Urteil des VG Freiburg vom 13.10.2015

ungarn, genfer flüchtlingskonvention, asylbewerber, mitgliedstaat

VG Freiburg Urteil vom 13.10.2015, A 5 K 1405/13
Dublin-Verfahren; Abschiebungsanordnung nach Ungarn; systemische Mängel;
Familie mit Kleinkindern
Leitsätze
1. Die Gewährung von subsidiärem Schutz in einem Dublin-Staat führt nicht zur
Unzulässigkeit eines in der Bundesrepublik Deutschland gestellten, auf Anerkennung
als Flüchtling gerichteten (Zweit-)Asylantrags (wie VGH Bad.-Württ., Urt. v. 29.04.2015
- A 11 S 57/15 -; möglicherweise anders BVerwG, Beschl. v. 30.09.2015 - 1 B 51.15 -).
2. Gegenwärtig bestehen in Ungarn systemische Mängel der Aufnahmebedingungen
auch für Personen, die in Ungarn internationalen Schutz erlangt haben, welche diese
im Falle einer Überstellung nach Ungarn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der
Gefahr einer menschenunwürdigen Behandlung aussetzen. Dies gilt insbesondere für
Familien mit Kleinkindern.
3. Abschiebungsanordnungen nach Ungarn sind gegenwärtig auch deshalb
rechtswidrig, weil Überstellungen nach Ungarn gegenwärtig und auf absehbare Zeit
tatsächlich nicht durchgeführt werden können. Es erscheint als fernliegend, dass bei
einer Wiederaufnahme von Überstellungen solche Schutzsuchende überstellt würden,
welche sich schon seit mehreren Jahren im Bundesgebiet aufhalten. Dies gilt umso
mehr für Schutzsuchende, die in Ungarn bereits Menschenrechtsverletzungen erlitten
haben.
4. Ist die Überstellung einer Familie in einen Dublin-Staat nur im Familienverbund
rechtmäßig, hängt die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsanordnung nur gegenüber
dem Vater der Familie davon ab, ob eine Überstellung der weiteren
Familienangehörigen angeordnet und durchgeführt werden kann.
Tenor
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 18.07.2013 wird
aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des - gerichtskostenfreien - Verfahrens.
Tatbestand
1 Der Kläger hat in Ungarn subsidiären Schutz erhalten und wendet sich dagegen,
dass die Beklagte seinen in der Bundesrepublik Deutschland gestellten Asylantrag
für unzulässig hält und seine Abschiebung nach Ungarn angeordnet hat.
2 Der Kläger sprach am 13.06.2013 bei der Landesaufnahmestelle in Karlsruhe vor.
Am 26.06.2013 beantragte er bei der Außenstelle Karlsruhe des Bundesamts für
Migration und Flüchtlinge Asyl. Dabei legte er einen am X 2012 ausgestellten
ungarischen Ausweis über die Gewährung subsidiären Schutzes vor und gab an:
Er sei am X 1985 in Teheran geboren und besitze die afghanische
Staatsangehörigkeit. Er sei schiitischen Bekenntnisses und verheiratet. Er spreche
persisch sowie etwas englisch und griechisch.
3 Bei seiner wohl ebenfalls am 26.06.2013 erfolgten Befragung gab der Kläger an: Er
habe bereits in Griechenland (2007 bis 2009), in Ungarn (2009) und in Belgien
(2011) Asyl beantragt und sei dort auch jeweils erkennungsdienstlich behandelt
worden. Im Jahr 2010 sei er von Ungarn nach Griechenland abgeschoben worden.
Von 2010 bis 2011 habe er im Kosovo gelebt. Am 06.02.2011 sei er wieder nach
Ungarn eingereist. 17 oder 18 Tage später sei er nach Belgien gegangen und
habe sich dort etwa dreieinhalb Monate aufgehalten. Am 25.05.2011 oder am
25.06.2011 sei er nach Ungarn abgeschoben worden und dort ins Gefängnis
gekommen. Er wolle nicht, dass sein Asylantrag in Ungarn geprüft werde, weil er
dort finanzielle und soziale Probleme habe und weil er und seine Frau mit dem
gemeinsamen Kind in Ermangelung einer Heiratsurkunde nicht als eine Familie
anerkannt würden. Nach Deutschland eingereist sei er am 12.06.2013.
4 Auf das Übernahmeersuchen des Bundesamts vom 27.6.2013 erklärte das
ungarische Office of Immigration and Nationality - Department of International
Affairs - Dublin Coordination Unit unter dem 09.07.2013, dass Ungarn den Kläger
gemäß Art. 16 Abs. 1e Dublin II-VO wiederaufnehmen werde.
5 Mit Bescheid vom 18.07.2013 stellte das Bundesamt fest, dass der Asylantrag
unzulässig sei und die Abschiebung nach Ungarn angeordnet werde. Der
Bescheid wurde dem Kläger am 24.07.2013 zugestellt.
6 Der Kläger hat am 29.07.2013 Klage erhoben und zugleich vorläufigen
Rechtsschutz beantragt. Mit Beschluss vom 28.08.2013 hat die Kammer die
aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet (A 5 K 1406/13).
7 Der Kläger trägt vor: In Griechenland habe er unter schlechtesten Bedingungen
leben müssen. Im Asylverfahren sei es über zwei Jahre zu keiner Anhörung
gekommen und es sei auch keine Entscheidung ergangen. In Ungarn sei er
zunächst vier Monate lang in einem geschlossenen Lager festgehalten und nach
vier Monaten nach Griechenland abgeschoben worden. Dort sei er wieder, für vier
Wochen, inhaftiert worden. In der Türkei habe er sich mit der illegal aus dem Iran
eingereisten afghanischen Staatsangehörigen Frau X getroffen. Sie hätten sich die
Ehe versprochen, hätten aber offiziell nicht heiraten können. Gemeinsam seien sie
in den Kosovo weiter gereist, wo sie für kurze Zeit unter schwierigsten
Bedingungen gelebt hätten. Von dort seien sie nach Ungarn gegangen. Am
06.02.2011 seien sie dort festgenommen worden. Weil man gedroht habe, sie zu
trennen, hätten sie beide Asyl beantragt. Sie seien ins Lager Debrecen gebracht
worden, wo die hygienischen Bedingungen extrem schlecht gewesen seien. Vor
dem Lager sei gegen die Asylbewerber demonstriert worden. Nach 17 oder 18
Tagen seien sie nach Belgien gereist. Belgien habe sie am 25.05.2011 nach
Ungarn abgeschoben. Obwohl seine Frau schwanger gewesen sei, seien sie in
einem geschlossenen Lager untergebracht worden, das sie nur für dringende
Termine und nur mit Handschellen hätten verlassen können. Anfang Oktober 2011
hätten sie subsidiären Schutz erhalten und auch eine Aufenthaltserlaubnis. Seine
Ehefrau habe Rechtsmittel eingelegt; ihr sei dann auch die Flüchtlingseigenschaft
zuerkannt worden. Am 10.10.2011 seien sie in das Lager Bicske in der Nähe von
Budapest verlegt worden. Nach der Geburt ihres Kindes am 05.03.2012 hätten sie
dort zwei kleine Zimmer mit eigener Küche und Bad erhalten. Die finanziellen
Mittel, die sie erhalten hätten, hätten nur knapp für die Ernährung gereicht, nicht
aber für Kleidung, Pampers usw. Es habe zwar einen Sprachkurs gegeben. Dieser
sei aber ineffizient und überfüllt gewesen. Seine andauernden und umfassenden
Bemühungen um Arbeit seien ohne Erfolg geblieben. Man habe ihm stets erklärt,
dass die Ungarn selbst keine Arbeit hätten, oder es sei ein ungarischer Abschluss
verlangt worden, auch wenn die Arbeit gar keine Qualifikation erfordert hätte. Auch
eine Wohnung sei unmöglich zu finden gewesen. So sei es praktisch allen
Bewohnern des Lagers gegangen. Die Wohnmöglichkeit im Lager sei einmal um
sechs Monate bis zum 10.10.2012 verlängert worden, weil sie eine Familie mit
einem kleinen Kind gewesen seien. Der Sohn sei nicht mit seinem Familiennamen
eingetragen worden. Ab dem 10.10.2012 hätten sie nicht mehr als Bewohner des
Lagers gegolten. Die Lagerausweise seien ihnen abgenommen worden.
Finanzielle Leistungen hätten sie nicht mehr erhalten. Eine medizinische
Betreuung sei nicht mehr möglich gewesen. Sie seien aber einfach dort geblieben,
obwohl sie wiederholt aufgefordert worden seien, das Zimmer zu räumen, und
hätten sich von Freunden innerhalb des Lagers helfen lassen; auch hätten sie
unregelmäßig in geringem Umfang darlehnsweise Geld von anderswo in Europa
lebenden Freunden erhalten. Bei den zuständigen Behörden und bei
Nichtregierungsorganisationen habe man ihnen erklärt, ihnen bei der Suche nach
einer Wohnung und bei ihren Problemen nicht helfen zu können. Wegen des
Winters hätten sie einen Räumungsaufschub bis Ende März 2013 erhalten. Seit
Anfang 2013 hätten Bewohner des Lagers Bicske zweimal vor dem ungarischen
Parlament und je einmal vor der UN-Vertretung und vor der EU-Vertretung in
Brüssel demonstriert, auch er und seine Frau seien dabei gewesen. Eine
Obdachlosenunterkunft sei für sie als Familie mit einem kleinen Kind keine Lösung
gewesen. Kleine Kinder würden dort nicht aufgenommen. Als Obdachlose hätte
ihnen zudem Kriminalisierung gedroht. Nach dem 30.03.2013 seien sie wiederholt
von der Polizei zur Räumung des Zimmers aufgefordert worden. Seine Frau, die
als damals Schwangere unter der viermonatigen haftartigen Unterbringung im
Lager Békéshaba gelitten habe, sei in sehr schlechter psychischer Verfassung.
Nach der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft habe sie ihr Reisedokument
und ihre Aufenthaltserlaubnis abgeben müssen und noch keine neuen erhalten. In
dieser Situation habe er sich entschlossen, mit anderen afghanischen Flüchtlingen
nach Deutschland zu reisen. Er gehöre wegen seiner wiederholten Inhaftierungen
sowie als Vater einer Familie mit einem Kleinkind zu einer besonders verletzlichen
Gruppe von Flüchtlingen. Ungarn habe ihn in seinem Recht aus Art. 3 EMRK
verletzt. Seine voraussichtlichen Lebensumstände bei einer Rückkehr nach
Ungarn stellten eine Verletzung von Art. 4 GRCh, Art. 8 EMRK und Art. 6 GG dar.
8 Der Kläger beantragt,
9
den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 18.07.2013
aufzuheben.
10 Die Beklagte beantragt,
11 die Klage abzuweisen.
12 Sie trägt vor: Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-
Württemberg gebe es gegenwärtig in Ungarn keine systemischen Mängel des
Asylverfahrens. Anerkannte Flüchtlinge und Personen mit einem Schutzstatus in
Ungarn seien im Prinzip ungarischen Staatsangehörigen gleichgestellt. Sie seien
sogar insoweit für eine Übergangszeit von zwölf Monaten ab Zuerkennung des
Schutzstatus beim Erhalt von Gesundheitsleistungen besser gestellt, als sie in
diesem Zeitraum kostenlosen Zugang dazu hätten, sofern sie nicht Mitglied einer
Sozialversicherung seien. Nach der Zuerkennung des Schutzstatus könnten sie
beanspruchen, für sechs bis zwölf Monate in einer sogenannten
Vorintegrationseinrichtung untergebracht zu werden. In Ausnahmefällen (bei Alter
und Krankheit) werde dies auch ohne zeitliche Begrenzung gewährt. Anschließend
könnten verschiedene Unterstützungsleistungen beantragt werden, die im
Einzelnen in der Ausführungsverordnung zum Ungarischen Asylgesetz geregelt
seien. Dazu gehörten eine finanzielle Starthilfe, Mietbeihilfen für sechs Monate, die
bis zu dreimal (in vier Jahren) verlängert werden könnten, Renovierungszuschüsse
und diverse andere Leistungen wie Arbeitslosenhilfe, Schulstarthilfe und
Sprachunterricht. Diese Leistungen folgten dem Prinzip des Förderns und
Forderns, wonach der Antragsteller bestimmte Voraussetzungen erfüllen, etwa
dem Arbeitsmarkt tatsächlich zur Verfügung stehen müsse. Bei der Suche nach
Wohnraum seien auch ungarische Staatsangehörige in der Regel auf sich allein
gestellt. Allgemein verstoße es nicht gegen Art. 3 EMRK, wenn die
Lebensverhältnisse in dem Staat, in den der Flüchtling rücküberstellt werden solle,
schlechter seien als in dem Staat, in den er weitergereist sei. Es lasse sich
jedenfalls nicht feststellen, dass Asylbewerber in Ungarn der Gefahr einer
unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt würden.
13 Die Kammer hat am 20.06.2014 beim Auswärtigen Amt und beim UNHCR
Auskünfte erbeten. Der UNHCR hat hierauf mit Schreiben vom 10.10.2014, das
Auswärtige Amt hat hierauf mit Schreiben vom 02.03.2015 geantwortet.
14 Die Ehefrau des Klägers und das gemeinsame, am X.2012 geborene Kind hatten
bereits am 11.09.2013 Asyl beantragt. Einen Überstellungsantrag nach Dublin-
Regeln lehnte die zuständige ungarische Stelle am 09.10.2013 mit der
Begründung ab, die Klägerin sei als Flüchtling anerkannt. Seither war das
Bundesamt in ihrem Asylverfahren untätig.
15 Die Beklagte hat weiter vorgetragen: Eine Rückübernahme der Frau des Klägers
komme nach dem bilateralen Rückübernahmeabkommen mit Ungarn in Betracht.
Anerkannte Flüchtlinge hätten in Ungarn im Prinzip mit Ausnahme des Wahlrechts
die gleichen Rechte wie ungarische Staatsangehörige. Sie erhielten eine
Integrationsunterstützung im Rahmen eines höchstens für zwei Jahre laufenden
Integrationsvertrags. Der Schutzberechtigte müsse hierfür einen Antrag innerhalb
von vier Monaten nach Zuerkennung der Schutzberechtigung stellen. Gewährt
werde vom ungarischen Staat ein Grundeinkommen, Unterstützung durch
Sozialarbeiter des örtlichen Sozialdienstes für Familien sowie kirchlicher
Einrichtungen, die beispielsweise bei der Beschaffung von Wohnraum und bei der
Integration in den ungarischen Arbeitsmarkt helfen würden. Seit dem 01.01.2014
sei die auf maximal ein Jahr befristete Unterbringung von Schutzberechtigten in
der zentralen Vorintegrationseinrichtung Bicske aufgegeben worden. Nunmehr
würden in der Regel innerhalb von zwei Monaten die Schutzberechtigten mit
Unterstützung örtlicher Behörden und kirchlicher Organisationen dezentral in
Kommunen untergebracht.
16 Der Kläger hat hierzu vorgetragen: Nach dem in Bezug genommenen bilateralen
Rückübernahmeabkommen seien Fristen für eine Überstellung einzuhalten, die
hinsichtlich der Frau des Klägers und des gemeinsamen Kindes verstrichen seien.
Soweit die Beklagte auf die Möglichkeit verweise, dass Schutzberechtigte in
Ungarn einen Integrationsvertrag abschließen könnten, sei die dafür einzuhaltende
Frist abgelaufen. Im Übrigen schütze eine solche Integrationsvereinbarung nicht
vor Obdachlosigkeit. Die Probleme bei der medizinischen Versorgung, wegen
rassistischer Angriffe, wegen Strafverfolgung bei Obdachlosigkeit seien wegen des
starken Anstiegs der Flüchtlingszahlen heute noch schwerwiegender als im Jahr
2013. Die Frau des Klägers sei aufgrund der geschilderten schwerwiegenden
traumatisierenden Geschehnisse psychisch erkrankt und in fachärztlicher
Behandlung. Ein Attest könne nachgereicht werden. Die Familie habe sich in
Deutschland gut integriert, das Kind besuche einen Kindergarten.
17 Die Beklagte wurde unter dem 02.09.2015 gebeten, eine Reihe von Fragen zur
Überstellungspraxis nach Ungarn zu beantworten. Die Beklagte hat hierauf
vorgetragen: Es handele sich um einen Dublin II-Fall. Dass der Antragsteller
subsidiären Schutz in Ungarn erhalten habe, ändere daran nichts, weil die
Gewährung subsidiären Schutzes erst zum 01.01.2014 mit der Dublin III-VO in die
Dublin-Regeln einbezogen worden sei. Eine Rückführung des Klägers richtete sich
deshalb nach der Dublin II-VO. Eine Überstellung sei weiterhin möglich. Prioritäten
bei der Überstellung gebe es nicht. Diese erfolgten, sobald dies möglich sei.
18 Der Kammer liegen je ein Auszug aus der elektronischen Akte des Bundesamts für
Migration und Flüchtlinge im Verfahren des Klägers und im Verfahren seiner
Ehefrau und des gemeinsamen Kindes (je ein Heft) sowie die Gerichtsakten des
Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes vor (A 5 K 1406/13).
Entscheidungsgründe
19 Über die Klage kann die Kammer entscheiden, obwohl die Beklagte in der
mündlichen Verhandlung nicht vertreten war; denn auf diese Möglichkeit ist die
Beklagte in der Ladung hingewiesen worden (§ 102 Abs. 2 VwGO).
20 Die Klage ist als Anfechtungsklage statthaft (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v.
29.04.2015 - A 11 S 121/15 - juris) und auch sonst zulässig. Insbesondere fehlt
dem Kläger nicht das Rechtsschutzbedürfnis für die Anfechtung der Entscheidung
der Beklagten, dass der Asylantrag unzulässig sei; denn er hat in Ungarn nur
subsidiären Schutz erhalten und deshalb, ungeachtet des darauf gründenden
Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 AufenthG,
ein schutzwürdiges Interesse daran, in einem Zweitantragsverfahren eine
Anerkennung als Flüchtling zu erhalten (so auch VGH Bad.-Württ., Urt. v.
29.04.2015 - A 11 S 57/15 - InfAuslR 2015, 310 = juris, Rdnr. 49 bis 61). Anders
wäre dies, wenn er in Ungarn als Flüchtling anerkannt worden wäre (BVerwG, Urt.
v. 17.06.2014 - 10 C 7.13 - BVerwGE 150, 29). Soweit in einem nach dem
Wirksamwerden dieses Urteils (durch telefonische Bekanntgabe an die
Prozessbevollmächtigte des Klägers) bekannt gewordenen Beschluss des
Bundesverwaltungsgerichts (v. 30.09.2015 - 1 B 51.15) - mit Blick auf einen Antrag
auf subsidiären Schutz bei bereits in einem anderen Mitgliedstaat gewährten
subsidiären Schutz - ausgeführt wird, mit § 60 Abs. 2 Satz 2 AufenthG habe der
Gesetzgeber von der den Mitgliedstaaten eingeräumten Möglichkeit Gebrauch
gemacht, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig zu behandeln,
wenn dem Ausländer bereits ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz
gewährt, d.h. ihm entweder die Flüchtlingseigenschaft oder unionsrechtlichen
subsidiären Schutz zuerkannt hat, wäre dem für einen Fall der vorliegenden Art
wohl nicht ohne Weiteres zu folgen; denn hier begehrt der Kläger eine über den
gewährten subsidiären Schutz hinaus gehende Anerkennung als Flüchtling. Dass
§ 60 Abs. 1 und 2 AufenthG auch einen solchen Fall regeln, erschließt sich
jedenfalls nicht ohne Weiteres.
21 Die Klage ist auch begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und
verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
22 Die Entscheidung unter Ziffer 1 des Bescheids ("Der Asylantrag ist unzulässig.") ist
als Ablehnung des Asylantrags als unzulässig und nicht als feststellender
Verwaltungsakt auszulegen (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 10.11.2014 - A 11 S 1778/14
- InfAuslR 2015, 77). Sie folgt aus § 27a AsylVfG. Danach ist ein Asylantrag
unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der
Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die
Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
23 Ob die Rechtswidrigkeit dieser Entscheidung schon daraus folgt, dass für die
Ehefrau des Klägers und das gemeinsame Kind ein Asylverfahren außerhalb der
Dublin-II bzw. III-Regeln anhängig ist (weil die Ehefrau des Klägers in Ungarn als
Flüchtling anerkannt worden ist und der Kläger deshalb einen Anspruch darauf hat,
dass die Asylanträge der Familie im gleichen Mitgliedstaat geprüft werden), lässt
die Kammer offen (vgl. zu einem ähnlichen Sachverhalt VGH Bad.-Württ., Urt. v.
29.04.2015 - A 11 S 57/15 - a.a.O.). Denn begründet ist die Klage jedenfalls
deshalb, weil die gegenwärtigen Verhältnisse in Ungarn es nicht zulassen,
Schutzsuchende mit einem dort erlangten internationalen Schutz dorthin zu
überstellen. Insoweit ist von Folgendem auszugehen:
24 Die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats für die Prüfung des Asylantrags
des Klägers richtet sich nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 vom 18.02.2003
(Dublin II-VO). Da der Kläger bereits im Juni 2013 einen Asylantrag im
Bundesgebiet gestellt und die Bundesrepublik Deutschland am 27.06.2013 ein
Übernahmeersuchen an Ungarn gerichtet hat, ist nach der Übergangsvorschrift
des Art. 49 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom 26.06.2013 (Dublin III-
VO) noch die Dublin II-Verordnung zugrunde zu legen.
25 Nach Art. 3 Abs. 1 Dublin II-VO prüfen die Mitgliedstaaten jeden Asylantrag, den
ein Drittstaatsangehöriger an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines
Mitgliedstaats stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der
nach den Krite-rien des Kapitels III der Verordnung als zuständiger Staat bestimmt
wird.
26 Danach ist von einer Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des in Deutschland
gestellten Antrags des Klägers auszugehen. Denn Ungarn hat seine Verpflichtung,
ihn wieder aufzunehmen, gemäß Art. 16 Abs. 1 Satz 1e Dublin II-VO anerkannt.
27 Die Zuständigkeit Ungarns ist nicht wegen Ablaufs der Überstellungsfrist entfallen.
28 Ungarn hat am 09.07.2013 dem Übernahmeersuchen entsprochen. Die mit der
Abgabe der Zustimmung beginnende sechsmonatige Überstellungsfrist des Art. 20
Abs. 2 Dublin II-VO ist wegen des erfolgreichen Antrags des Klägers auf
vorläufigen Rechtsschutz noch nicht abgelaufen (Art. 20 Abs. 1d Dublin II-VO; vgl.
auch VGH Bad.-Württ., Urt. v. 16.04.2014 - A 11 S 1721/13 - InfAuslR 2014, 293).
Im Übrigen würde allein der Ablauf der Überstellungsfrist bei weiter bestehender
Übernahmebe-reitschaft des ersuchten Mitgliedstaats den Kläger nicht in seinen
Rechten verletzen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 18.03.2015 - A 11 S 2042/14 -
juris).
29 Allerdings kommt in Betracht, dass eine Zuständigkeit Ungarns hier deshalb schon
jetzt nicht mehr besteht, weil Vieles dafür spricht, dass die Beklagte nach Eintritt
der Rechtskraft eines klagabweisenden Urteils die Überstellungsfrist des Art. 20
Abs. 2 Dublin II-VO verstreichen lassen wird und Ungarn danach nicht mehr zu
einer Aufnahme des Klägers bereit wäre. Jedenfalls ab diesem Zeitpunkt hätte der
Kläger einen Anspruch darauf, dass die Beklagte das Asylverfahren doch
durchführt (Urt. v. 29.04.2015 - A 11 S 121/15 - InfAuslR 2015, 363). Ist schon jetzt
- wie hier, was noch darzulegen ist - offenkundig, dass es aus tatsächlichen und
rechtlichen Gründen zu keiner Überstellung eines Klägers nach Ungarn kommen
wird, dürfte es dem Sinn und Zweck des Dublin-Verfahrens widersprechen, ihn
gleichwohl für die Dauer eines Jahres gewissermaßen im Wartestand zu belassen,
und dürfte er den Selbsteintritt der Beklagten auch schon jetzt beanspruchen
können.
30 Diese Frage kann die Kammer jedoch offenlassen; denn der Kläger hat jedenfalls
wegen der aktuell bestehenden Mängel des Asylverfahrens und der
Aufnahmebedingungen in Ungarn einen Anspruch darauf, dass die Beklagte
gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO in die Zuständigkeit eintritt (sofern sie nicht
rechtmäßig noch einen anderen Mitgliedstaat als Ungarn nach den Dublin-Regeln
als zuständiger Staat für das Asylbegehren des Klägers bestimmt).
31 Zu den rechtlichen Grundlagen insoweit und zu den aktuellen tatsächlichen
Verhältnissen in Ungarn hat die Kammer im Urteil vom gleichen Tag im Verfahren
A 5 K 2328/13 ausgeführt:
32 „Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Dublin-II-
Verordnung (Urt. v. 21.12.2011 - C-411/10 u.a., N.S. u.a. - NVwZ 2012, 417, vom
14.11.2013 - C-4/11, Puid - NVwZ 2014, 129, v. 10.12.2013 - C-394/12, Abdullahi
- NVwZ 2014, 208) und dem folgend des Verwaltungsgerichtshofs Baden-
Württemberg (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 16.04.2014 - A 11 S 1721/13 - InfAuslR
2014, 293, v. 10.11.2014 - A 11 S 1778/14 - InfAuslR 2015, 77, v. 18.03.2015 - A
11 S 2042/14 - juris sowie Urt. v. 18.03.2015 - A 11 S 2042/14 - juris) hat ein
Asylbewerber - sofern spezialgesetzlich keine besonderen Ausnahmen geregelt
sind (vgl. etwa Art. 7 Dublin II-VO) - grundsätzlich kein subjektives Recht auf
Prüfung seines Antrags in einem bestimmten Mitglied- oder Vertragsstaat, so dass
Fehler bei der Auslegung und bei der Anwendung der Zuständigkeitsregelungen
der Verordnung grundsätzlich unerheblich sind. Grundsätzlich kann ein
Antragsteller mit Aussicht auf Erfolg nur einwenden, dass in dem in der
Abschiebungsanordnung bezeichneten Staat systemische Mängel des
Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gegeben sind,
die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme
darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder
erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden
(EuGH, Urt. v. 10.12.2013 - C-394/12, Abdullahi - a.a.O.)
33 Dabei kann jeder Mitgliedstaat grundsätzlich davon ausgehen, dass alle an dem
Gemeinsamen Europäischen Asylsystem beteiligten Staaten die Grundrechte
einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention
und dem Protokoll von 1967 sowie in der Konvention zum Schutz der
Menschenrechte und Grundfreiheiten finden, beachten und dass die
Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen. Auf dieser
Grundlage besteht eine - allerdings - widerlegbare Vermutung dafür, dass die
Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat den
Anforderungen der Grundrechtecharta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der
Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten genügt. Diese
Vermutung ist widerlegt, wenn in der Rechtsanwendungspraxis in einem
bestimmten Mitgliedstaat erhebliche Funktionsstörungen zutage treten und diese
zur absehbaren Folge haben, dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass
Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise
behandelt werden, die mit ihren Menschenrechten unvereinbar ist.
34 Insoweit stellt nicht jeder vereinzelte Verstoß gegen eine Bestimmung der Dublin
II-VO (bzw. nunmehr der Dublin III-VO) und auch nicht einmal jede Verletzung
eines Grundrechts, wie von Art. 4 GRCh, durch den zuständigen Mitgliedstaat das
Zuständigkeitssystem grundsätzlich infrage. Denn dann stünde nicht weniger als
der Daseinsgrund der Union und die Verwirklichung des Raums der Freiheit, der
Sicherheit und des Rechts, konkret des Gemeinsamen Europäischen
Asylsystems, auf dem Spiel (EuGH, Urt. v. 21.12.2011 - C-411/10 u.a., N.S. u.a. -
NVwZ 2012, 417). Das Dublin-Zuständigkeitssystem ist deshalb nur dann
(teilweise) zu suspendieren, wenn einem Mitgliedstaat aufgrund der ihm
vorliegenden Informationen nicht unbekannt sein kann, dass systemische Mängel
oder Schwachstellen (vgl. jetzt auch Art. 3 Abs. 2 UA. 2 VO (EU) Nr. 604/2013 =
Dublin III-VO) des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für
Asylbewerber ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme
darstellen, dass der Antragsteller dort Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder
erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu sein (EuGH,
Urt. v. 21.12.2011, a.a.O. und v. 14.11.2013 - C-4/11, Puid - NVwZ 2014, 129).
35 Systemische Schwachstellen sind solche, die entweder bereits im Asyl- und
Aufnahmeregime selbst angelegt sind und von denen alle Asylbewerber oder
bestimmte Gruppen von Asylbewerbern deshalb nicht zufällig und im Einzelfall,
sondern vorhersehbar und regelhaft betroffen sind, oder aber tatsächliche
Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und
nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem - aus welchen Gründen
auch immer - faktisch ganz oder in weiten Teilen seine ihm zugedachte Funktion
nicht mehr erfüllen kann und weitgehend unwirksam wird (vgl. auch BVerwG,
Beschl. v. 19.03.2014 - 10 B 6.14 - NVwZ 2014, 1093, und v. 06.06.2014 - 10 B
35.14 - NVwZ 2014, 1677). Dabei ist der Begriff der systemischen Schwachstelle
nicht in einer engen Weise derart zu verstehen, dass er geeignet sein muss, sich
auf eine unüberschaubare Vielzahl von Antragstellern auszuwirken. Vielmehr
kann ein systemischer Mangel auch dann vorliegen, wenn er von vornherein
lediglich eine geringe Zahl von Asylbewerbern betreffen kann, sofern er sich nur
vorhersehbar und regelhaft realisieren wird und nicht gewissermaßen dem Zufall
oder einer Verkettung unglücklicher Umstände bzw. Fehlleistungen von in das
Verfahren involvierten Akteuren geschuldet ist (VGH Bad.-Württ., Urt. v.
10.11.2014 - A 11 S 1778/14 - InfAuslR 2015, 77).
36 Wesentliche Kriterien für die zu entscheidende Frage, ob eine unmenschliche
oder erniedrigende (bzw. "entwürdigende") Behandlung vorliegt, finden sich in der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3
EMRK (vgl. Urt. v. 21.01.2011 - Nr. 30696/09, M.S.S./Belgien - NVwZ 2011, 413,
v. 04.11.2014 - Nr. 29217/12, Tarakhel/Schweiz - juris, und E. v. 05.02.2015 - Nr.
51428/10, A.M.E./Niederlande - juris), der mit Art. 4 GRCh übereinstimmt (vgl.
VGH Bad.-Württ., Urt. v. 10.11.2014 - A 11 S 1778/14 - InfAuslR 2015, 77,
m.w.N.). Die Annahme einer drohenden Verletzung des Grundrechts aus Art. 4
GRCh muss durch wesentliche Gründe (so nunmehr Art. 3 Abs. 2 UA. 2 Dublin III-
VO; vgl. auch EuGH, Urt. v. 21.12.2011 - C-411/10 u.a., N.S. u.a. - NVwZ 2012,
417: "ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe") gestützt werden. Das
bedeutet, dass die festgestellten Tatsachen hinreichend verlässlich und
aussagekräftig sein müssen; nur unter dieser Voraussetzung ist es nach der
maßgeblichen Sicht des Europäischen Gerichtshofs gerechtfertigt, von einer
Widerlegung des „gegenseitigen Vertrauens“ der Mitgliedstaaten untereinander
auszugehen. In diesem Zusammenhang müssen die festgestellten Tatsachen
und Missstände verallgemeinerungsfähig sein, um die Schlussfolgerung zu
rechtfertigen, dass es nicht nur vereinzelt, sondern immer wieder und regelhaft zu
Grundrechtsverletzungen nach Art. 4 GRCh kommt. Das bei einer wertenden und
qualifizierten Betrachtungsweise zugrunde zu legende Beweismaß ist das der
beachtlichen Wahrscheinlichkeit im herkömmlichen Verständnis der
höchstrichterlichen Rechtsprechung, das sich nicht von dem in der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
entwickelten Beweismaß des „real risk“ unterscheidet (BVerwG, Urt. v. 20.02.2013
- 10 C 23.12 - NVwZ 2013, 936; Beschl. v. 19.03.2014 - 10 B 6.14 - juris).
37 Anhand dieser Grundsätze sind hinreichende Mängel des Asylverfahrens und der
Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Griechenland angenommen worden
(EGMR - Große Kammer, Urt. v. 21.01.2011 - Nr. 30696/09, M.S.S./Belgien und
Griechenland - NVwZ 2011, 413 und weitere, vgl. dazu, auch zum Folgenden,
BVerwG, Beschl. v. v. 19.03.2014 a.a.O. und v. 06.06.2014 - 10 B 35/14 - juris).
38 Für das in Deutschland - im Unterschied zu anderen Rechtssystemen - durch den
Untersuchungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) geprägte verwaltungsgerichtliche
Verfahren hat das Kriterium der systemischen Mängel des Asylverfahrens und der
Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in einem anderen Mitgliedstaat der
Europäischen Union Bedeutung für die Gefahrenprognose im Rahmen des Art. 4
GRCh bzw. Art. 3 EMRK. Der Tatrichter muss sich zur Widerlegung der auf dem
Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden
Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in
Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer
Flüchtlingskonvention und der EMRK, die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1
Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel
des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich
zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit
(vgl. Urteil vom 27. April 2010 - BVerwG 10 C 5.09 - BVerwGE 136, 377 Rn. 22
m.w.N. einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird.
Die Fokussierung der Prognose auf systemische Mängel ist dabei, wie sich aus
den Erwägungen des Gerichtshofs zur Erkennbarkeit der Mängel für andere
Mitgliedstaaten ergibt (EuGH, Urt. v. 21.12.2011 - Rs. C-411/10 und Rs. C-493/10
- a.a.O. Rn. 88 bis 94), Ausdruck der Vorhersehbarkeit solcher Defizite, weil sie im
Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaates angelegt sind oder dessen
Vollzugspraxis strukturell prägen. Solche Mängel treffen den Einzelnen in dem
zuständigen Mitgliedstaat nicht unvorhersehbar oder schicksalhaft, sondern
lassen sich aus Sicht der deutschen Behörden und Gerichte wegen ihrer
systemimmanenten Regelhaftigkeit verlässlich prognostizieren. Die Widerlegung
der o.g. Vermutung aufgrund systemischer Mängel setzt deshalb voraus, dass
das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat
aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass
anzunehmen ist, dass dort auch dem Asylbewerber im konkret zu
entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine
unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Dann scheidet eine
Überstellung an den nach der Dublin II-Verordnung zuständigen Mitgliedstaat aus.
39 Das Bundesverwaltungsgericht hat daraus gefolgert (Beschl. v. 06.06.2014 - 10 B
35.14 - a.a.O.): Aus der dargelegten Rechtsprechung des Gerichtshofs der
Europäischen Union ergebe sich, dass ein Asylbewerber der Überstellung in den
nach der Dublin-II-Verordnung für ihn zuständigen Mitgliedstaat mit Blick auf
unzureichende Aufnahmebedingungen für Asylbewerber nur mit dem Einwand
systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen
entgegentreten könne und es nicht darauf ankomme, ob es unterhalb der
Schwelle systemischer Mängel in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder
erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK
kommen könne und ob ein Antragsteller dem in der Vergangenheit schon einmal
ausgesetzt gewesen sei. Derartige individuelle Erfahrungen seien vielmehr (allein)
in die Gesamtwürdigung einzubeziehen, ob systemische Mängel im Zielland der
Abschiebung des Antragstellers (dort: Italien) vorliegen. In diesem begrenzten
Umfang seien individuelle Erfahrungen des Betroffenen zu berücksichtigen. Dabei
sei allerdings zu beachten, dass persönliche Erlebnisse Betroffener, die - wie in
dem der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zu Grunde liegenden Fall
- einige Jahre zurücklägen, durch neuere Entwicklungen im betreffenden Staat
überholt sein könnten. Individuelle Erfahrungen einer gegen Art. 4 GRCh
verstoßenden Behandlung führten hingegen nicht zu einer Beweislastumkehr für
die Frage des Vorliegens systemischer Mängel.
40 Nach der jüngeren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte (zu Italien) ist dabei stets auch zu fragen, ob die gesetzliche
Vermutung des Fehlens systemischer Mängel des Asylverfahrens und der
Aufnahmebedingungen zumindest für einzelne Gruppen besonders verletzlicher
Antragsteller erschüttert bzw. widerlegt ist. Eine Überstellung sogenannter
vulnerabler Personen kommt nur in Betracht, wenn der Aufnahme-Mitgliedschaft
eine entsprechende individuelle Garantieerklärung abgibt (vgl. BVerfG, Beschl. v.
22.07.2015 - 2 BvR 746/15 - m.w.N.)
41 Die Kammer hat allerdings in mehreren Verfahren des vorläufigen
Rechtsschutzes (vgl. etwa VG Freiburg, Beschl. v. 30.07.2014 - A 5 K 418/14 -
juris) zu Grunde gelegt, dass eine Beweislastumkehr ausnahmsweise dann
angezeigt ist, wenn erwiesen ist, dass in einem Mitgliedstaat systemimmanente
Schwachstellen bestanden haben, welche die Gefahr einer unmenschlichen oder
entwürdigenden Behandlung des jeweiligen Klägers als beachtlich wahrscheinlich
haben erscheinen lassen (das dürfte in Ungarn in den Jahren 2011 und 2012 der
Fall gewesen sein). In einem solchen Fall sollte ein durchgreifender Wandel der
Verhältnisse erst dann zu Grunde gelegt werden können, wenn er nachgewiesen
ist. Mit anderen Worten: Eine Verbesserung der Verhältnisse hinsichtlich der
Asylverfahren und der Aufnahmebedingungen, etwa durch Änderungen der
einschlägigen mitgliedstaatlichen Vorschriften oder durch Bereitstellung weiterer
personeller und sächlicher Mittel, sollte erst dann zu Lasten des jeweiligen
Schutzsuchenden angenommen werden, wenn die angestrebten
Verbesserungen in der Anwendung der verbesserten Vorschriften auch
nachweislich eingetreten sind; dass in den Monaten nach der Verbesserung der
rechtlichen Grundlagen noch keine aktuellen Beschwerden oder keine aktuelle
Kritik des UNHCR oder anderer Menschenrechtsorganisationen bekannt
geworden ist, sollte für die Annahme einer nachhaltigen Verbesserung der
Verhältnisse nicht ohne Weiteres ausreichen. Dem entspräche es im Übrigen
auch, dass die Mitgliedstaaten bei Griechenland tatsächlich wohl so verfahren
und mit einer Wiederaufnahme von Überstellungen nach Griechenland erst
wieder begonnen werden dürfte, wenn dort entsprechende Verfahren und
Aufnahmebedingungen gewährleistet sind.
42 Weiter erscheint der Kammer fraglich, ob bei der Feststellung systemischer
Mängel im Asylverfahren und bei den Aufnahmebedingungen eine vom jeweiligen
Asylbewerber selbst erfahrene menschenrechtswidrige Behandlung, etwa eine
längere, unbegründete Haft, eine längere unfreiwillige Obdachlosigkeit oder ein
langjähriges Fernhalten vom Asylverfahren, erst dann von Bedeutung sein soll,
wenn sich hieraus eine anhaltende, im Aufnahmestaat nicht zu behandelnde
Gesundheitsstörung (insbesondere posttraumatische Belastungsstörung)
ergeben hat.
43 Denn auch wenn solche Erfahrungen Einzelner für sich noch keine systemischen
Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen begründen können,
es sei denn, sie sind zahlreich und repräsentativ für eine (vulnerable) Gruppe, der
der jeweilige Antragsteller angehört, könnte eine selbst erlittene
menschenrechtswidrige Behandlung doch bei der Frage, ob die Beklagte in das
Asylverfahren als zuständiger Staat eintritt, jedenfalls aber bei der Prüfung, ob
eine Abschiebungsanordnung nach § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG erlassen wird, zu
berücksichtigen sein (§ 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, Art. 4 GRCh).
Davon scheint etwa das Schweizerische Bundesgericht auszugehen, das auch
Umstände berücksichtigt, welche die Schutzsuchenden bei ihrem Aufenthalt im
Erstaufnahmestaat individuell erlitten haben (z.B. sexuelle Übergriffe,
Suizidversuch, Therapiebedürftigkeit). (vgl. Urt. v. 09.10.2013 - E 2093/2012 - und
v. 30.10.2013 - E 3837/2012 -; zuletzt auch Urt. v. 23.07.2015 - D 2408/2015).
44 Unabhängig davon steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass jedenfalls
gegenwärtig in Ungarn systembedingte Mängel des Asylverfahrens und der
Aufnahmebedingungen bestehen, welche jeden Schutzsuchenden, der dorthin
zurücküberstellt wird, der beachtlichen Gefahr einer unmenschlichen oder
entwürdigenden Behandlung aussetzt. Dabei geht die Kammer von Folgendem
aus:
45 Die Zahl der nach Ungarn einreisenden Schutzsuchenden ist zuletzt sehr stark
angestiegen. Im Jahr 2012 wurden noch 2.155 Asylbewerber, im Jahr 2013
18.900 und im Jahr 2014 42.777 Schutzsuchende registriert. Im Jahr 2015 war
zunächst von 150.000 nach Ungarn einreisenden Schutzsuchenden bis zum
01.09.2015 die Rede (bei einer Gesamtbevölkerung Ungarns von etwa 10
Millionen Einwohnern); zuletzt wurden Zahlen von weit mehr als 300.000
Schutzsuchenden genannt, von denen die meisten, nur zum wohl geringeren Teil
registriert, nach Österreich weiterreisten. Ob die Errichtung eines Zauns an der
Grenze zu Serbien und nun auch zu Kroatien und überhaupt die restriktiv
wirkende Flüchtlingspolitik Ungarns jetzt zu einer Minderung der Zahl der nach
Ungarn einreisenden Schutzsuchenden führen, ist unklar.
46 Im März 2015 verfügte Ungarn über 2500 Plätze zur Aufnahme von Flüchtlingen
(vgl., auch zum Folgenden: EASO, Beschreibungen des ungarischen
Asylsystems, Stand März 2015); das Auswärtige Amt hatte in seiner Auskunft an
die Kammer vom 12.03.2015 im Verfahren A 5 K 2328/13 noch von 1.500 Plätzen
in offenen Aufnahmeeinrichtungen und von weiteren 400 Plätzen in
Asylhafteinrichtungen und der geplanten Eröffnung einer weiteren
Aufnahmeeinrichtung in Kiskunhalas gesprochen. Zur Anhörung von
Schutzsuchenden und zur Entscheidung über ihre Schutzanträge standen 56
Sachbearbeiter in ganz Ungarn bereit. Neue Mitarbeiter waren eingestellt, aber
noch nicht geschult. Schutzsuchende werden an der Grenze registriert und einem
der vier Empfangszentren zugewiesen; sie können auch auf eigene Kosten im
ganzen Land Unterkunft suchen, erhalten dafür aber keine Unterstützung. Wenn
sie an einer ihnen bezeichneten Stelle zur Stellung des Asylantrags oder zur
später angeordneten Anhörung nicht erscheinen, wird das Schutzgesuch
entweder, auf der Grundlage von hinreichenden Angaben bei der Registrierung
abgelehnt, oder das Verfahren wird wegen angenommener Rücknahme des
Schutzgesuchs eingestellt. Für einen Schutzsuchenden, der später sein
Schutzgesuch erneuert, wird ein nichtbeendetes Verfahren fortgesetzt, ein durch
Ablehnung des Schutzgesuchs beendetes Verfahren kann innerhalb der
Rechtsmittelfrist von acht Tagen im Rechtsbehelfsverfahren fortgesetzt werden.
Nach Ablauf der Rechtsmittelfrist hat der Schutzsuchende das Recht, einen
Folgeantrag zu stellen. Nach den Angaben des ungarischen Büros für
Einwanderung und Staatsangehörigkeit (OIN) werden auch Dublin-Rückkehrer
stets als Schutzsuchende behandelt. Gibt der Schutzsuchende aber im
Folgeverfahren die gleichen Gründe an wie im ersten Verfahren, kann der
Folgeantrag als unzulässig behandelt werden.
47 Zur Rücküberstellung nach Ungarn hat das Auswärtige gegenüber der Kammer
(Auskunft v. 12.03.2015 im Verfahren A 5 K 2328/13) erläutert: Die per Flug
Überstellten würden zur Zentrale des ungarischen Amts für Staatsbürgerschaft
und Einwanderung gebracht und informiert, dass sie als Asylbewerber behandelt
würden. Wenn ein erstes Asylverfahren in Ungarn ohne Entscheidung in der
Sache oder durch Rücknahme beendet worden sei, werde es fortgesetzt, sonst
werde ein Zweitantrag angenommen. Bei einem Zweitantrag würden (nur)
nachträglich entstandene Umstände berücksichtigt. Die Klagefrist betrage drei
Tage nach Bekanntgabe/Zustellung der Entscheidung. Bis zur unanfechtbaren
Entscheidung im Asylverfahren hätten Asylbewerber Anspruch auf
Sozialleistungen, es sei denn, der Asylantrag sei als offensichtlich unbegründet
oder unzulässig abgelehnt worden. Ausgeschlossen von den im Asylgesetz
geregelten Sozialleistungen seien auch Zweitantragsteller, deren Erstverfahren
eingestellt oder abgelehnt worden sei oder bei denen das refoulement-Verbot
einer Abschiebung nicht entgegen stehe. Ausreisepflichtige müssten die
Unterkunft verlassen, der Aufenthalt sei auf einen bestimmten Regierungsbezirk
(Komitat) beschränkt. Sie könnten in öffentlichen Notunterkunftsplätzen des
jeweiligen Regierungsbezirks unterkommen und eine kostenlose medizinische
Notfallversorgung in Anspruch nehmen. Bei Zuerkennung eines Schutzstatus
könnten sie Integrationsleistungen beanspruchen. Seit Januar 2014 würden diese
auf örtlicher Ebene (dezentral) durchgeführt. Dabei wirke ein örtlich zuständiger
Dienst für Familienförderung mit (auch für Personen ohne Schutzstatus). Es
würden individuelle Integrationsvereinbarungen geschlossen. Bei der Förderung
der sozialen Integration leiste der Dienst neben finanziellen Hilfen u.a. auch Hilfe
bei der Arbeitssuche. In der Flüchtlingshilfe engagierten sich u.a. die
Flüchtlingsmission der Reformierten Kirche, die Ungarische Gesellschaft für
Migranten und das Helsinki-Komitee. In den Jahren von 2012 bis 2014 habe es
335, 850 bzw. 827 Rücküberstellungen im Dublin-Verfahren gegeben.
48 Der UNHCR hat in seiner Auskunft an die Kammer vom 30.09.2014 im Verfahren
A 5 K 2328/13 weitgehend entsprechende Angaben gemacht. Die am 01.07.2013
in Kraft gesetzten neuen Bestimmungen zur Inhaftierung von Schutzsuchenden
bis zu sechs Monaten hat er kritisch beurteilt. Nach seiner Ansicht würden
praktisch alle Dublin-Rückkehrer in Haft genommen, ausgenommen Familien oder
besonders vulnerable Asylsuchende. Beim damaligen Stand hat der UNHCR für
den August 2014 dank Unterstützung der Europäischen Union eine
Verbesserung der Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge gesehen. Anerkannte
Flüchtlinge müssten mehrere Monate warten, bis sie Integrationshilfen
beanspruchen könnten. Hinsichtlich der medizinischen, psychologischen und
psychotherapeutischen Versorgung von Flüchtlingen gebe es aus allen
Aufnahmeeinrichtungen Beschwerden. Drogen- und andere Abhängige hätten
keinen Zugang zu medizinischen Diensten. Ein psychisches Problem seien auch
fehlende tägliche Beschäftigung und Abwechslung. Wer keine permanente
Adresskarte habe, habe Probleme beim Zugang zu medizinischen Diensten. Zum
01.01.2014 seien Regelungen zur Integration von Personen mit Schutzstatus
eingeführt worden. Es gebe systemische Probleme, die einer Integration von
Flüchtlingen entgegen stünden. Das System der gesetzlichen Hilfen sei unter
anderem bei weitem nicht genügend finanziert. Obdachlose, die auf öffentlichen
Plätzen nächtigten, würden kriminalisiert. Im Juni 2013 seien unter Hinweis auf
diese Bedingungen etwa 70 und im August 2013 nochmals etwa 20 afghanische
Staatsangehörige nach Deutschland weitergereist. Pro Asyl und bordermonitoring
hätten berichtet, dass Inhaber eines Schutzstatus nach der Rückkehr nach
Ungarn sich in einer besonders verletzlichen Lage befunden hätten. Deren
finanzielle Unterstützung sei zu gering gewesen, um eine Wohnung zu finden.
Auch in Obdachlosenunterkünften habe es nicht genügend Plätze für Flüchtlinge
gegeben. Eine im Jahr 2012 erfolgte Befragung habe ergeben, dass fast die
Hälfte der Personen mit Schutzstatus keine Arbeit gehabt hätten, was u.a. auf den
Mangel an Ausbildung und Berufserfahrung und den Mangel an ungarischen
Sprachkenntnissen zurückgeführt werden könne. Die Inhaftierungspraxis und
deren gerichtliche Kontrolle sei mangelhaft. Die Ernährung der Flüchtlinge in Haft
sei nach deren Angaben unzureichend, seitens des Personals in den
Haftanstalten gebe es Rassismus und Missbrauch. Neu eingestelltes Personal in
den Aufnahmeeinrichtungen habe keine Berufserfahrung und auch keine
entsprechende Ausbildung durchlaufen. Es gebe keine Vorkehrungen,
verletzliche Personen zu erkennen. Die Hygiene-Einrichtungen in den
Aufnahmeeinrichtungen seien unzureichend. Über private Organisationen, die
Flüchtlinge unterstützen und dabei vom ungarischen Staat unterstützt würden,
lägen keine Auskünfte vor.
49 Am 23.09.2015 hat die Europäische Kommission gegen Ungarn zwei
Vertragsverletzungsverfahren wegen ausstehender Berichte zur Einhaltung von
Asylverfahrensbestimmungen und zur Einhaltung der Standards für
Aufnahmebedingungen anerkannter Flüchtlinge eingeleitet. Auch gegen
zahlreiche andere Mitgliedstaaten, darunter die Bundesrepublik Deutschland,
wurden Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Zugleich hat die Kommission
umfangreiche unmittelbare, operative, budgetäre und rechtliche Maßnahmen im
Rahmen der Europäischen Migrationsagenda angekündigt, wozu auch eine
Ausweitung der finanziellen und personellen Unterstützung der am stärksten von
der Flüchtlingsmigration betroffenen Mitgliedstaaten gehören.
50 Wegen der im Lauf des ersten Halbjahres 2015 stark angestiegenen Zahl an
Schutzsuchenden hat Ungarn im Juli 2015 entlang der 174 km langen Grenze zu
Serbien einen festen bzw. aus übereinander liegenden Rollen von sogenanntem
Nato-Draht gefertigten durchgehenden Zaun errichtet, um die Schutzsuchenden
zu veranlassen, die serbisch-ungarische Grenzen nur an den Grenzübergängen
zu überschreiten und um diese nahe der Grenze registrieren zu können. Geplant
war (und noch nicht verwirklicht ist), Schutzsuchende nicht weiter ins Land
einreisen zu lassen, und grenznahe Unterkünfte und Einrichtungen zur Aufnahme
zu errichten. Um auch das Militär einsetzen zu können, wurde an die Ausrufung
eines "Migrationsnotstands‘“ gedacht.
51 Die ungarische Bevölkerung ist nach vielen Pressemeldungen gegenüber den
Schutzsuchenden überwiegend ablehnend eingestellt. Die Regierung greift diese
Stimmung nicht nur auf, sondern befördert sie. Laut Pester Lloyd vom 12.06.2015
hat der ungarische Ministerpräsident etwa geäußert: „Wir müssen alles
versuchen, um Ungarn das Zusammenleben mit Menschen verschiedener
Kulturen zu ersparen“. Im Juli 2015 beharrte er darauf, dass Ungarn ein
ungarisches Land bleiben solle. Bei einer vom UNHCR deutlich kritisierten
landesweiten Regierungskampagne wurde plakatiert: "Wenn du nach Ungarn
kommst, darfst du den Ungarn nicht die Arbeit wegnehmen!“ (Spiegel-online v.
02.09.2015). Auch empfindet die ungarische Regierung die Arbeit von
Nichtregierungsorganisationen als Einmischung und behindert deren Arbeit
(Spiegel-online v. 12.09.2014).
52 In einem Interview (FAZ vom 03.09.2015, S. 10) hat der ungarische
Ministerpräsident geäußert, Europa müsse verstehen, dass man nicht aufnehmen
könne, wenn man überrannt werde. Deshalb sei der Zaun, den Umgarn baue,
wichtig. Er folge aus dem Schengener Abkommen. Das ungarische Volk sei
konsultiert worden. Von acht Millionen Wählern hätten eine Million geantwortet. 85
% von ihnen meinten, die Union sei bei der Bewältigung der Einwanderung
gescheitert. Europa könne nicht gegen den Willen der Bürger sein. Nur wenn die
Grenzen beschützt würden, könnten Fragen gestellt werden nach der Anzahl der
Menschen, die Europa aufnehmen wolle oder ob es Quoten geben solle. Die
Menschen, die kämen, seien meistens keine Christen, sondern Muslime. Wenn
das aus den Augen verloren würde, könne der europäische Gedanke auf dem
eigenen Kontinent in die Minderheit geraten. Die erwähnte Umfrage hatte die
Mitteleuropa-Vertretung des UNHCR zum Anlass genommen, ihre „zutiefste“
Besorgnis zum Ausdruck zu bringen, dass die ungarische Regierung Flüchtlinge
als Gefahr für das Land darstelle (Salzburger Nachrichten v. 08.05.2015 - online),
und eine Gegenkampagne gestartet, in deren Rahmen ab dem 01.07.2015 500
Plakate im ganzen Land aufgehängt werden sollten. Eine Sprecherin des UNHCR
habe dazu gesagt, die Lage in Ungarn sei eine besondere, weil nicht, wie in
kleinen Ländern, kleine Gruppen Fremdenhass schürten, sondern die Regierung;
ein positives Zeichen sei, dass die Reaktionen in der ungarischen Öffentlichkeit
gespalten seien (euronews v. 17.06.2015). Die ungarische Regierung sieht, wie
auch die Errichtung von Grenzzäunen zu Serbien und Kroatien zeigt, die ein- und
durchreisenden Flüchtlinge ausdrücklich als Gefahr an (Handelsblatt v.
02.10.2015: Orban: „Das Land ist von einer Flüchtlingsarmee bedroht“). Gemeldet
wurde auch, ein Sprecher der Partei Fidesz habe gesagt, das größte
Aufnahmelager Debrecen (das Platz für 930 Menschen bietet, aber nur mit derzeit
260 Menschen belegt sei), solle mit Rücksicht auf die Bewohner der Umgebung
geschlossen werden; der UNHCR habe das Vorgehen Ungarns gegenüber den
Flüchtlingen u.a. deshalb als sehr besorgniserregend bezeichnet (DLF v.
02.10.2015).
53 Es gibt nur wenige Hilfsorganisationen, welche sich um Schutzsuchende bzw.
anerkannte Schutzsuchende kümmern. Über bürgerschaftliche Hilfe wird
berichtet. Wie wirksam diese bei der großen Zahl der Schutzsuchenden sein
kann, lässt sich nicht einschätzen.
54 Insbesondere hinsichtlich der jüngsten Änderungen der ungarischen Asylgesetze
und sonstiger neuerer Entwicklungen hat die Beklagte in keinem der am
13.10.2015 verhandelten Verfahren substantiiert dargelegt, wie sich die
Aufnahmebedingungen und das Asylverfahren rechtlich und tatsächlich in den
letzten Monaten entwickelt haben.
55 Die Kammer konnte auch nicht unmittelbar von dem Verbindungsbeamten des
Bundesamts für Migration und Flüchtlinge bei der ungarischen Asylbehörde
Erkenntnisse erhalten. Dieser hat auf eine - außerhalb dieses Verfahrens erfolgte
- Anfrage per E-Mail nach den letzten Änderungen im ungarischen Asylrecht
mitgeteilt, er könne nicht (mehr) unmittelbar Auskunft erteilen, Auskünfte erteilten
die Dublin-Referate des Bundesamts. Der Informationsaustausch der Dublin-
Referate des Bundesamts mit den Vertretern des Bundesamts vor den
Verwaltungsgerichten scheint allerdings zur Zeit nicht gewährleistet zu sein; denn
diese haben sich nicht in der Lage gesehen, aktuelle Erkenntnisse mitzuteilen.
56 Die Kammer stützt sich daher, was die Entwicklung in den letzten Monaten betrifft,
in tatsächlicher Hinsicht in erster Linie auf den Bericht des European Asylum
Support Office (EASO) im Anschluss an eine Bereisung vom 16. bis 20.03.2015
sowie auf zahlreiche Internet-Veröffentlichungen des Asylum Information
Database of the European Council on Refugees and Exiles etc. sowie
insbesondere auf die in der Rechtsprechung des österreichischen
Bundesverwaltungsgerichts umfassend wiedergegebenen und laufend
aktualisierten Berichte des österreichischen Verbindungsbeamten bei der
ungarischen Asylbehörde (vgl. zuletzt öster. BVwG, Urt. v. 24.09.2015 - W
1442114716-1/3 E -, Internet-Seite des österreichischen Bundeskanzleramts, dort
Rechtsinformationssystem -RIS-; dort finden sich im Einzelnen insbesondere
Ausführungen zum Asylverfahren allgemein (2.), zur Haft (3.), zur Lage von
Dublin-Rückkehrern (4.), zu vulnerablen Gruppen (5.), zur Versorgung,
insbesondere Unterbringung (7.) und zur Lage von Schutzberechtigten (8.), auf
die die Kammer Bezug nimmt).
57 Danach hat Ungarn im Juli 2015 mit Wirkung ab dem 01.08.2015 das
Asylrechtsgesetz in erheblichem Umfang geändert und eine entsprechende
Durchführungsverordnung erlassen. Als sicherer Drittstaat wurden u.a. auch die
Beitrittskandidaten zur Europäischen Union benannt, also auch Serbien.
Zahlreiche Beschleunigungs- und Darlegungspflichten wurden eingeführt bzw.
verschärft. 160 ungarische Rechtsanwälte haben daraufhin die neuen
Regelungen, darunter auch Behandlung Minderjähriger ab 14 Jahren als
Grenzverletzer mit einer Strafdrohung von bis zu drei Jahren, keine zwingende
Übersetzung von Anklage und Urteil, als Verstoß gegen Völkerrecht gewertet
(spiegel-online v. 03.10.2015: „Ungarn urteilt Flüchtlinge im Schnellverfahren ab“).
Für die Inhaftierung von Asylsuchenden gibt es seit dem 01.07.2015 geänderte
Bestimmungen. Asylhaft wird insbesondere verhängt, wenn Grund zu der
Annahme besteht, dass der Antragsteller das Asylverfahren verzögern oder sich
diesem entziehen wird. Dann bleibt die Haft für die Dauer des gesamten
Asylverfahrens aufrecht erhalten. Im Jahr 2014 wurden insgesamt 4.806
Personen in Asylhaft genommen, am häufigsten Asylsuchende aus dem Kosovo
und aus Afghanistan (1.038). Im Jahr 2015 gingen die Zahlen möglicherweise
zurück. Ab September 2014 wurden wieder Familien mit Kindern in Asylhaft
genommen. Mitte März 2015 soll diese Praxis aufgrund eines Berichts des
ungarischen Ombudsmanns für Menschenrechte wieder eingestellt worden sein;
aktuelle Informationen dazu gibt es nicht.
58 Für das Vorliegen systembedingter Mängel mit der Folge, dass aktuell jeder
Asylbewerber in Ungarn Gefahr liefe, dort menschenrechtswidrig behandelt zu
werden, spricht bereits der Umstand, dass seit September 2015 die
Bundesrepublik Deutschland wie auch Österreich davon ausgehen, dass Ungarn
nicht in der Lage ist, die große Zahl an einreisenden Flüchtlingen nach den
unionsrechtlichen Regeln durch ein Asylverfahren zu führen und - bei Erreichen
eines Schutzstatus - auch auf Dauer hinreichende Aufnahmebedingungen zur
Verfügung zu stellen.
59 Dem entspricht es, dass eine zunehmende Zahl von Verwaltungsgerichten in
Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes wie auch in Urteilen aus
unterschiedlichen Erwägungen zur Auffassung gelangt, dass Ungarn zur Zeit
nicht als zuständiger Staat betrachtet werden darf (u.a. VG Hannover, Beschl. v.
29.07.2015 - 10 B 2196/15 -; VG Düsseldorf, Beschl. v. 21.08.2015 - 8 L
2811/15.A -; VG München, Beschl. v. 21.05.2015 - M 16 S 15.50329 -; VG Köln,
Urt. v. 15.07.2015 - 3 K 2005/15.A - und v. 08.09.2015 - 18 K 4584/15.A -; VG
Bremen, Urt. v. 30.06.2015 - 3 K 296/15 -; VG Saarland, Beschl. v. 12.08.2015 - 3
L 776/15; VG Münster, Beschl. v. 07.07.2015 - 2 L 858/15.A -, alle juris).
60 In der Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte ist die Frage nicht geklärt.
Wenigen ablehnenden Entscheidungen (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 06.08.2013 -
12 S 675/13 - InfAuslR 2014, 29 OVG Sachs.-Anh., Beschl. v. 31.05.2013 - 4 L
169/12 -, Bayer.VGH, Beschl. v. 12.06.2015 - 13a ZB 15.50097 - juris; alle juris)
steht gegenüber, dass etwa das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht die
Berufung gegen eine klagabweisende Entscheidung zugelassen hat (Beschl. v.
15.05.2015 - 8 LA 85/15 - a.a.O.).
61 Zwar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2014 (E. v.
03.07.2014 - Nr. 71932/12 - gestützt auf
Stellungnahmen des UNHCR, des Ungarischen Helsinki-Kommitees und des
Berichts einer UN-Arbeitsgruppe, die sich mit den Haftbedingungen in Ungarn
befasst hat, entschieden, dass im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vom
03.07.2014 mit Blick auf die signifikanten Änderungen der ungarischen
Asylgesetze weder die Inhaftierungspraxis noch die Haftbedingungen den
dortigen Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) einer
menschenrechtswidrigen Behandlung in Ungarn als Asylsuchender aussetzen
würde; gleiches gelte für die Gefahr einer Überstellung des Klägers nach Serbien.
Auch der Europäische Gerichtshof hatte noch im Jahr 2013 (Urt. v. 10.12.2013
a.a.O.) systemische Mängel im ungarischen Asylsystem verneint.
62 Demgegenüber haben sich die Verhältnisse aber - auch für sog. Dublin-
Rückkehrer - in Folge der sehr stark gestiegenen Zahl der Flüchtlinge und der
hierauf erlassenen Gesetzesverschärfungen in Ungarn aber in tatsächlicher wie
rechtlicher Hinsicht wesentlich verschlechtert (vgl., insbesondere zur
Inhaftierungspraxis, zu den Haftbedingungen und zur gerichtlichen Kontrolle, VG
Köln, Urt. v. 30.07.2015 a.a.O.; VG Saarland, Beschl. v. 12.08.2015 a.a.O.; vgl.
auch schon VG Berlin, Beschl. v. 23.01.2015 – 23 L 717.14 A – juris; auch VG
München, Urt. v. 29.08.2014 - M 24 K 13.31294 -; VG Düsseldorf, Beschl. v.
27.08.2014 - 14 L 1786/14.A - juris). Zudem sieht Ungarn seit dem 01.09.2015
Serbien wieder als sicheren Drittstaat an, wobei noch nicht klar ist, ob und unter
welchen Voraussetzungen es tatsächlich zu Überstellungen nach Serbien
kommen wird, insbesondere auch von Personen, welche nach den Dublin-Regeln
nach Ungarn zurücküberstellt werden und die dort möglicherweise als
Folgeantragsteller behandelt würden (vgl. öster. BVwG, Urt. v. 24.09.2015 a.a.O.).
63 Ob die neuen Vorschriften zur Beschleunigung der Asylverfahren in jeder Hinsicht
dem Unionsrecht genügen, ist zumindest sehr zweifelhaft. Das gilt insbesondere
für die Frage, ob und in welchen Fällen Dublin-Rückkehrer bei Fortsetzung des
Asylverfahrens bzw. in einem Zweitverfahren in ihrem Vorbringen beschränkt
sind, ferner auch für die Frage, ob es zulässig ist, dass ein Asylverfahren
eingestellt wird, wenn der Antragsteller für die Dauer von 48 Stunden nicht in der
Aufnahmeeinrichtung angetroffen werden kann, der er zugewiesen ist (so VG
Köln a.a.O.).
64 Schließlich kann es nicht zu Lasten der Betroffenen ausschlagen, dass es aktuell
keine verlässlichen Berichte über die tatsächliche Lage von Asylbewerbern und
Inhabern von internationalem Schutz in Ungarn gibt und dass Ungarn selbst
gegenüber der Europäischen Kommission nicht berichtet, inwieweit es - unter der
augenscheinlichen Überlastung - die Asylverfahren und die
Aufnahmebedingungen entsprechend den unionsrechtlichen Vorgaben
bewältigen kann.
65 Vielmehr muss bei der Beurteilung einer Gefahrenlage für nach Ungarn
rücküberstellte Asylbewerber vor allem das oben geschilderte innenpolitische
Klima berücksichtigt werden. Indem die Regierung in der öffentlichen Debatte
einseitig die Abwehr von Flüchtlingen betont und Ängste in der Bevölkerung
schürt, trägt sie erheblich dazu bei, dass bei es der Anwendung der gesetzlichen
Regelungen, auch soweit diese dem europäischen Flüchtlingsrecht zweifellos
entsprechen, zu Menschenrechtsverletzungen kommen kann.
66 Insbesondere lässt die ungarische Politik keine hinreichende Bereitschaft
erkennen, von Ungarn als schutzbedürftig anerkannten Personen bei der
Integration in die Gesellschaft beizustehen. Die dafür geschaffenen Regeln und
die dafür bereit gestellten Mittel sind nach der Auskunft des UNHCR offensichtlich
unzureichend. So erscheint als nicht gesichert, dass Menschen, die in Ungarn
internationalen Schutz erhalten haben, insbesondere auch Dublin-Rückkehrer, in
den Genuss der ohnehin deutlich unterfinanzierten gesetzlichen
Integrationsangebote kommen können. Für die zuletzt genannte Gruppe dürfte
dies schon an den verstrichenen Antragsfristen scheitern. Auch die Bereitstellung
von Wohnraum für diesen Personenkreis ist völlig ungewiss. Eine Verweisung in
die staatlichen bzw. kommunalen Obdachlosenunterkünfte scheitert an den
Kapazitäten und für Familien auch daran, dass dort keine Kinder aufgenommen
werden; in zahlreichen Verfahren ist der Kammer von den Klägern überzeugend
vorgetragen worden, dass es ihnen nicht gelungen ist, Wohnung und Arbeit zu
finden.
67 Aus diesen Gründen ordnet das österreichische Bundesverwaltungsgericht seit
September 2015 in Dublin-Ungarn-Fällen die aufschiebende Wirkung der Klagen
regelmäßig an. Von ihm gibt es auch schon stattgebende
Hauptsachentscheidungen. Diese sind allerdings - wohl mangels einer Pflicht,
Spruchreife selbst herbeizuführen - damit begründet, dass die Veränderung der
Sachlage weiterer Aufklärung durch die österreichische Asylbehörde bedarf (vgl.
Urt. v. 24.09.2015 a.a.O.).
68 Der Feststellung von systembedingten Mängeln des ungarischen Asylsystems im
oben dargelegten Sinn lässt sich nicht - wie dies die Beklagte tut - entgegen
halten, dass weitaus die meisten Schutzsuchenden gar nicht in Ungarn bleiben,
sondern, entgegen dem ungarischen Flüchtlingsrecht auf allen möglichen Wegen
nach Österreich und von dort insbesondere in die Bundesrepublik Deutschland,
aber etwa auch weiter nach Schweden, reisen wollen. Denn der Andrang von
Flüchtlingen auch an den ungarischen Grenzen dauert weiter an. Außerdem wäre
Ungarn jedenfalls dann, wenn, wie im Fall des Klägers, die anderen Dublin-
Staaten auf einer Rücküberstellung dorthin bestehen würden, wiederum mit der
Zahl der Antragsteller überfordert.
69 Soweit in zahlreichen Entscheidungen anderer Verwaltungsgerichte darauf
abgehoben wird, dass der UNHCR, anders als bei Griechenland und -
eingeschränkt - Bulgarien, aktuell keine generelle Empfehlung ausgesprochen
hat, Asylsuchende nicht nach Ungarn zu überstellen, vermag dem die Kammer
nicht zu folgen. Der UNHCR selbst hält einer solchen Interpretation entgegen,
dass das Fehlen einer solchen generellen Empfehlung keineswegs bedeute, er
sei der Auffassung, dass keine solchen einer Überstellung entgegenstehenden
Umstände vorlägen oder im Einzelfall vorliegen könnten. Aus seiner Sicht ist es
Sache der Behörden und Gerichte, im Einzelfall zu prüfen, ob drohende
Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung in einen Mitgliedstaat der
Europäischen Union ausschlössen. Der UNHCR weist insoweit auch darauf hin,
dass der Supreme Court des Vereinigten Königreichs diese Auffassung
ausdrücklich bestätigt habe (vgl. UNHCR an VG Bremen v. 30.09.2014). Auch hat
der UNHCR angesichts der jüngsten Entwicklung wiederholt vor einer „weiteren
Verschlechterung der Lage“ gewarnt und betont, es sei wichtig, dass die
Umsetzung der neuen asyl- und haftrechtlichen Vorschriften gut durchdacht
werde, andernfalls „das zu Chaos“ führen würde (heute.de v. 05.10.2015). Im
Übrigen bedürfte es gegenwärtig entsprechender Warnungen des UNHCR nicht,
weil Überstellungen nach Ungarn wohl seit einigen Monaten gar nicht mehr
stattfinden. Das ergibt sich aus Folgendem:
70 Aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage aus dem
Deutschen Bundestag vom 18.08.2015 (BT-Drucksache 18/5785, S. 18 ff., noch
mit dem Vermerk "Vorabfassung - wird durch die lektorierte Version ersetzt") ergibt
sich, dass das Bundesamt im ersten Quartal 2015 2952 und im zweiten Quartal
2015 3565 Übernahmeersuchen an Ungarn gerichtet hatte. Etwa 80 % der
Ersuchen (2.304 bzw. 2.665 akzeptierte Ungarn. Im ersten Quartal 2015 gab es
30 Selbsteintritte oder faktische Überstellungshindernisse in Bezug auf Ungarn,
im zweiten Quartal 2015 171. Tatsächlich überstellt wurden nach Ungarn (nach
der Dublin-Verordnung) im ersten Quartal 2015 aber nur 42 Personen und im
zweiten Quartal 2015 nur 61 Personen, also nur etwa 2 Prozent bezogen auf die
Zahl der akzeptierten Übernahmeersuchen. Die Gründe dafür sind nicht bekannt
und auch auf Nachfrage vom Bundesamt nicht zu erfahren. Sie dürften einerseits
in einer begrenzten Aufnahmebereitschaft Ungarns (Kontingentierung der
Aufnahme), andererseits aber auch in der beschränkten Kapazität der
zuständigen deutschen Behörden liegen. Ein ähnliches Bild bietet die
schweizerische Asylstatistik. Die Schweiz hatte im ersten Halbjahr 2015 407
Ersuchen an Ungarn gestellt, die Ungarn in 333 Fällen akzeptierte; tatsächlich
überstellt wurden im gleichen Zeitraum nur 54 Personen, also etwa 16 % der
akzeptierten Übernahmeersuchen.
71 Seit mehreren Monaten finden auf Bitten Ungarns wohl überhaupt keine
Rücküberstellungen von Deutschland aus mehr statt (vgl. die Nachweise bei VG
Hannover, Beschl. v. 29.07.2015 - 10 B 2196/15 - juris). Nachfragen der Kammer
dazu hat das Bundesamt nicht beantwortet.
72 Auch deshalb ist die angefochtene Abschiebungsanordnung rechtswidrig. Denn §
34a Abs. 1 AsylVfG erfordert, dass die Abschiebung tatsächlich durchgeführt
werden kann. Dafür reicht eine Übernahmeerklärung Ungarns aber nicht aus,
wenn anschließend seitens des ungarischen Staats keine oder nur eine ganz
geringe Bereitschaft und so gut wie keine Kapazität besteht, Erst- und
Folgeantragsteller sowie überstellte Schutzsuchende und Inhaber internationalen
Schutzes tatsächlich aufzunehmen. Zumindest erscheint es als völlig fernliegend,
dass bei einer evtl. Wiederaufnahme von Überstellungen nach Ungarn in einigen
Monaten oder einem Jahr ausgerechnet diejenigen Schutzsuchenden
zurücküberstellt würden, welche sich nun schon seit mehreren Jahren im
Bundesgebiet aufhalten. Dies gilt umso mehr für Schutzsuchende, die in Ungarn
oder nach Zurückschiebung nach Serbien bzw. Griechenland
Menschenrechtsverletzungen in erheblichem Umfang, insbesondere eine
langdauernde Asylhaft, erfahren haben, wenn dies zu erheblichen
gesundheitlichen Beeinträchtigungen geführt hat. Daraus kann sich - wie oben
dargelegt - sogar ein Abschiebungsverbot in rechtlicher Hinsicht ergeben (§ 60
Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK).“
73 Inzwischen sind weitere entsprechende Entscheidungen in Hauptsacheverfahren
bekannt geworden (VG München, Urt. v. 26.08.2015 - M 24 K 15.50507 - juris; VG
Augsburg, Urt. v. 18.08.2015 - Au 6 K 15.50155 -, beide juris; VG Karlsruhe, Urt. v.
24.09.2015 - A 2 K 168/14 -), die allerdings nicht Personen betreffen, welche - wie
der Kläger - bereits einen Schutzstatus in Ungarn erlangt hatten. Jedoch hält die
Kammer - aus den oben angeführten Gründen - auch für solche Personen den
Verweis auf eine Zuständigkeit Ungarns und eine Abschiebungsanordnung für
rechtswidrig.
74 Insoweit erscheint zwar nicht als naheliegend, dass der Kläger im Zuge einer
Überstellung nach Ungarn dort in Haft genommen würde, wenn er dort auf seinem
erneuten Asylantrag - mit dem Ziel einer Flüchtlingsanerkennung - bestehen
würde; vielmehr ist wohl eher anzunehmen, dass er wegen des ihm gewährten
subsidiären Schutzes in Ungarn jedenfalls nach vorübergehendem Festhalten
alsbald frei gelassen würde.
75 Es ist aber, angesichts der oben getroffenen Feststellungen und der der Beklagten
anzulastenden Unmöglichkeit, aktuelle Informationen aus Ungarn diesbezüglich zu
erhalten, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass der Kläger bei
einer Rückkehr nach Ungarn zum jetzigen Zeitpunkt dort in die Obdachlosigkeit
fallen, keinen Notschlafplatz finden, keine ausreichende Unterstützung erhalten
und auch keine Hilfen bei der Suche nach Wohnung und Arbeit erhalten würde.
Dies ist ihm umso weniger zuzumuten, als er - nach seinen Angaben, an deren
Richtigkeit die Kammer keinen Grund hat zu zweifeln - bei früheren Aufenthalten in
Ungarn Solches erfahren hat und zudem auch über mehrere Monate haftähnlich
untergebracht war.
76 Hinzu kommt, dass der Kläger durch eine Überstellung nach Ungarn auf
unabsehbare Zeit von seiner Ehefrau und dem gemeinsamen erst drei Jahre alten
Kind getrennt würde; das würde gegen Art. 8 Abs. 1 EMRK verstoßen. Ist aber die
Überstellung einer Familie in einen Dublin-Staat nur im Familienverbund
rechtmäßig, hängt die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsanordnung nur
gegenüber dem Vater der Familie davon ab, ob eine Überstellung der weiteren
Familienangehörigen angeordnet und durchgeführt werden kann. Das ist hier nicht
der Fall. Denn eine gegenüber der Ehefrau und Kind erlassene
Abschiebungsanordnung oder -androhung nach Ungarn wäre unter den
gegenwärtigen Umständen auf ihre Klage hin aufzuheben; schließlich gehören die
Ehefrau des Klägers und das Kleinkind zu einer vulnerablen Personengruppe, für
die die dargelegten Verhältnisse in Ungarn gegenwärtig unzumutbar wären; hinzu
kommt auch noch die durch ein ausführliches ärztliches Attest belegte psychische
Erkrankung und Behandlungsnotwendigkeit der Ehefrau des Klägers. Eine diesen
Erschwernissen gerecht werdende Garantieerklärung Ungarns für den Einzelfall
(entsprechend der Rechtsprechung zu den Italien-Fällen) liegt nicht vor und dürfte
auch auf absehbare Zeit nicht zu erlangen sein.
77 Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 2, § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b
AsylVfG. Der Gegenstandswert folgt aus § 30 RVG.