicht anhand des typischen Tätigkeitsfeldes
des betroffenen Beamten, sondern anhand der zur Zeit des schädigenden Ereignisses
konkret wahrgenommenen dienstlichen Verrichtungen des Beamten zu beantworten.
31
Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Februar 2008 - 2 B 135/07 -; Beschluss vom 3. Dezember
2008 - 2 B 72/08 -; Urteil vom 25. Februar 2010 - 2 C 81.08 -; OVG Saarlouis, Urteil vom
22. April 2009 - 1 A 155/08 -; VG Lüneburg, Urteil vom 21. Februar 2007 - 1 A 134/05 -;
a.A.: VG Ansbach, Urteil vom 28. Februar 2007 - AN 11 K 06.02510 -.
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Dienstort im dienstunfallrechtlichen Sinne ist derjenige Ort, an dem der Beamte die ihm
übertragenen dienstlichen Aufgaben zu erledigen hat. Sind dem Beamten für gewisse
Zeit Aufgaben zugewiesen, die er nicht an seinem üblichen Dienstort, insbesondere
nicht an seinem Arbeitsplatz in einem Dienstgebäude, sondern an einem anderen Ort
wahrnehmen muss, so wird dieser Ort für die Dauer der Aufgabenerledigung
vorübergehend Dienstort.
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BVerwG, Urteile vom 25. Februar 2010, - 2 C 81.08 - und vom 22. Januar 2009 - 2 A
3.08 -; Beschluss vom 26. Februar 2008 - 2 B 135/07 -.
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Eine solche Anweisung des Dienstherrn, die Dienstleistung vorübergehend an einem
anderen Ort als dem üblichen Dienstort außerhalb des eigenen räumlichen
Machtbereichs zu erbringen, darf hinsichtlich des Unfallschutzes des Beamten nicht zu
einer Verschlechterung, insbesondere zu einer Erhöhung der Anforderungen für die
Anerkennung eines schädigenden Ereignisses als Dienstunfall führen. Dies hat zur
Folge, dass dem Dienstherrn im Rahmen des § 31 Abs. 1 Satz 1 BeamtVG auch hier die
Verwirklichung sämtlicher Risiken unabhängig von der Frage zugeordnet wird, ob die
konkrete Tätigkeit, bei der es zu dem Körperschaden gekommen ist, dienstlich geprägt
ist.
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BVerwG, Urteil vom 25. Februar 2010 - 2 C 81.08 -.
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So liegt der Fall hier. Wie ausgeführt, gehörte die Prüfung von Durchlässen und
Stützbauwerken zu den dienstlichen Aufgaben des Klägers. Die Begehung des
unwegsamen Geländes war den Erfordernissen dieser Aufgabe geschuldet, so dass
sich der Kläger an einem Ort aufhielt, der dem dienstlichen Auftrag entsprach.
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Der Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die
Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf §
167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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