Urteil des VG Freiburg vom 04.01.2016

ungarn, genfer flüchtlingskonvention, asylbewerber, mitgliedstaat

VG Freiburg Urteil vom 4.1.2016, A 5 K 1838/13
Isolierte Anfechtungsklage; von anderem Mitgliedstaat anerkannter Flüchtling;
Feststellung, dass ihm aufgrund seiner Einreise aus einem sicheren Drittstaat
kein Asylrecht zusteht; systemische Mängel Ungarn
Leitsätze
Eine - isolierte - Anfechtungsklage, mit der sich ein von einem anderen Mitgliedstaat
anerkannter Flüchtling gegen die Feststellung wendet, dass ihm aufgrund seiner
Einreise aus einem sicheren Drittstaat kein Asylrecht zustehe (zur Rechtswidrigkeit
einer solchen Feststellung vgl. VG Sigmaringen, Urt. v. 17.12.2015 - A 3 K 2767/13 -),
ist mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig, weil die Bundesrepublik
Deutschland an die Flüchtlingsanerkennung durch den Mitgliedstaat gebunden ist und
diese Bindung durch die genannte Feststellung nicht in Frage gestellt wird.
Tenor
Nr. 2 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30.08.2013
wird aufgehoben.
Im Übrigen werden die Klagen abgewiesen.
Die Kläger und die Beklagte tragen die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens
jeweils zur Hälfte.
Tatbestand
1 Die Kläger begehren Flüchtlingsschutz und wenden sich gegen die Anordnung
ihrer Abschiebung nach Ungarn.
2 Die Kläger sprachen am 13.06.2013 bei der Außenstelle Karlsruhe des
Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vor. Dabei legten sie jeweils am
06.06.2013 von Ungarn ausgestellte Reisedokumente für Personen, die
subsidiären Schutz genießen, vor und gaben an: Sie seien verheiratet. Der Kläger
sei am X1985, die Klägerin sei am X.1992 geboren. Sie stammten beide aus Kabul
und besäßen die afghanische Staatsangehörigkeit. Sie gehörten dem Volk der
Hazara an. Sie seien Schiiten und sprächen Dari und Englisch. Sie seien im Jahr
2011 in Griechenland und dann auch in Ungarn registriert worden. In Ungarn
hätten sie auch Asyl beantragt. In Ungarn wollten Sie wegen der schlechten
sozialen Lage nicht bleiben. Sie seien in Ungarn im Gefängnis gewesen und
hätten den Asylantrag unter Druck stellen müssen. Die Klägerin sei zudem im
neunten Monat schwanger.
3 Das Bundesamt ersuchte die zuständige ungarische Behörde um Übernahme der
Kläger. Am 08.07.2013 teilte diese mit, die Kläger hätten am 06.06.2012 Asyl
beantragt und subsidiären Schutz erhalten. Auf ihr Rechtsmittel seien sie am
03.04.2013 als Flüchtlinge anerkannt worden. Im 10.06.2013 sei ihnen beiden ein
Reiseausweis für Flüchtlinge ausgestellt worden. Eine Übernahme im Rahmen des
Dublin-Abkommens komme deshalb nicht in Betracht.
4 Am 17.07.2013 wurde die Tochter H. der Kläger geboren (vgl. A 5 K 2270/13).
5 Die Kläger ließen unter dem 20.08.2013 vortragen: Beide seien jeweils noch als
Kind mit ihren Familien aus Angst vor den Taliban in den Iran geflüchtet und dort
unter sehr schwierigen Verhältnissen aufgewachsen. Als die Klägerin 13 Jahre alt
gewesen sei, habe ihr Großvater sie gezwungen, einen 20 Jahre älteren,
vermögenden Mann zu heiraten. Das habe zu extremen Problemen und
schließlich zur Scheidung gegen den Willen des Ehemanns geführt. Daraus seien
in der Folge weiterer Probleme entstanden. Im Jahr 2011 seien sie gemeinsam
über die Türkei nach Griechenland gereist. Bei der Überfahrt sei die Klägerin
beinahe ertrunken. In Griechenland hätten Sie eine Bescheinigung erhalten, dass
sie innerhalb von 30 Tagen ausreisen müssten. Sie hätten dort unter
schlechtesten Bedingungen gelebt und schließlich seien sie mithilfe von
Schleppern über Mazedonien und Serbien nach Ungarn gekommen. Dort seien
sie verhaftet worden. Nach einer Woche in einem geschlossenen Lager seien sie
nach Serbien abgeschoben worden. Um nicht nach Griechenland
zurückgeschoben zu werden, seien sie erneut nach Ungarn eingereist und dort
erneut verhaftet worden. Sie seien wieder in ein geschlossenes Lager gebracht
worden und hätten dort erfolglos Asyl beantragt. Erneut seien sie - im Winter 2012 -
nach Serbien abgeschoben worden. Auch bei ihrer dritten Einreise nach Ungarn
seien sie verhaftet worden. Sie seien zu jeweils neun Monaten Gefängnis verurteilt
worden. In der Haft hätten sie erneut Asylanträge gestellt. Nach sechs Monaten
Haft seien sie entlassen und ein Flüchtlingslager verbracht worden. Die
Bedingungen dort seien extrem schlecht gewesen. Schließlich hätten Sie
subsidiären Schutz erhalten und eine Aufenthaltserlaubnis verbunden damit, in ein
anderes Lager zu gehen. Auch dort seien die Bedingungen völlig unzureichend
gewesen. Sie hätten sich auf Arbeitssuche begeben, aber nichts gefunden. Man
habe ihnen, wie auch anderen im Lager untergebrachten Flüchtlingen, gesagt,
dass sie ohne den Abschluss der achten ungarischen Klasse nicht einmal eine
Putzstelle erhalten würden. Ohne Arbeit hätten sie auch keine Wohnung anmieten
können. Wegen der Schwangerschaft der Klägerin sei ihr Aufenthalt im Lager um
sechs Monate verlängert worden. Man habe Ihnen aber bedeutet, dass sie danach
ausziehen müssten. Im Lager habe die Klägerin keine ausreichende medizinische
Betreuung erhalten; eine andere Frau im Lager habe ihr Kind im achten Monat tot
zur Welt gebracht. Als Familie könnten sie in Ungarn kein Obdach finden und
hätten sie auch keine Ansprüche auf irgendeine finanzielle Unterstützung und auf
medizinische Behandlung. Auch drohe ihnen eine Kriminalisierung wegen
Obdachlosigkeit. Weiter drohten ihnen auch rassistische Übergriffe.
6 Mit Bescheid vom 30.08.2013 stellte das Bundesamt fest, dass den Klägern
aufgrund ihrer Einreise aus einem sicheren Drittstaat kein Asylrecht zustehe und
ordnete ihrer Abschiebung nach Ungarn an. Der Bescheid wurde den Klägern am
04.09.2013 zugestellt.
7 Die Kläger haben am 17.09.2013 Klage erhoben. Mit Beschluss vom 12.12.2013
(A 5 K 2482/13) hat die Kammer die aufschiebende Wirkung ihrer Klagen
angeordnet. Die Kläger verweisen auf ihr Vorbringen vor dem Bundesamt.
8 Die Kläger beantragen,
9
den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30.08.2013
aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Klägern die
Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen, hilfsweise
festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2
AufenthG hinsichtlich Ungarns und Afghanistans vorliegen, höchsthilfsweise
festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1
AufenthG hinsichtlich Ungarns und Afghanistans vorliegen.
10 Die Beklagte beantragt,
11 die Klagen abzuweisen.
12 Sie trägt vor: Flüchtlingsschutz sei den Klägern bereits in Ungarn zuerkannt
werden. Die Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge in Ungarn seien, wie
verschiedene Gerichte festgestellt hätten, nicht menschenrechtswidrig.
13 Der Kammer liegt ein Ausdruck der elektronischen Akte des Bundesamts (ein Heft)
vor.
Entscheidungsgründe
14 Über die Klage kann der Vorsitzende im Einverständnis der Beteiligten ohne
mündliche Verhandlung und anstelle der Kammer entscheiden (§ 87a Abs. 2, §
101 Abs. 2 VwGO). Der Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten der Kläger vom
30.12.2015 wurde berücksichtigt.
15 Die Klagen sind unzulässig, soweit sich die Kläger gegen Nr. 1 des angefochtenen
Bescheids wenden und die Verpflichtung der Beklagten begehren, ihnen die
Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Insoweit fehlt es am Rechtsschutzbedürfnis.
Denn den Klägern ist Flüchtlingsschutz bereits durch die zuständigen ungarischen
Stellen unanfechtbar zuerkannt worden. An diese Entscheidung der ungarischen
Behörden ist die Beklagte gebunden (§ 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG und dazu
BVerwG, Urt. v. 17.06.2014 - 10 C 7.13 - InfAuslR 2014, 302). Damit bedürfen die
Kläger auch keines subsidiären Schutzes oder der Feststellung eines
Abschiebungsverbots in Bezug auf Afghanistan. Auch an der - isolierten -
Aufhebung von Nr. 1 des angefochtenen Bescheids haben die Kläger kein
Rechtsschutzbedürfnis. Die damit getroffene Entscheidung mag rechtswidrig sein
(vgl. VG Sigmaringen, Urt. v. 17.12.2015 - A 3 K 2767/13 -), verbessern könnten
die Kläger ihre Rechtsstellung mit einer Aufhebung der Entscheidung nicht;
insbesondere wird den Klägern mit dieser Entscheidung nicht der bereits gewährte
Flüchtlingsschutz entzogen.
16 Soweit die Klagen sich gegen die in Nr. 2 des angefochtenen Bescheids
enthaltene Anordnung ihrer Abschiebung nach Ungarn wenden, ist die Klage als
Anfechtungsklage statthaft, auch sonst zulässig und begründet. Insoweit ist der
angefochtene Bescheid rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§
113 Abs. 1 Satz 1 VwGO); denn den Klägern droht aufgrund systemischer Mängel
des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Ungarn auch für
anerkannte Flüchtlinge mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, in ihrem Grundrecht
aus Art. 4 GRCh bzw. in ihrem Menschenrecht aus Art. 3 EMRK verletzt zu
werden.
17 Zu den rechtlichen Grundlagen insoweit und zu den aktuellen tatsächlichen
Verhältnissen in Ungarn hat die Kammer im - rechtskräftig gewordenen - Urteil vom
13.10.2015 im Verfahren A 5 K 2328/13 ausgeführt:
18 „Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Dublin-II-
Verordnung (Urt. v. 21.12.2011 - C-411/10 u.a., N.S. u.a. - NVwZ 2012, 417, vom
14.11.2013 - C-4/11, Puid - NVwZ 2014, 129, v. 10.12.2013 - C-394/12, Abdullahi
- NVwZ 2014, 208) und dem folgend des Verwaltungsgerichtshofs Baden-
Württemberg (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 16.04.2014 - A 11 S 1721/13 - InfAuslR
2014, 293, v. 10.11.2014 - A 11 S 1778/14 - InfAuslR 2015, 77, v. 18.03.2015 - A
11 S 2042/14 - juris sowie Urt. v. 18.03.2015 - A 11 S 2042/14 - juris) hat ein
Asylbewerber - sofern spezialgesetzlich keine besonderen Ausnahmen geregelt
sind (vgl. etwa Art. 7 Dublin II-VO) - grundsätzlich kein subjektives Recht auf
Prüfung seines Antrags in einem bestimmten Mitglied- oder Vertragsstaat, so
dass Fehler bei der Auslegung und bei der Anwendung der
Zuständigkeitsregelungen der Verordnung grundsätzlich unerheblich sind.
Grundsätzlich kann ein Antragsteller mit Aussicht auf Erfolg nur einwenden, dass
in dem in der Abschiebungsanordnung bezeichneten Staat systemische Mängel
des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gegeben
sind, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme
darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder
erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden
(EuGH, Urt. v. 10.12.2013 - C-394/12, Abdullahi - a.a.O.)
19 Dabei kann jeder Mitgliedstaat grundsätzlich davon ausgehen, dass alle an dem
Gemeinsamen Europäischen Asylsystem beteiligten Staaten die Grundrechte
einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention
und dem Protokoll von 1967 sowie in der Konvention zum Schutz der
Menschenrechte und Grundfreiheiten finden, beachten und dass die
Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen. Auf dieser
Grundlage besteht eine - allerdings - widerlegbare Vermutung dafür, dass die
Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat den
Anforderungen der Grundrechtecharta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der
Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten genügt. Diese
Vermutung ist widerlegt, wenn in der Rechtsanwendungspraxis in einem
bestimmten Mitgliedstaat erhebliche Funktionsstörungen zutage treten und diese
zur absehbaren Folge haben, dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass
Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise
behandelt werden, die mit ihren Menschenrechten unvereinbar ist.
20 Insoweit stellt nicht jeder vereinzelte Verstoß gegen eine Bestimmung der Dublin
II-VO (bzw. nunmehr der Dublin III-VO) und auch nicht einmal jede Verletzung
eines Grundrechts, wie von Art. 4 GRCh, durch den zuständigen Mitgliedstaat das
Zuständigkeitssystem grundsätzlich infrage. Denn dann stünde nicht weniger als
der Daseinsgrund der Union und die Verwirklichung des Raums der Freiheit, der
Sicherheit und des Rechts, konkret des Gemeinsamen Europäischen
Asylsystems, auf dem Spiel (EuGH, Urt. v. 21.12.2011 - C-411/10 u.a., N.S. u.a. -
NVwZ 2012, 417). Das Dublin-Zuständigkeitssystem ist deshalb nur dann
(teilweise) zu suspendieren, wenn einem Mitgliedstaat aufgrund der ihm
vorliegenden Informationen nicht unbekannt sein kann, dass systemische Mängel
oder Schwachstellen (vgl. jetzt auch Art. 3 Abs. 2 UA. 2 VO (EU) Nr. 604/2013 =
Dublin III-VO) des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für
Asylbewerber ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die
Annahme darstellen, dass der Antragsteller dort Gefahr läuft, einer
unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh
ausgesetzt zu sein (EuGH, Urt. v. 21.12.2011, a.a.O. und v. 14.11.2013 - C-4/11,
Puid - NVwZ 2014, 129).
21 Systemische Schwachstellen sind solche, die entweder bereits im Asyl- und
Aufnahmeregime selbst angelegt sind und von denen alle Asylbewerber oder
bestimmte Gruppen von Asylbewerbern deshalb nicht zufällig und im Einzelfall,
sondern vorhersehbar und regelhaft betroffen sind, oder aber tatsächliche
Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und
nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem - aus welchen Gründen
auch immer - faktisch ganz oder in weiten Teilen seine ihm zugedachte Funktion
nicht mehr erfüllen kann und weitgehend unwirksam wird (vgl. auch BVerwG,
Beschl. v. 19.03.2014 - 10 B 6.14 - NVwZ 2014, 1093, und v. 06.06.2014 - 10 B
35.14 - NVwZ 2014, 1677). Dabei ist der Begriff der systemischen Schwachstelle
nicht in einer engen Weise derart zu verstehen, dass er geeignet sein muss, sich
auf eine unüberschaubare Vielzahl von Antragstellern auszuwirken. Vielmehr
kann ein systemischer Mangel auch dann vorliegen, wenn er von vornherein
lediglich eine geringe Zahl von Asylbewerbern betreffen kann, sofern er sich nur
vorhersehbar und regelhaft realisieren wird und nicht gewissermaßen dem Zufall
oder einer Verkettung unglücklicher Umstände bzw. Fehlleistungen von in das
Verfahren involvierten Akteuren geschuldet ist (VGH Bad.-Württ., Urt. v.
10.11.2014 - A 11 S 1778/14 - InfAuslR 2015, 77).
22 Wesentliche Kriterien für die zu entscheidende Frage, ob eine unmenschliche
oder erniedrigende (bzw. "entwürdigende") Behandlung vorliegt, finden sich in der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3
EMRK (vgl. Urt. v. 21.01.2011 - Nr. 30696/09, M.S.S./Belgien - NVwZ 2011, 413,
v. 04.11.2014 - Nr. 29217/12, Tarakhel/Schweiz - juris, und E. v. 05.02.2015 - Nr.
51428/10, A.M.E./Niederlande - juris), der mit Art. 4 GRCh übereinstimmt (vgl.
VGH Bad.-Württ., Urt. v. 10.11.2014 - A 11 S 1778/14 - InfAuslR 2015, 77,
m.w.N.). Die Annahme einer drohenden Verletzung des Grundrechts aus Art. 4
GRCh muss durch wesentliche Gründe (so nunmehr Art. 3 Abs. 2 UA. 2 Dublin III-
VO; vgl. auch EuGH, Urt. v. 21.12.2011 - C-411/10 u.a., N.S. u.a. - NVwZ 2012,
417: "ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe") gestützt werden. Das
bedeutet, dass die festgestellten Tatsachen hinreichend verlässlich und
aussagekräftig sein müssen; nur unter dieser Voraussetzung ist es nach der
maßgeblichen Sicht des Europäischen Gerichtshofs gerechtfertigt, von einer
Widerlegung des „gegenseitigen Vertrauens“ der Mitgliedstaaten untereinander
auszugehen. In diesem Zusammenhang müssen die festgestellten Tatsachen
und Missstände verallgemeinerungsfähig sein, um die Schlussfolgerung zu
rechtfertigen, dass es nicht nur vereinzelt, sondern immer wieder und regelhaft zu
Grundrechtsverletzungen nach Art. 4 GRCh kommt. Das bei einer wertenden und
qualifizierten Betrachtungsweise zugrunde zu legende Beweismaß ist das der
beachtlichen Wahrscheinlichkeit im herkömmlichen Verständnis der
höchstrichterlichen Rechtsprechung, das sich nicht von dem in der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
entwickelten Beweismaß des „real risk“ unterscheidet (BVerwG, Urt. v. 20.02.2013
- 10 C 23.12 - NVwZ 2013, 936; Beschl. v. 19.03.2014 - 10 B 6.14 - juris).
23 Anhand dieser Grundsätze sind hinreichende Mängel des Asylverfahrens und der
Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Griechenland angenommen worden
(EGMR - Große Kammer, Urt. v. 21.01.2011 - Nr. 30696/09, M.S.S./Belgien und
Griechenland - NVwZ 2011, 413 und weitere, vgl. dazu, auch zum Folgenden,
BVerwG, Beschl. v. v. 19.03.2014 a.a.O. und v. 06.06.2014 - 10 B 35/14 - juris).
24 Für das in Deutschland - im Unterschied zu anderen Rechtssystemen - durch den
Untersuchungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) geprägte verwaltungsgerichtliche
Verfahren hat das Kriterium der systemischen Mängel des Asylverfahrens und der
Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in einem anderen Mitgliedstaat der
Europäischen Union Bedeutung für die Gefahrenprognose im Rahmen des Art. 4
GRCh bzw. Art. 3 EMRK. Der Tatrichter muss sich zur Widerlegung der auf dem
Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden
Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in
Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer
Flüchtlingskonvention und der EMRK, die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1
Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel
des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich
zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit
(vgl. Urteil vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377 Rn. 22
m.w.N. einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird.
Die Fokussierung der Prognose auf systemische Mängel ist dabei, wie sich aus
den Erwägungen des Gerichtshofs zur Erkennbarkeit der Mängel für andere
Mitgliedstaaten ergibt (EuGH, Urt. v. 21.12.2011 - Rs. C-411/10 und Rs. C-493/10
- a.a.O. Rn. 88 bis 94), Ausdruck der Vorhersehbarkeit solcher Defizite, weil sie im
Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaates angelegt sind oder dessen
Vollzugspraxis strukturell prägen. Solche Mängel treffen den Einzelnen in dem zu-
ständigen Mitgliedstaat nicht unvorhersehbar oder schicksalhaft, sondern lassen
sich aus Sicht der deutschen Behörden und Gerichte wegen ihrer
systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizieren. Die Widerlegung
der o.g. Vermutung aufgrund systemischer Mängel setzt deshalb voraus, dass
das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat
aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass
anzunehmen ist, dass dort auch dem Asylbewerber im konkret zu
entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine
unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Dann scheidet eine
Überstellung an den nach der Dublin II-Verordnung zuständigen Mitgliedstaat
aus.
25 Das Bundesverwaltungsgericht hat daraus gefolgert (Beschl. v. 06.06.2014 - 10 B
35.14 - a.a.O.): Aus der dargelegten Rechtsprechung des Gerichtshofs der
Europäischen Union ergebe sich, dass ein Asylbewerber der Überstellung in den
nach der Dublin-II-Verordnung für ihn zuständigen Mitgliedstaat mit Blick auf
unzureichende Aufnahmebedingungen für Asylbewerber nur mit dem Einwand
systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen
entgegentreten könne und es nicht darauf ankomme, ob es unterhalb der
Schwelle systemischer Mängel in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder
erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK
kommen könne und ob ein Antragsteller dem in der Vergangenheit schon einmal
ausgesetzt gewesen sei. Derartige individuelle Erfahrungen seien vielmehr (allein)
in die Gesamtwürdigung einzubeziehen, ob systemische Mängel im Zielland der
Abschiebung des Antragstellers (dort: Italien) vorliegen. In diesem begrenzten
Umfang seien individuelle Erfahrungen des Betroffenen zu berücksichtigen. Dabei
sei allerdings zu beachten, dass persönliche Erlebnisse Betroffener, die - wie in
dem der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zu Grunde liegenden Fall
- einige Jahre zurücklägen, durch neuere Entwicklungen im betreffenden Staat
überholt sein könnten. Individuelle Erfahrungen einer gegen Art. 4 GRCh
verstoßenden Behandlung führten hingegen nicht zu einer Beweislastumkehr für
die Frage des Vorliegens systemischer Mängel.
26 Nach der jüngeren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte (zu Italien) ist dabei stets auch zu fragen, ob die gesetzliche
Vermutung des Fehlens systemischer Mängel des Asylverfahrens und der
Aufnahmebedingungen zumindest für einzelne Gruppen besonders verletzlicher
Antragsteller erschüttert bzw. widerlegt ist. Eine Überstellung sogenannter
vulnerabler Personen kommt nur in Betracht, wenn der Aufnahme-Mitgliedschaft
eine entsprechende individuelle Garantieerklärung abgibt (vgl. BVerfG, Beschl. v.
22.07.2015 - 2 BvR 746/15 - m.w.N.)
27 Die Kammer hat allerdings in mehreren Verfahren des vorläufigen
Rechtsschutzes (vgl. etwa VG Freiburg, Beschl. v. 30.07.2014 - A 5 K 418/14 -
juris) zu Grunde gelegt, dass eine Beweislastumkehr ausnahmsweise dann
angezeigt ist, wenn erwiesen ist, dass in einem Mitgliedstaat systemimmanente
Schwachstellen bestanden haben, welche die Gefahr einer unmenschlichen oder
entwürdigenden Behandlung des jeweiligen Klägers als beachtlich wahrscheinlich
haben erscheinen lassen (das dürfte in Ungarn in den Jahren 2011 und 2012 der
Fall gewesen sein). In einem solchen Fall sollte ein durchgreifender Wandel der
Verhältnisse erst dann zu Grunde gelegt werden können, wenn er nachgewiesen
ist. Mit anderen Worten: Eine Verbesserung der Verhältnisse hinsichtlich der
Asylverfahren und der Aufnahmebedingungen, etwa durch Änderungen der
einschlägigen mitgliedstaatlichen Vorschriften oder durch Bereitstellung weiterer
personeller und sächlicher Mittel, sollte erst dann zu Lasten des jeweiligen
Schutzsuchenden angenommen werden, wenn die angestrebten
Verbesserungen in der Anwendung der verbesserten Vorschriften auch
nachweislich eingetreten sind; dass in den Monaten nach der Verbesserung der
rechtlichen Grundlagen noch keine aktuellen Beschwerden oder keine aktuelle
Kritik des UNHCR oder anderer Menschenrechtsorganisationen bekannt
geworden ist, sollte für die Annahme einer nachhaltigen Verbesserung der
Verhältnisse nicht ohne Weiteres ausreichen. Dem entspräche es im Übrigen
auch, dass die Mitgliedstaaten bei Griechenland tatsächlich wohl so verfahren
und mit einer Wiederaufnahme von Überstellungen nach Griechenland erst
wieder begonnen werden dürfte, wenn dort entsprechende Verfahren und
Aufnahmebedingungen gewährleistet sind.
28 Weiter erscheint der Kammer fraglich, ob bei der Feststellung systemischer
Mängel im Asylverfahren und bei den Aufnahmebedingungen eine vom jeweiligen
Asylbewerber selbst erfahrene menschenrechtswidrige Behandlung, etwa eine
längere, unbegründete Haft, eine längere unfreiwillige Obdachlosigkeit oder ein
langjähriges Fernhalten vom Asylverfahren, erst dann von Bedeutung sein soll,
wenn sich hieraus eine anhaltende, im Aufnahmestaat nicht zu behandelnde
Gesundheitsstörung (insbesondere posttraumatische Belastungsstörung)
ergeben hat.
29 Denn auch wenn solche Erfahrungen Einzelner für sich noch keine systemischen
Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen begründen können,
es sei denn, sie sind zahlreich und repräsentativ für eine (vulnerable) Gruppe, der
der jeweilige Antragsteller angehört, könnte eine selbst erlittene
menschenrechtswidrige Behandlung doch bei der Frage, ob die Beklagte in das
Asylverfahren als zuständiger Staat eintritt, jedenfalls aber bei der Prüfung, ob
eine Abschiebungsanordnung nach § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG erlassen wird, zu
berücksichtigen sein (§ 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, Art. 4 GRCh).
Davon scheint etwa das Schweizerische Bundesgericht auszugehen, das auch
Umstände berücksichtigt, welche die Schutzsuchenden bei ihrem Aufenthalt im
Erstaufnahmestaat individuell erlitten haben (z.B. sexuelle Übergriffe,
Suizidversuch, Therapiebedürftigkeit). (vgl. Urt. v. 09.10.2013 - E 2093/2012 - und
v. 30.10.2013 - E 3837/2012 -; zuletzt auch Urt. v. 23.07.2015 - D 2408/2015).
30 Unabhängig davon steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass jedenfalls
gegenwärtig in Ungarn systembedingte Mängel des Asylverfahrens und der
Aufnahmebedingungen bestehen, welche jeden Schutzsuchenden, der dorthin
zurücküberstellt wird, der beachtlichen Gefahr einer unmenschlichen oder
entwürdigenden Behandlung aussetzt. Dabei geht die Kammer von Folgendem
aus:
31 Die Zahl der nach Ungarn einreisenden Schutzsuchenden ist zuletzt sehr stark
angestiegen. Im Jahr 2012 wurden noch 2.155 Asylbewerber, im Jahr 2013
18.900 und im Jahr 2014 42.777 Schutzsuchende registriert. Im Jahr 2015 war
zunächst von 150.000 nach Ungarn einreisenden Schutzsuchenden bis zum
01.09.2015 die Rede (bei einer Gesamtbevölkerung Ungarns von etwa 10
Millionen Einwohnern); zuletzt wurden Zahlen von weit mehr als 300.000
Schutzsuchenden genannt, von denen die meisten, nur zum wohl geringeren Teil
registriert, nach Österreich weiterreisten. Ob die Errichtung eines Zauns an der
Grenze zu Serbien und nun auch zu Kroatien und überhaupt die restriktiv
wirkende Flüchtlingspolitik Ungarns jetzt zu einer Minderung der Zahl der nach
Ungarn einreisenden Schutzsuchenden führen, ist unklar.
32 Im März 2015 verfügte Ungarn über 2500 Plätze zur Aufnahme von Flüchtlingen
(vgl., auch zum Folgenden: EASO, Beschreibungen des ungarischen
Asylsystems, Stand März 2015); das Auswärtige Amt hatte in seiner Auskunft an
die Kammer vom 12.03.2015 im Verfahren A 5 K 2328/13 noch von 1.500 Plätzen
in offenen Aufnahmeeinrichtungen und von weiteren 400 Plätzen in
Asylhafteinrichtungen und der geplanten Eröffnung einer weiteren
Aufnahmeeinrichtung in Kiskunhalas gesprochen. Zur Anhörung von
Schutzsuchenden und zur Entscheidung über ihre Schutzanträge standen 56
Sachbearbeiter in ganz Ungarn bereit. Neue Mitarbeiter waren eingestellt, aber
noch nicht geschult. Schutzsuchende werden an der Grenze registriert und einem
der vier Empfangszentren zugewiesen; sie können auch auf eigene Kosten im
ganzen Land Unterkunft suchen, erhalten dafür aber keine Unterstützung. Wenn
sie an einer ihnen bezeichneten Stelle zur Stellung des Asylantrags oder zur
später angeordneten Anhörung nicht erscheinen, wird das Schutzgesuch
entweder, auf der Grundlage von hinreichenden Angaben bei der Registrierung
abgelehnt, oder das Verfahren wird wegen angenommener Rücknahme des
Schutzgesuchs eingestellt. Für einen Schutzsuchenden, der später sein
Schutzgesuch erneuert, wird ein nichtbeendetes Verfahren fortgesetzt, ein durch
Ablehnung des Schutzgesuchs beendetes Verfahren kann innerhalb der
Rechtsmittelfrist von acht Tagen im Rechtsbehelfsverfahren fortgesetzt werden.
Nach Ablauf der Rechtsmittelfrist hat der Schutzsuchende das Recht, einen
Folgeantrag zu stellen. Nach den Angaben des ungarischen Büros für
Einwanderung und Staatsangehörigkeit (OIN) werden auch Dublin-Rückkehrer
stets als Schutzsuchende behandelt. Gibt der Schutzsuchende aber im
Folgeverfahren die gleichen Gründe an wie im ersten Verfahren, kann der
Folgeantrag als unzulässig behandelt werden.
33 Zur Rücküberstellung nach Ungarn hat das Auswärtige gegenüber der Kammer
(Auskunft v. 12.03.2015 im Verfahren A 5 K 2328/13) erläutert: Die per Flug
Überstellten würden zur Zentrale des ungarischen Amts für Staatsbürgerschaft
und Einwanderung gebracht und informiert, dass sie als Asylbewerber behandelt
würden. Wenn ein erstes Asylverfahren in Ungarn ohne Entscheidung in der
Sache oder durch Rücknahme beendet worden sei, werde es fortgesetzt, sonst
werde ein Zweitantrag angenommen. Bei einem Zweitantrag würden (nur)
nachträglich entstandene Umstände berücksichtigt. Die Klagefrist betrage drei
Tage nach Bekanntgabe/Zustellung der Entscheidung. Bis zur unanfechtbaren
Entscheidung im Asylverfahren hätten Asylbewerber Anspruch auf
Sozialleistungen, es sei denn, der Asylantrag sei als offensichtlich unbegründet
oder unzulässig abgelehnt worden. Ausgeschlossen von den im Asylgesetz
geregelten Sozialleistungen seien auch Zweitantragsteller, deren Erstverfahren
eingestellt oder abgelehnt worden sei oder bei denen das refoulement-Verbot
einer Abschiebung nicht entgegen stehe. Ausreisepflichtige müssten die
Unterkunft verlassen, der Aufenthalt sei auf einen bestimmten Regierungsbezirk
(Komitat) beschränkt. Sie könnten in öffentlichen Notunterkunftsplätzen des
jeweiligen Regierungsbezirks unterkommen und eine kostenlose medizinische
Notfallversorgung in Anspruch nehmen. Bei Zuerkennung eines Schutzstatus
könnten sie Integrationsleistungen beanspruchen. Seit Januar 2014 würden diese
auf örtlicher Ebene (dezentral) durchgeführt. Dabei wirke ein örtlich zuständiger
Dienst für Familienförderung mit (auch für Personen ohne Schutzstatus). Es
würden individuelle Integrationsvereinbarungen geschlossen. Bei der Förderung
der sozialen Integration leiste der Dienst neben finanziellen Hilfen u.a. auch Hilfe
bei der Arbeitssuche. In der Flüchtlingshilfe engagierten sich u.a. die
Flüchtlingsmission der Reformierten Kirche, die Ungarische Gesellschaft für
Migranten und das Helsinki-Komitee. In den Jahren von 2012 bis 2014 habe es
335, 850 bzw. 827 Rücküberstellungen im Dublin-Verfahren gegeben.
34 Der UNHCR hat in seiner Auskunft an die Kammer vom 30.09.2014 im Verfahren
A 5 K 2328/13 weitgehend entsprechende Angaben gemacht. Die am 01.07.2013
in Kraft gesetzten neuen Bestimmungen zur Inhaftierung von Schutzsuchenden
bis zu sechs Monaten hat er kritisch beurteilt. Nach seiner Ansicht würden
praktisch alle Dublin-Rückkehrer in Haft genommen, ausgenommen Familien
oder besonders vulnerable Asylsuchende. Beim damaligen Stand hat der
UNHCR für den August 2014 dank Unterstützung der Europäischen Union eine
Verbesserung der Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge gesehen. Anerkannte
Flüchtlinge müssten mehrere Monate warten, bis sie Integrationshilfen
beanspruchen könnten. Hinsichtlich der medizinischen, psychologischen und
psychotherapeutischen Versorgung von Flüchtlingen gebe es aus allen
Aufnahmeeinrichtungen Beschwerden. Drogen- und andere Abhängige hätten
keinen Zugang zu medizinischen Diensten. Ein psychisches Problem seien auch
fehlende tägliche Beschäftigung und Abwechslung. Wer keine permanente
Adresskarte habe, habe Probleme beim Zugang zu medizinischen Diensten. Zum
01.01.2014 seien Regelungen zur Integration von Personen mit Schutzstatus
eingeführt worden. Es gebe systemische Probleme, die einer Integration von
Flüchtlingen entgegen stünden. Das System der gesetzlichen Hilfen sei unter
anderem bei weitem nicht genügend finanziert. Obdachlose, die auf öffentlichen
Plätzen nächtigten, würden kriminalisiert. Im Juni 2013 seien unter Hinweis auf
diese Bedingungen etwa 70 und im August 2013 nochmals etwa 20 afghanische
Staatsangehörige nach Deutschland weitergereist. Pro Asyl und bordermonitoring
hätten berichtet, dass Inhaber eines Schutzstatus nach der Rückkehr nach
Ungarn sich in einer besonders verletzlichen Lage befunden hätten. Deren
finanzielle Unterstützung sei zu gering gewesen, um eine Wohnung zu finden.
Auch in Obdachlosenunterkünften habe es nicht genügend Plätze für Flüchtlinge
gegeben. Eine im Jahr 2012 erfolgte Befragung habe ergeben, dass fast die
Hälfte der Personen mit Schutzstatus keine Arbeit gehabt hätten, was u.a. auf den
Mangel an Ausbildung und Berufserfahrung und den Mangel an ungarischen
Sprachkenntnissen zurückgeführt werden könne. Die Inhaftierungspraxis und
deren gerichtliche Kontrolle sei mangelhaft. Die Ernährung der Flüchtlinge in Haft
sei nach deren Angaben unzureichend, seitens des Personals in den
Haftanstalten gebe es Rassismus und Missbrauch. Neu eingestelltes Personal in
den Aufnahmeeinrichtungen habe keine Berufserfahrung und auch keine
entsprechende Ausbildung durchlaufen. Es gebe keine Vorkehrungen,
verletzliche Personen zu erkennen. Die Hygiene-Einrichtungen in den
Aufnahmeeinrichtungen seien unzureichend. Über private Organisationen, die
Flüchtlinge unterstützen und dabei vom ungarischen Staat unterstützt würden,
lägen keine Auskünfte vor.
35 Am 23.09.2015 hat die Europäische Kommission gegen Ungarn zwei
Vertragsverletzungsverfahren wegen ausstehender Berichte zur Einhaltung von
Asylverfahrensbestimmungen und zur Einhaltung der Standards für
Aufnahmebedingungen anerkannter Flüchtlinge eingeleitet. Auch gegen
zahlreiche andere Mitgliedstaaten, darunter die Bundesrepublik Deutschland,
wurden Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Zugleich hat die Kommission
umfangreiche unmittelbare, operative, budgetäre und rechtliche Maßnahmen im
Rahmen der Europäischen Migrationsagenda angekündigt, wozu auch eine
Ausweitung der finanziellen und personellen Unterstützung der am stärksten von
der Flüchtlingsmigration betroffenen Mitgliedstaaten gehören.
36 Wegen der im Lauf des ersten Halbjahres 2015 stark angestiegenen Zahl an
Schutzsuchenden hat Ungarn im Juli 2015 entlang der 174 km langen Grenze zu
Serbien einen festen bzw. aus übereinander liegenden Rollen von sogenanntem
Nato-Draht gefertigten durchgehenden Zaun errichtet, um die Schutzsuchenden
zu veranlassen, die serbisch-ungarische Grenzen nur an den Grenzübergängen
zu überschreiten und um diese nahe der Grenze registrieren zu können. Geplant
war (und noch nicht verwirklicht ist), Schutzsuchende nicht weiter ins Land
einreisen zu lassen, und grenznahe Unterkünfte und Einrichtungen zur Aufnahme
zu errichten. Um auch das Militär einsetzen zu können, wurde an die Ausrufung
eines "Migrationsnotstands‘“ gedacht.
37 Die ungarische Bevölkerung ist nach vielen Pressemeldungen gegenüber den
Schutzsuchenden überwiegend ablehnend eingestellt. Die Regierung greift diese
Stimmung nicht nur auf, sondern befördert sie. Laut Pester Lloyd vom 12.06.2015
hat der ungarische Ministerpräsident etwa geäußert: „Wir müssen alles
versuchen, um Ungarn das Zusammenleben mit Menschen verschiedener
Kulturen zu ersparen“. Im Juli 2015 beharrte er darauf, dass Ungarn ein
ungarisches Land bleiben solle. Bei einer vom UNHCR deutlich kritisierten
landesweiten Regierungskampagne wurde plakatiert: "Wenn du nach Ungarn
kommst, darfst du den Ungarn nicht die Arbeit wegnehmen!“ (Spiegel-online v.
02.09.2015). Auch empfindet die ungarische Regierung die Arbeit von
Nichtregierungsorganisationen als Einmischung und behindert deren Arbeit
(Spiegel-online v. 12.09.2014).
38 In einem Interview (FAZ vom 03.09.2015, S. 10) hat der ungarische
Ministerpräsident geäußert, Europa müsse verstehen, dass man nicht aufnehmen
könne, wenn man überrannt werde. Deshalb sei der Zaun, den Umgarn baue,
wichtig. Er folge aus dem Schengener Abkommen. Das ungarische Volk sei
konsultiert worden. Von acht Millionen Wählern hätten eine Million geantwortet. 85
% von ihnen meinten, die Union sei bei der Bewältigung der Einwanderung
gescheitert. Europa könne nicht gegen den Willen der Bürger sein. Nur wenn die
Grenzen beschützt würden, könnten Fragen gestellt werden nach der Anzahl der
Menschen, die Europa aufnehmen wolle oder ob es Quoten geben solle. Die
Menschen, die kämen, seien meistens keine Christen, sondern Muslime. Wenn
das aus den Augen verloren würde, könne der europäische Gedanke auf dem
eigenen Kontinent in die Minderheit geraten. Die erwähnte Umfrage hatte die
Mitteleuropa-Vertretung des UNHCR zum Anlass genommen, ihre „zutiefste“
Besorgnis zum Ausdruck zu bringen, dass die ungarische Regierung Flüchtlinge
als Gefahr für das Land darstelle (Salzburger Nachrichten v. 08.05.2015 - online),
und eine Gegenkampagne gestartet, in deren Rahmen ab dem 01.07.2015 500
Plakate im ganzen Land aufgehängt werden sollten. Eine Sprecherin des UNHCR
habe dazu gesagt, die Lage in Ungarn sei eine besondere, weil nicht, wie in
kleinen Ländern, kleine Gruppen Fremdenhass schürten, sondern die Regierung;
ein positives Zeichen sei, dass die Reaktionen in der ungarischen Öffentlichkeit
gespalten seien (euronews v. 17.06.2015). Die ungarische Regierung sieht, wie
auch die Errichtung von Grenzzäunen zu Serbien und Kroatien zeigt, die ein- und
durchreisenden Flüchtlinge ausdrücklich als Gefahr an (Handelsblatt v.
02.10.2015: Orban: „Das Land ist von einer Flüchtlingsarmee bedroht“). Gemeldet
wurde auch, ein Sprecher der Partei Fidesz habe gesagt, das größte
Aufnahmelager Debrecen (das Platz für 930 Menschen bietet, aber nur mit derzeit
260 Menschen belegt sei), solle mit Rücksicht auf die Bewohner der Umgebung
geschlossen werden; der UNHCR habe das Vorgehen Ungarns gegenüber den
Flüchtlingen u.a. deshalb als sehr besorgniserregend bezeichnet (DLF v.
02.10.2015).
39 Es gibt nur wenige Hilfsorganisationen, welche sich um Schutzsuchende bzw.
anerkannte Schutzsuchende kümmern. Über bürgerschaftliche Hilfe wird
berichtet. Wie wirksam diese bei der großen Zahl der Schutzsuchenden sein
kann, lässt sich nicht einschätzen.
40 Insbesondere hinsichtlich der jüngsten Änderungen der ungarischen Asylgesetze
und sonstiger neuerer Entwicklungen hat die Beklagte in keinem der am
13.10.2015 verhandelten Verfahren substantiiert dargelegt, wie sich die
Aufnahmebedingungen und das Asylverfahren rechtlich und tatsächlich in den
letzten Monaten entwickelt haben.
41 Die Kammer konnte auch nicht unmittelbar von dem Verbindungsbeamten des
Bundesamts für Migration und Flüchtlinge bei der ungarischen Asylbehörde
Erkenntnisse erhalten. Dieser hat auf eine - außerhalb dieses Verfahrens erfolgte
- Anfrage per E-Mail nach den letzten Änderungen im ungarischen Asylrecht
mitgeteilt, er könne nicht (mehr) unmittelbar Auskunft erteilen, Auskünfte erteilten
die Dublin-Referate des Bundesamts. Der Informationsaustausch der Dublin-
Referate des Bundesamts mit den Vertretern des Bundesamts vor den
Verwaltungsgerichten scheint allerdings zur Zeit nicht gewährleistet zu sein; denn
diese haben sich nicht in der Lage gesehen, aktuelle Erkenntnisse mitzuteilen.
42 Die Kammer stützt sich daher, was die Entwicklung in den letzten Monaten betrifft,
in tatsächlicher Hinsicht in erster Linie auf den Bericht des European Asylum
Support Office (EASO) im Anschluss an eine Bereisung vom 16. bis 20.03.2015
sowie auf zahlreiche Internet-Veröffentlichungen des Asylum Information
Database of the European Council on Refugees and Exiles etc. sowie
insbesondere auf die in der Rechtsprechung des österreichischen
Bundesverwaltungsgerichts umfassend wiedergegebenen und laufend
aktualisierten Berichte des österreichischen Verbindungsbeamten bei der
ungarischen Asylbehörde (vgl. zuletzt öster. BVwG, Urt. v. 24.09.2015 - W
1442114716-1/3 E -, Internet-Seite des österreichischen Bundeskanzleramts, dort
Rechtsinformationssystem -RIS-; dort finden sich im Einzelnen insbesondere
Ausführungen zum Asylverfahren allgemein (2.), zur Haft (3.), zur Lage von
Dublin-Rückkehrern (4.), zu vulnerablen Gruppen (5.), zur Versorgung,
insbesondere Unterbringung (7.) und zur Lage von Schutzberechtigten (8.), auf
die die Kammer Bezug nimmt).
43 Danach hat Ungarn im Juli 2015 mit Wirkung ab dem 01.08.2015 das
Asylrechtsgesetz in erheblichem Umfang geändert und eine entsprechende
Durchführungsverordnung erlassen. Als sicherer Drittstaat wurden u.a. auch die
Beitrittskandidaten zur Europäischen Union benannt, also auch Serbien.
Zahlreiche Beschleunigungs- und Darlegungspflichten wurden eingeführt bzw.
verschärft. 160 ungarische Rechtsanwälte haben daraufhin die neuen
Regelungen, darunter auch Behandlung Minderjähriger ab 14 Jahren als
Grenzverletzer mit einer Strafdrohung von bis zu drei Jahren, keine zwingende
Übersetzung von Anklage und Urteil, als Verstoß gegen Völkerrecht gewertet
(spiegel-online v. 03.10.2015: „Ungarn urteilt Flüchtlinge im Schnellverfahren ab“).
Für die Inhaftierung von Asylsuchenden gibt es seit dem 01.07.2015 geänderte
Bestimmungen. Asylhaft wird insbesondere verhängt, wenn Grund zu der
Annahme besteht, dass der Antragsteller das Asylverfahren verzögern oder sich
diesem entziehen wird. Dann bleibt die Haft für die Dauer des gesamten
Asylverfahrens aufrecht erhalten. Im Jahr 2014 wurden insgesamt 4.806
Personen in Asylhaft genommen, am häufigsten Asylsuchende aus dem Kosovo
und aus Afghanistan (1.038). Im Jahr 2015 gingen die Zahlen möglicherweise
zurück. Ab September 2014 wurden wieder Familien mit Kindern in Asylhaft
genommen. Mitte März 2015 soll diese Praxis aufgrund eines Berichts des
ungarischen Ombudsmanns für Menschenrechte wieder eingestellt worden sein;
aktuelle Informationen dazu gibt es nicht.
44 Für das Vorliegen systembedingter Mängel mit der Folge, dass aktuell jeder
Asylbewerber in Ungarn Gefahr liefe, dort menschenrechtswidrig behandelt zu
werden, spricht bereits der Umstand, dass seit September 2015 die
Bundesrepublik Deutschland wie auch Österreich davon ausgehen, dass Ungarn
nicht in der Lage ist, die große Zahl an einreisenden Flüchtlingen nach den
unionsrechtlichen Regeln durch ein Asylverfahren zu führen und - bei Erreichen
eines Schutzstatus - auch auf Dauer hinreichende Aufnahmebedingungen zur
Verfügung zu stellen.
45 Dem entspricht es, dass eine zunehmende Zahl von Verwaltungsgerichten in
Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes wie auch in Urteilen aus
unterschiedlichen Erwägungen zur Auffassung gelangt, dass Ungarn zur Zeit
nicht als zuständiger Staat betrachtet werden darf (u.a. VG Hannover, Beschl. v.
29.07.2015 - 10 B 2196/15 -; VG Düsseldorf, Beschl. v. 21.08.2015 - 8 L
2811/15.A -; VG München, Beschl. v. 21.05.2015 - M 16 S 15.50329 -; VG Köln,
Urt. v. 15.07.2015 - 3 K 2005/15.A - und v. 08.09.2015 - 18 K 4584/15.A -; VG
Bremen, Urt. v. 30.06.2015 - 3 K 296/15 -; VG Saarland, Beschl. v. 12.08.2015 - 3
L 776/15; VG Münster, Beschl. v. 07.07.2015 - 2 L 858/15.A -, alle juris).
46 In der Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte ist die Frage nicht geklärt.
Wenigen ablehnenden Entscheidungen (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 06.08.2013
- 12 S 675/13 - InfAuslR 2014, 29 OVG Sachs.-Anh., Beschl. v. 31.05.2013 - 4 L
169/12 -, Bayer.VGH, Beschl. v. 12.06.2015 - 13a ZB 15.50097 - juris; alle juris)
steht gegenüber, dass etwa das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht die
Berufung gegen eine klagabweisende Entscheidung zugelassen hat (Beschl. v.
15.05.2015 - 8 LA 85/15 - a.a.O.).
47 Zwar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2014 (E. v.
03.07.2014 - Nr. 71932/12 - gestützt auf
Stellungnahmen des UNHCR, des Ungarischen Helsinki-Kommitees und des
Berichts einer UN-Arbeitsgruppe, die sich mit den Haftbedingungen in Ungarn
befasst hat, entschieden, dass im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vom
03.07.2014 mit Blick auf die signifikanten Änderungen der ungarischen
Asylgesetze weder die Inhaftierungspraxis noch die Haftbedingungen den
dortigen Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) einer
menschenrechtswidrigen Behandlung in Ungarn als Asylsuchender aussetzen
würde; gleiches gelte für die Gefahr einer Überstellung des Klägers nach Serbien.
Auch der Europäische Gerichtshof hatte noch im Jahr 2013 (Urt. v. 10.12.2013
a.a.O.) systemische Mängel im ungarischen Asylsystem verneint.
48 Demgegenüber haben sich die Verhältnisse aber - auch für sog. Dublin-
Rückkehrer - in Folge der sehr stark gestiegenen Zahl der Flüchtlinge und der
hierauf erlassenen Gesetzesverschärfungen in Ungarn aber in tatsächlicher wie
rechtlicher Hinsicht wesentlich verschlechtert (vgl., insbesondere zur
Inhaftierungspraxis, zu den Haftbedingungen und zur gerichtlichen Kontrolle, VG
Köln, Urt. v. 30.07.2015 a.a.O.; VG Saarland, Beschl. v. 12.08.2015 a.a.O.; vgl.
auch schon VG Berlin, Beschl. v. 23.01.2015 – 23 L 717.14 A – juris; auch VG
München, Urt. v. 29.08.2014 - M 24 K 13.31294 -; VG Düsseldorf, Beschl. v.
27.08.2014 - 14 L 1786/14.A - juris). Zudem sieht Ungarn seit dem 01.09.2015
Serbien wieder als sicheren Drittstaat an, wobei noch nicht klar ist, ob und unter
welchen Voraussetzungen es tatsächlich zu Überstellungen nach Serbien
kommen wird, insbesondere auch von Personen, welche nach den Dublin-Regeln
nach Ungarn zurücküberstellt werden und die dort möglicherweise als
Folgeantragsteller behandelt würden (vgl. öster. BVwG, Urt. v. 24.09.2015 a.a.O.).
49 Ob die neuen Vorschriften zur Beschleunigung der Asylverfahren in jeder Hinsicht
dem Unionsrecht genügen, ist zumindest sehr zweifelhaft. Das gilt insbesondere
für die Frage, ob und in welchen Fällen Dublin-Rückkehrer bei Fortsetzung des
Asylverfahrens bzw. in einem Zweitverfahren in ihrem Vorbringen beschränkt
sind, ferner auch für die Frage, ob es zulässig ist, dass ein Asylverfahren
eingestellt wird, wenn der Antragsteller für die Dauer von 48 Stunden nicht in der
Aufnahmeeinrichtung angetroffen werden kann, der er zugewiesen ist (so VG
Köln a.a.O.).
50 Schließlich kann es nicht zu Lasten der Betroffenen ausschlagen, dass es aktuell
keine verlässlichen Berichte über die tatsächliche Lage von Asylbewerbern und
Inhabern von internationalem Schutz in Ungarn gibt und dass Ungarn selbst
gegenüber der Europäischen Kommission nicht berichtet, inwieweit es - unter der
augenscheinlichen Überlastung - die Asylverfahren und die
Aufnahmebedingungen entsprechend den unionsrechtlichen Vorgaben
bewältigen kann.
51 Vielmehr muss bei der Beurteilung einer Gefahrenlage für nach Ungarn
rücküberstellte Asylbewerber vor allem das oben geschilderte innenpolitische
Klima berücksichtigt werden. Indem die Regierung in der öffentlichen Debatte
einseitig die Abwehr von Flüchtlingen betont und Ängste in der Bevölkerung
schürt, trägt sie erheblich dazu bei, dass bei es der Anwendung der gesetzlichen
Regelungen, auch soweit diese dem europäischen Flüchtlingsrecht zweifellos
entsprechen, zu Menschenrechtsverletzungen kommen kann.
52 Insbesondere lässt die ungarische Politik keine hinreichende Bereitschaft
erkennen, von Ungarn als schutzbedürftig anerkannten Personen bei der
Integration in die Gesellschaft beizustehen. Die dafür geschaffenen Regeln und
die dafür bereit gestellten Mittel sind nach der Auskunft des UNHCR offensichtlich
unzureichend. So erscheint als nicht gesichert, dass Menschen, die in Ungarn
internationalen Schutz erhalten haben, insbesondere auch Dublin-Rückkehrer, in
den Genuss der ohnehin deutlich unterfinanzierten gesetzlichen
Integrationsangebote kommen können. Für die zuletzt genannte Gruppe dürfte
dies schon an den verstrichenen Antragsfristen scheitern. Auch die Bereitstellung
von Wohnraum für diesen Personenkreis ist völlig ungewiss. Eine Verweisung in
die staatlichen bzw. kommunalen Obdachlosenunterkünfte scheitert an den
Kapazitäten und für Familien auch daran, dass dort keine Kinder aufgenommen
werden; in zahlreichen Verfahren ist der Kammer von den Klägern überzeugend
vorgetragen worden, dass es ihnen nicht gelungen ist, Wohnung und Arbeit zu
finden.
53 Aus diesen Gründen ordnet das österreichische Bundesverwaltungsgericht seit
September 2015 in Dublin-Ungarn-Fällen die aufschiebende Wirkung der Klagen
regelmäßig an. Von ihm gibt es auch schon stattgebende
Hauptsachentscheidungen. Diese sind allerdings - wohl mangels einer Pflicht,
Spruchreife selbst herbeizuführen - damit begründet, dass die Veränderung der
Sachlage weiterer Aufklärung durch die österreichische Asylbehörde bedarf (vgl.
Urt. v. 24.09.2015 a.a.O.).
54 Der Feststellung von systembedingten Mängeln des ungarischen Asylsystems im
oben dargelegten Sinn lässt sich nicht - wie dies die Beklagte tut - entgegen
halten, dass weitaus die meisten Schutzsuchenden gar nicht in Ungarn bleiben,
sondern, entgegen dem ungarischen Flüchtlingsrecht auf allen möglichen Wegen
nach Österreich und von dort insbesondere in die Bundesrepublik Deutschland,
aber etwa auch weiter nach Schweden, reisen wollen. Denn der Andrang von
Flüchtlingen auch an den ungarischen Grenzen dauert weiter an. Außerdem wäre
Ungarn jedenfalls dann, wenn, wie im Fall des Klägers, die anderen Dublin-
Staaten auf einer Rücküberstellung dorthin bestehen würden, wiederum mit der
Zahl der Antragsteller überfordert.
55 Soweit in zahlreichen Entscheidungen anderer Verwaltungsgerichte darauf
abgehoben wird, dass der UNHCR, anders als bei Griechenland und -
eingeschränkt - Bulgarien, aktuell keine generelle Empfehlung ausgesprochen
hat, Asylsuchende nicht nach Ungarn zu überstellen, vermag dem die Kammer
nicht zu folgen. Der UNHCR selbst hält einer solchen Interpretation entgegen,
dass das Fehlen einer solchen generellen Empfehlung keineswegs bedeute, er
sei der Auffassung, dass keine solchen einer Überstellung entgegenstehenden
Umstände vorlägen oder im Einzelfall vorliegen könnten. Aus seiner Sicht ist es
Sache der Behörden und Gerichte, im Einzelfall zu prüfen, ob drohende
Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung in einen Mitgliedstaat der
Europäischen Union ausschlössen. Der UNHCR weist insoweit auch darauf hin,
dass der Supreme Court des Vereinigten Königreichs diese Auffassung
ausdrücklich bestätigt habe (vgl. UNHCR an VG Bremen v. 30.09.2014). Auch hat
der UNHCR angesichts der jüngsten Entwicklung wiederholt vor einer „weiteren
Verschlechterung der Lage“ gewarnt und betont, es sei wichtig, dass die
Umsetzung der neuen asyl- und haftrechtlichen Vorschriften gut durchdacht
werde, andernfalls „das zu Chaos“ führen würde (heute.de v. 05.10.2015). Im
Übrigen bedürfte es gegenwärtig entsprechender Warnungen des UNHCR nicht,
weil Überstellungen nach Ungarn wohl seit einigen Monaten gar nicht mehr
stattfinden. Das ergibt sich aus Folgendem:
56 Aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage aus dem
Deutschen Bundestag vom 18.08.2015 (BT-Drucksache 18/5785, S. 18 ff., noch
mit dem Vermerk "Vorabfassung - wird durch die lektorierte Version ersetzt")
ergibt sich, dass das Bundesamt im ersten Quartal 2015 2952 und im zweiten
Quartal 2015 3565 Übernahmeersuchen an Ungarn gerichtet hatte. Etwa 80 %
der Ersuchen (2.304 bzw. 2.665) akzeptierte Ungarn. Im ersten Quartal 2015 gab
es 30 Selbsteintritte oder faktische Überstellungshindernisse in Bezug auf
Ungarn, im zweiten Quartal 2015 171. Tatsächlich überstellt wurden nach Ungarn
(nach der Dublin-Verordnung) im ersten Quartal 2015 aber nur 42 Personen und
im zweiten Quartal 2015 nur 61 Personen, also nur etwa 2 Prozent bezogen auf
die Zahl der akzeptierten Übernahmeersuchen. Die Gründe dafür sind nicht
bekannt und auch auf Nachfrage vom Bundesamt nicht zu erfahren. Sie dürften
einerseits in einer begrenzten Aufnahmebereitschaft Ungarns (Kontingentierung
der Aufnahme), andererseits aber auch in der beschränkten Kapazität der
zuständigen deutschen Behörden liegen. Ein ähnliches Bild bietet die
schweizerische Asylstatistik. Die Schweiz hatte im ersten Halbjahr 2015 407
Ersuchen an Ungarn gestellt, die Ungarn in 333 Fällen akzeptierte; tatsächlich
überstellt wurden im gleichen Zeitraum nur 54 Personen, also etwa 16 % der
akzeptierten Übernahmeersuchen.
57 Seit mehreren Monaten finden auf Bitten Ungarns wohl überhaupt keine
Rücküberstellungen von Deutschland aus mehr statt (vgl. die Nachweise bei VG
Hannover, Beschl. v. 29.07.2015 - 10 B 2196/15 - juris). Nachfragen der Kammer
dazu hat das Bundesamt nicht beantwortet.
58 Auch deshalb ist die angefochtene Abschiebungsanordnung rechtswidrig. Denn §
34a Abs. 1 AsylVfG erfordert, dass die Abschiebung tatsächlich durchgeführt
werden kann. Dafür reicht eine Übernahmeerklärung Ungarns aber nicht aus,
wenn anschließend seitens des ungarischen Staats keine oder nur eine ganz
geringe Bereitschaft und so gut wie keine Kapazität besteht, Erst- und
Folgeantragsteller sowie überstellte Schutzsuchende und Inhaber internationalen
Schutzes tatsächlich aufzunehmen. Zumindest erscheint es als völlig fernliegend,
dass bei einer evtl. Wiederaufnahme von Überstellungen nach Ungarn in einigen
Monaten oder einem Jahr ausgerechnet diejenigen Schutzsuchenden
zurücküberstellt würden, welche sich nun schon seit mehreren Jahren im
Bundesgebiet aufhalten. Dies gilt umso mehr für Schutzsuchende, die in Ungarn
oder nach Zurückschiebung nach Serbien bzw. Griechenland
Menschenrechtsverletzungen in erheblichem Umfang, insbesondere eine
langdauernde Asylhaft, erfahren haben, wenn dies zu erheblichen
gesundheitlichen Beeinträchtigungen geführt hat. Daraus kann sich - wie oben
dargelegt - sogar ein Abschiebungsverbot in rechtlicher Hinsicht ergeben (§ 60
Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK).“
59 Seither sind zahlreiche weitere entsprechende Entscheidungen in
Hauptsacheverfahren bekannt geworden (u.a. VG München, Urt. v. 26.08.2015 - M
24 K 15.50507 - juris; VG Augsburg, Urt. v. 18.08.2015 - Au 6 K 15.50155 -; VG
Düsseldorf, Beschl. v. 17.11.2015 - 22 L 3509/15.A -; VG Gelsenkirchen, Urt. v.
04.11.2015 - 7a K 3026/15.A - alle juris; VG Karlsruhe, Urt. v. 24.09.2015 - A 2 K
168/14 -;), die allerdings nicht Schutzsuchende betreffen, welche bereits einen
Schutzstatus in Ungarn erlangt hatten. Auch hat die Europäische Kommission u.a.
gegen Ungarn am 1012.2015 ein Vertragsverletzungsverfahren wegen
mangelhafter Umsetzung von EU-Asylrecht eingeleitet. Anhaltspunkte dafür, dass
sich die Verhältnisse in Ungarn hinsichtlich der Aufnahmebedingungen auch für
anerkannte Flüchtlinge dort wesentlich gebessert hätten, sind nicht bekannt
geworden. Insbesondere hat die Beklagte solche nicht vorgetragen.
60 Es erscheint zwar als zweifelhaft, dass die Kläger im Zuge einer Überstellung nach
Ungarn dort in Haft genommen würden, da sie sich dort auf ihren Flüchtlingsstatus
berufen können.
61 Es ist aber, angesichts der oben getroffenen Feststellungen und der der Beklagten
anzulastenden Unmöglichkeit, aktuelle Informationen aus Ungarn diesbezüglich zu
erhalten, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass die Kläger bei
einer Rückkehr nach Ungarn zum jetzigen Zeitpunkt dort in die Obdachlosigkeit
fallen, keinen Notschlafplatz finden, keine ausreichende Unterstützung erhalten
und auch keine Hilfen bei der Suche nach Wohnung und Arbeit erhalten würden.
Dies ist ihnen umso weniger zuzumuten, als sie - nach ihren Angaben, an deren
Richtigkeit die Kammer keinen Grund hat zu zweifeln - bei früheren Aufenthalten in
Ungarn nicht nur eine völlig unzureichende Unterstützung erfahren haben,
sondern dort sogar für sechs Monate als Asylsuchende inhaftiert und überdies
wiederholt rechtswidrig von Ungarn nach Serbien überstellt worden waren, wo
jedenfalls damals gleichfalls, wegen der Gefahr der Weiterüberstellung nach
Griechenland, systemische Mängel des Asylverfahrens und der
Aufnahmebedingungen bestanden. Unabhängig hiervon ist nicht ersichtlich, wie
die Familie mit dem im Jahr 2013 geborenen Kleinkind in Ungarn menschenwürdig
leben können sollte. Die Kläger haben eindrücklich vortragen lassen, dass und
weshalb ihnen dies trotz großer Bemühungen in den Jahren 2012 und 2013 dort
nicht gelungen ist. Die Bedingungen dafür dürften sich aufgrund der oben
dargelegten politischen Abwehrhaltung der ungarischen Regierung und der
nachgeordneten Stellen gegenüber Schutzsuchenden und auch Flüchtlingen eher
noch verschlechtert haben.
62 Rechtswidrig ist die Abschiebungsanordnung auch deshalb, weil die Abschiebung
auf unabsehbare Frist nicht ausgeführt werden kann; denn - wie oben ausgeführt -
erscheint es als ausgeschlossen, dass Ungarn gegenwärtig und auf absehbare
Zeit Schutzsuchende (im Rahmend der Dublin-Regeln) oder anerkannte
Flüchtlinge (im Rahmen des deutsch-ungarischen Rückübernahmeabkommens)
wieder von Deutschland übernimmt.
63 Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 2, § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b
AsylVfG. Der Gegenstandswert folgt aus § 30 RVG.