Urteil des VG Gelsenkirchen vom 28.04.2005

VG Gelsenkirchen: treu und glauben, grundstück, zustellung, verwaltungsakt, einverständnis, vollstreckung, widerspruchsverfahren, anfechtbarkeit, billigkeit, rechtsmittelbelehrung

Datum:
Gericht:
Spruchkörper:
Entscheidungsart:
Tenor:
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Aktenzeichen:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 10 K 433/05
28.04.2005
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen
10. Kammer
Urteil
10 K 433/05
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens. Die außergerichtlichen
Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die
Vollstreckungsschuldnerin darf die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages
abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der
Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
T a t b e s t a n d :
Die Klägerin ist als Eigentümerin des unbebauten Grundstücks Gemarkung C. , Flur ,
Flurstück (D. Straße 170) in I. im Grundbuch des Amtsgerichts I. seit dem 16. Juli 1997
eingetragen. Die Beigeladene ist Eigentümerin des südlich angrenzenden Grundstücks
Gemarkung C. , Flur , Flurstück ( 41), auf dem sich ihr Betriebsgelände befindet. Das
Grundstück der Beigeladenen wurde bei Anlage des Betriebshofs Anfang der sechziger
Jahre des vorigen Jahrhunderts in Richtung auf die nördliche Grundstücksgrenze zum
Grundstück der Klägerin angeschüttet und dort mit einer Stützwand aus Stahlbeton
abgefangen. Der Höhenunterschied des Betriebsgeländes der Beigeladenen zum
Grundstück der Klägerin beträgt zwischen 1,70 Meter und 3,50 Meter.
Unter dem 21. September 2000 beantragte die Beigeladene beim Beklagten die Erteilung
einer Baugenehmigung für die Teilerneuerung der Stahlbeton-Stützwand. In der
beigefügten Baubeschreibung gab sie an, die Stützwand habe sich auf einer Länge von ca.
20 Metern im mittleren Bereich zwischen den Trennfugen um ca. 10 cm nach außen
geneigt. Dieses Teilstück müsse nach gründlicher Prüfung erneuert werden. Nach
Fertigstellung der neuen Betonkonstruktion werde das vorhandene Geländer ebenfalls
erneuert. Mit Bescheid vom 02. März 2001 erteilte der Beklagte der Beigeladenen die
begehrte Baugenehmigung.
Gegen die ihr nicht bekannt gegebene Baugenehmigung legte die U. GmbH am 17. Mai
2001 Widerspruch ein. Sie machte Rechte am Grundstück Gemarkung C. , Flur , Flurstück
geltend und führte weiterhin aus, die Baugenehmigung verstoße gegen § 6 BauO NRW.
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Die Stützwand solle an der Grenze errichtet werden und halte den notwendigen Abstand
nicht ein. Diesen Widerspruch wies die Bezirksregierung B. durch Widerspruchsbescheid
vom 01. August 2001 zurück. Die am 31. August 2001 erhobene Klage der U. GmbH
(Aktenzeichen: 10 K 4027/01) wies das erkennende Gericht durch Urteil vom 14. Mai 2003
ab. Zur Begründung führte das Gericht aus, die Klage sei nicht zulässig, weil die U. GmbH
nicht klagebefugt im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO sei. Gegen diese Entscheidung legte die
U. GmbH kein Rechtsmittel ein.
Am 14. Mai 2003 legte die Klägerin beim Beklagten Widerspruch gegen die der
Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 02. März 2001 ein. Zur Begründung führte sie
aus, sie sei Eigentümerin des Grundstücks D. Straße 170 in I. - C. . Die angegriffene
Baugenehmigung verstoße gegen die Bestimmung des § 6 BauO NRW, da die Stützwand
an der Grenze errichtet werden solle und der notwendige Abstand nicht eingehalten werde.
Diesen Widerspruch wies die Bezirksregierung B. durch Widerspruchsbescheid vom 27.
Januar 2005 zurück. Zur Begründung machte sie geltend, der Widerspruch sei unzulässig,
die Klägerin habe ihre Abwehrrechte verwirkt. Wegen der engen Verflechtung zwischen der
U. GmbH und der Klägerin habe letztere sichere Kenntnis von der Baugenehmigung im Mai
2001 gehabt. Widerspruch habe die Klägerin allerdings erst im Mai 2003 erhoben. Dies sei
zu spät, ihre Abwehrrechte seien verwirkt.
Die Klägerin hat am 12. Februar 2005 Klage erhoben.
Unter Wiederholung und Vertiefung ihres Widerspruchsvorbringens macht sie geltend, die
Baugenehmigung sei nachbarrechtswidrig erteilt worden. Die Beigeladene könne sich
insoweit auch nicht auf Bestandsschutz berufen, die Stützwand sei nämlich nicht bloß
repariert sondern teilweise neu errichtet worden. Außerdem sei der errichtete Neubau nicht
wie beantragt und genehmigt ausgeführt worden, sondern wesentlich anders ausgeführt
worden. Sie begehre die Beseitigung des erneuerten Wandteils und des aufstehenden
Zaunes. Schließlich habe sie ihre nachbarrechtlichen Abwehrrechte auch nicht verwirkt.
Sie sei immer gegen die Neuerrichtung vorgegangen, weder der Beklagte noch die
Beigeladene hätten je glauben können, diese werde von ihrer Seite akzeptiert.
Die Klägerin beantragt (schriftsätzlich), die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung des
Beklagten zur Teilerneuerung einer Stahlbeton-Stützwand vom 02. März 2001 und den
Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung B. vom 27. Januar 2005 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Zur Begründung führt er aus, die Klage sei schon unzulässig. Der Widerspruch der
Klägerin sei nämlich unzulässig, da er wegen Zeitablaufs verwirkt sei. Im übrigen verweise
er auf die Ausführungen im angefochtenen Widerspruchsbescheid.
Die Beigeladene stellt keinen Antrag.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch den Vorsitzenden einverstanden
erklärt und auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte dieses Verfahrens sowie der Verfahren 10 K 4027/01 und 10 K 428/04 sowie
auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten und der
Bezirksregierung B. Bezug genommen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
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Der Vorsitzende kann im Einverständnis der Beteiligten an Stelle der Kammer entscheiden
(§ 87 a Abs. 2 VwGO), der Durchführung einer mündlichen Verhandlung bedarf es im
Einverständnis der Beteiligten nicht (§ 101 Abs. 1 VwGO).
Die Klage hat keinen Erfolg, sie ist unzulässig.
1. Nicht zulässig ist zunächst das förmlich gestellte Anfechtungsbegehren der Klägerin. Sie
hat gegen die streitige Baugenehmigung vom 02. März 2001 nämlich verspätet
Widerspruch eingelegt. Ist dem betroffenen Nachbarn die Baugenehmigung, durch die er
sich beschwert fühlt, - wie hier - nicht amtlich bekannt gegeben worden, so läuft für ihn zwar
weder in unmittelbarer noch in analoger Anwendung der §§ 70 und 58 Abs. 2 VwGO eine
Widerspruchsfrist. Hat er jedoch gleichwohl sichere Kenntnis von der Baugenehmigung
erlangt oder hätte er sie erlangen müssen, so kann ihm im nachbarlichen
Gemeinschaftsverhältnis nach Treu und Glauben die Berufung darauf versagt sein, dass
ihm dieser Verwaltungsakt nicht amtlich mitgeteilt worden ist. Dann läuft für ihn die
Widerspruchsfrist nach § 70 i.V.m. § 58 Abs. 2 VwGO so, als sei ihm die Baugenehmigung
in dem Zeitpunkt amtlich bekannt gegeben worden, in dem er von ihr sichere Kenntnis
erlangt hat oder hätte erlangen müssen,
ständige Rechtsprechung, vgl. nur Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 25. Januar 1974 -
4 C 2.72 -, BVerwGE 44, 294; aus der Rechtsprechung des OVG NRW, Urteil vom 03.
August 2000 - 7 A 1941/99 -.
So liegt der Fall hier. Die Baugenehmigung vom 02. März 2001 ist der Klägerin als
betroffener Grenznachbarin zwar nicht seitens des Beklagten bekannt gegeben worden.
Spätestens im Mai 2001 hätte sie aber jedenfalls zuverlässige Kenntnis von der Existenz
dieser Baugenehmigung haben müssen. Am 17. Mai 2001 hatte die U. GmbH nämlich
förmlich Widerspruch gegen diesen Verwaltungsakt eingelegt. Zwischen der U. GmbH und
der Klägerin bestanden enge vertragliche Verbindungen. Dies wird deutlich aus dem
Vortrag der U. GmbH im Verfahren 10 K 4027/01 (vgl. deren Schriftsatz vom 12. Mai 2003).
Weiterhin bestanden offensichtlich auch enge personelle Verflechtungen zwischen den
Gesellschaften, wie aus dem Umstand deutlich wird, dass der Geschäftsführer der Klägerin
in der mündlichen Verhandlung im Verfahren 10 K 4027/01 für die U. GmbH erschienen ist.
Bei Anwendung der notwendigen Sorgfalt hätte die Klägerin in jedem Fall spätestens Ende
Mai 2001 Kenntnis von der streitigen Baugenehmigung und deren Anfechtbarkeit durch sie
als Eigentümerin des Grundstücks D. Straße 170 haben müssen. Es liegt allein in ihrem
Verantwortungsbereich, wenn die Eigentumsrechte am Grundstück D. Straße 170
übersehen und Widerspruch bzw. Klage durch einen nicht
widerspruchsbefugten/klagebefugten Beteiligten erhoben worden sind. Der Widerspruch
der Klägerin hätte damit spätestens innerhalb eines Jahres, dass heißt hier spätestens bis
Ende Mai 2002 eingelegt werden müssen. Eingegangen ist er beim Beklagten hingegen
erst am 14. Mai 2003 und damit deutlich zu spät.
2. Mit ihrem weiteren Vorbringen auf Beseitigung des erneuerten Wandteils und des
Zaunes mit der Begründung, die Beigeladene habe die erteilte Baugenehmigung nicht
ausgenutzt, die baulichen Anlagen seien im Gegenteil wesentlich anders errichtet worden,
macht die Klägerin der Sache nach (vgl. § 88 VwGO) einen Anspruch auf Einschreiten des
Beklagten gegen die Beigeladene geltend. Dieses Verpflichtungsbegehren ist ebenfalls
unzulässig. Denn die Klägerin hat insoweit weder einen Antrag beim Beklagten gestellt,
noch ein entsprechendes Widerspruchsverfahren durchgeführt. Insoweit fehlt es schon an
einem Rechtsschutzbedürfnis für eine gerichtliche Entscheidung.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Es entspricht der
Billigkeit, die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen für erstattungsfähig zu erklären,
da sie als notwendig Beigeladene am gerichtlichen Verfahren beteiligt ist. Die
Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§
708 Nr. 11 und 711 ZPO.
Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Berufung nach § 124 a Abs. 1 Satz 1 VwGO
liegen nicht vor.
Rechtsmittelbelehrung: Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das
Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem
zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn 1. ernstliche Zweifel an der
Richtigkeit des Urteils bestehen, 2. die Rechtssache besondere tatsächliche oder
rechtliche Schwierigkeiten aufweist, 3. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, 4.
das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des
Bundesverwaltungsgerichts, des gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des
Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht
oder 5. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel
geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann. Die Zulassung
der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils
schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879
Gelsenkirchen, zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils sind die Gründe
darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist, soweit sie nicht
bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist, bei dem Oberverwaltungsgericht für das Land
Nordrhein - Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, einzureichen. Im
Berufungsverfahren muss sich jeder Beteiligte, soweit er einen Antrag stellt, gemäß § 67
Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung vertreten lassen. Dies gilt auch für den Antrag auf
Zulassung der Berufung.