Urteil des VG Gelsenkirchen vom 19.04.2002

VG Gelsenkirchen: stadt, aufsichtsbehörde, tagesordnung, gemeindeordnung, klagebefugnis, vollstreckung, fraktion, geschäftsordnung, ersatzvornahme, rechtsverletzung

Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 15 K 1503/00
Datum:
19.04.2002
Gericht:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen
Spruchkörper:
15. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
15 K 1503/00
Schlagworte:
Kommunalrecht
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig
vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch
Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des beizutreibenden
Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung
Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
T a t b e s t a n d:
1
Die Kläger wenden sich gegen eine aufsichtsrechtliche Verfügung der Beklagten.
2
Die Klägerin zu 1. sowie der Kläger zu 2. wurden bei der Kommunalwahl vom 12.
September 1999 in den Rat der Stadt H. gewählt, in dem sie die Gruppe
„°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°°" (°°°) bilden, die Klägerin zu 3. Dem Rat der
Stadt H. gehören neben den Fraktionen der CDU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, der
Gruppe °°° noch die Ratsgruppen PDS und REP sowie eine Einzelmandatsträgerin
der FDP an.
3
Der Rat der Stadt H. beschloß im öffentlichen Teil seiner Sitzung vom 14. Oktober 1999
u.a. zu TOP 1.1 eine Ergänzung des § 7 seiner Geschäftsordnung dahin, daß Anträge
zur Tagesordnung auch von fraktionslosen Stadtverordneten gestellt werden können; zu
TOP 1.2 die Gewährung von Zuschüssen für Geschäftsbedürfnisse auch an
fraktionslose Stadtverordnete in der Weise, daß ein jährlicher Sockelbetrag von
3.000,00 DM pro Person vorgesehen wurde und der verbleibende Betrag der
Gesamtaufwendungen für die Geschäftsbedürfnisse der Ratsfraktionen als Pro-Kopf-
Zuwendung auf alle Stadtverordneten verteilt werden sollte; sowie zu TOP 3 die Wahl
4
von fraktionslosen Stadtverordneten und sachkundigen Bürgern zu beratenden
Ausschußmitgliedern nach Benennung (auch) durch die Ratsgruppen (die Klägerin zu
1. wurde zum beratenden Mitglied im Ausschuß für Soziales und gesellschaftliche
Gruppen, der Kläger zu 2. zum beratenden Mitglied im Haupt-, Finanz-, Beteiligungs-
und Personalausschuß gewählt).
Der Oberbürgermeister der Stadt H. beanstandete die vorgenannten Beschlüsse des
Rates gemäß § 54 Abs. 2 der Gemeindeordnung (GO) mit Schreiben vom 25. Oktober
1999 zu TOP 1.2 sowie mit Schreiben vom 15. November 1999 zu TOP 1.1 und TOP 3.
5
Beschlußvorlagen zur Aufhebung der beanstandeten Ratsbeschlüsse vom 14. Oktober
1999 erhielten in der Ratssitzung vom 18. November 1999 keine Mehrheit.
6
Nach Vorlage durch den Oberbürgermeister hob die Beklagte mit einer an die Stadt H.
adressierten Verfügung vom 9. Dezember 1999 die beanstandeten Beschlüsse des
Rates der Stadt H. vom 14. Oktober 1999 auf und ordnete zugleich die sofortige
Vollziehung an. Zur Begründung führte sie aus, das durch TOP 1.1 auch fraktionslosen
Ratsmitgliedern eingeräumte Antragsrecht bezüglich der Tagesordnung verletze § 48
Abs. 1 Satz 2 GO. Diese abschließende Regelung der Gemeindeordnung räume nur
einer Fraktion oder einem Fünftel der Ratsmitglieder den Rechtsanspruch ein, auf die
Gestaltung der Tagesordnung innerhalb einer in der Geschäftsordnung des Rates zu
bestimmenden Frist Einfluß zu nehmen. Zu TOP 1.2 sei § 56 Abs. 3 GO verletzt. Danach
sei die Gewährung von Haushaltsmitteln der Gemeinde zu den sächlichen und
personellen Aufwendungen für die Geschäftsführung nur an Fraktionen und nicht an
fraktionslose Ratsmitglieder zulässig. Deren finanzielle Ansprüche ergäben sich
ausschließlich aus § 45 GO. Der Beschluß zu TOP 3 widerspreche § 58 Abs. 1 GO.
Danach könnten nur Fraktionen, die in einem Ausschuß nicht vertreten seien,
Ausschußmitglieder mit beratender Stimme benennen.
7
Mit der am 27. März 2000 erhobenen Klage machen die Kläger geltend, daß es sich bei
der angefochtenen Verfügung um einen Verwaltungsakt in Form einer
Allgemeinverfügung handele. Sie richte sich auch gegen den Personenkreis der nicht
einer Fraktion angehörenden Stadtverordneten und betreffe die Kläger unmittelbar in
ihren Rechten. Die Verfügung greife in fundamentale Rechte eines Stadtverordneten
ein. Die vorliegende Konstellation sei vergleichbar der Ersatzvornahme durch die
Bezirksregierung in den Fällen, in denen die Gemeinde den Anordnungen der
Bezirksregierung nicht nachkomme. Den so unmittelbar Betroffenen werde durch die
Rechtsprechung des OVG NRW eigener Rechtsschutz eingeräumt. Die Kläger würden
durch die Entscheidung der Beklagten in den zunächst durch den Rat eingeräumten,
grundlegenden Mitwirkungs- und Gestaltungsrechten eingeschränkt. Zu diesen
grundlegenden Rechten eines Stadtverordneten gehöre das Initiativrecht gemäß § 48
Abs. 1 GO sowie die Ausstattung mit sachlichen, personellen und finanziellen Mitteln für
die Ausübung des Ratsmandats. Chancengleichheit und Minderheitenschutz geböten
es auch, den fraktionslosen Ratsmitgliedern die Möglichkeit einzuräumen, sachkundige
Bürger für die Ausschüsse zu benennen, in denen fraktionslose Ratsmitglieder nicht
vertreten seien. Unzutreffend sei die Auffassung der Beklagten, die Gemeindeordnung
enthalte hinsichtlich der angesprochenen Bereiche abschließende Regelungen.
Vielmehr sei davon auszugehen, daß im Hinblick auf die Aufhebung der 5 %
Sperrklausel bei den Kommunalwahlen eine Regelungslücke vorliege.
8
Die Kläger beantragen,
9
die Verfügung vom 9. Dezember 1999 aufzuheben.
10
Die Beklagte beantragt,
11
die Klage abzuweisen.
12
Sie ist der Ansicht, daß die Klage mangels Beteiligungsfähigkeit der Kläger unzulässig
sei. Nur die Gemeinde selbst sei zur Geltendmachung des Abwehranspruchs
gegenüber der Aufsichtsbehörde befugt.
13
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der
Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten (Beiakte
Heft 1) Bezug genommen.
14
Entscheidungsgründe:
15
Die Anfechtungsklage ist nicht zulässig. Die Kläger sind nicht klagebefugt.
16
Mit der allein an die Stadt H. gerichteten Verfügung der Beklagten vom 9. Dezember
1999 sind Beschlüsse des Rates der Stadt H. aufgehoben worden und damit zugleich
die mit diesen Beschlüssen auch den Klägern eingeräumten Befugnisse.
17
Im Hinblick auf diese Entscheidung hätte nur die Stadt H. selbst geltend machen
können, in ihren Rechten verletzt zu sein (§ 42 Abs. 2 VwGO). Die Kläger können solch
eine Rechtsverletzung nicht dartun.
18
Die aufsichtsrechtliche Maßnahme der Beklagten gemäß § 119 Abs. 1 Satz 2 GO NW
betraf nur die Stadt H. in ihrem Recht auf kommunale Selbstverwaltung. Das
Selbstverwaltungsrecht gibt der Gemeinde die Befugnis, ihre Angelegenheiten durch
die für sie handelnden Organe eigenverantwortlich zu regeln. Greift die
Aufsichtsbehörde - wie hier durch Aufhebung von Ratsbeschlüssen - in diese
Rechtsposition ein, ist die Gemeinde in ihrem Außenrechtsverhältnis betroffen und kann
gegebenenfalls dagegen klagen. Dabei steht das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinde
als juristischer Person des öffentlichen Rechts insgesamt zu, nicht aber ihren Organen
oder den Mitgliedern ihrer Organe.
19
Vgl. OVG NRW, Urteil vom 5. September 1980 - 15 A 686/78 -.
20
Die Kläger als Mitglieder des Organs Rat der Stadt H. können daher auch nicht aus
einer möglichen Verletzung von Selbstverwaltungsrechten ihre Klagebefugnis ableiten.
21
Für die Kläger folgt eine Klagebefugnis auch nicht daraus, daß mit der Aufhebung der
Ratsbeschlüsse vom 14. Oktober 1999 Regelungen zu Gunsten fraktionsloser
Ratsmitglieder (Antragsrechte zur Tagesordnung, Besetzung von Ausschüssen,
Teilhabe an Zuwendungen) keinen Bestand mehr haben.
22
Es fehlt an einer möglichen Rechtsverletzung i.S.d. § 42 Abs. 2 VwGO, weil die Kläger
insoweit als Träger von Innenrechtspositionen klagen, die in dem Außenverhältnis
gegenüber der Beklagten nicht geltend gemacht werden können.
23
Die Kläger sind als Mitglieder des Rates der Stadt Teile dieses Organs und verfügen
damit über eine organschaftliche Stellung mit Mitgliedsschaftsrechten. Die
aufgehobenen Ratsbeschlüsse bezogen sich auf solche Mitgliedsschaftsrechte. Insofern
sind die Kläger nicht Inhaber subjektiver Rechte, die allein Gegenstand eines
Außenrechtsverhältnisses sein können.
24
Etwas anderes ergibt sich auch nicht unter Beachtung der Entscheidung des OVG NRW
vom 23. Februar 1989 - 15 B 2575/88 -, auf die sich die Kläger berufen haben. Dieser
Beschluß bezieht sich auf die Auflösung einer Schule im Wege der Ersatzvornahme
durch die Aufsichtsbehörde.
25
Diese Aufsichtsmaßnahme betrifft (auch) außerhalb der Gemeinde stehende Dritte, die
durch die an Stelle der Gemeinde handelnde Aufsichtsbehörde in ihren Rechten verletzt
sein können. Sie unterscheidet sich damit von dem vorliegenden Verfahren, in dem die
den Kläger eingeräumten Befugnisse dem Innenbereich zuzuordnen sind.
26
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die
vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11,
711 der Zivilprozeßordnung.
27
28