Urteil des VG Freiburg vom 16.02.2016

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VG Freiburg Beschluß vom 16.2.2016, A 1 K 278/16
Anhörungserfordernis im Dublin-Verfahren
Leitsätze
Der Bestimmung des Art. 5 Abs. 1 und 3 VO(EU) 604/2013, wonach vor der
Entscheidung über die Überstellung des Antragstellers in den zuständigen
Mitgliedsstaat ein persönliches Gespräch zu führen ist, wird durch die Übersendung
eines schriftlichen Anhörungsbogens, dessen Zugang beim Antragsteller nicht
nachgewiesen ist, nicht gewahrt.
Es liegt auch kein Ausnahmefall des Art. 5 Abs. 2 b VO(EU) 604/2013 vor, in dem auf
ein persönlichen Gespräch verzichtet werden kann.
Art. 5 Abs. 1 VO(EU) 604/2013 begründet subjektive Rechte.
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers (A 1 K 277/16) gegen die
Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge
vom 13.01.2016 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Gründe
1 Über den Antrag entscheidet die Berichterstatterin als Einzelrichterin (§ 76 Abs. 4
Satz 1 AsylG).
2 Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der am 02.02.2016
erhobenen Klage (A 1 K 277/16) ist gem. §§ 75, 34a Abs. 2 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5
Satz 1 VwGO statthaft und auch sonst zulässig, insbesondere fristgemäß gestellt
worden.
3 Der zulässige Antrag ist auch begründet. Es kann nicht angenommen werden, dass
das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit der angefochtenen
Abschiebungsanordnung das Interesse des Antragsstellers überwiegt, bis zur
Entscheidung über seine Klage von einer Rückführung nach Italien verschont zu
bleiben. Denn der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
(Bundesamt) vom 13.01.2016, mit dem festgestellt wurde, dass der Asylantrag gem.
§ 27 a AsylG unzulässig ist und die Abschiebung des Antragstellers nach Italien
gem. § 34 a Abs. 1 AsylG angeordnet wurde, ist aller Voraussicht nach rechtswidrig.
4 Als Rechtsgrundlage für die Abschiebungsanordnung kommt hier nur § 34a Abs. 1
AsylG in Betracht. Nach Satz 1 dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt, wenn der
Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des
Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a) abgeschoben werden soll, die
Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden
kann.
5 Der angefochtene Bescheid ist bereits formell rechtswidrig, da das Bundesamt den
Antragsteller nicht in einer den Anforderungen des Art. 5 der Verordnung (EU)
604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (ABl. L 180
vom 29.06.2013, S. 31) - Dublin-III-VO - genügenden Weise angehört hat. Nach Art.
5 Abs. 1 Dublin-III-VO führt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedsstaat ein
persönliches Gespräch mit dem Antragsteller. Dieses Gespräch soll auch das
richtige Verständnis der dem Antragsteller gemäß Art. 4 Dublin-III-VO
bereitgestellten Informationen ermöglichen. Eine solche Anhörung in einem
persönlichen Gespräch ist hier nicht erfolgt. Auf das Gespräch darf gemäß Art. 5
Abs. 2 Dublin-III-VO - nur - verzichtet werden, wenn entweder der Antragsteller
flüchtig ist (a) oder der Antragsteller, nachdem er die in Art. 4 genannten
Informationen erhalten hat, bereits die sachdienlichen Angaben gemacht hat, so
dass der zuständige Mitgliedsstaat auf andere Weise bestimmt werden kann (b). In
dem zuletzt genannten Fall gibt der Mitgliedsstaat, der auf das Gespräch verzichtet,
dem Antragsteller Gelegenheit, alle weiteren sachdienlichen Informationen
vorzulegen, die für die ordnungsgemäße Bestimmung des zuständigen
Mitgliedsstaats von Bedeutung sind, bevor eine Entscheidung über die Überstellung
ergeht.
6 Einer dieser Ausnahmefälle, in denen nach Art. 5 Abs. 2 Dublin-III-VO auf die
Anhörung verzichtet werden kann, liegt hier nicht vor. Der Antragsteller ist weder
flüchtig noch hatte er selbst sachdienliche Angaben zur Bestimmung des
zuständigen Mitgliedsstaats, hier insbesondere zum Reiseweg und früheren
Asylantragstellungen, gemacht. Vielmehr hat das Bundesamt die Zuständigkeit
Italiens allein durch die Auswertung der Einträge in EURODAC ermittelt. Ein
Ausnahmefall liegt insbesondere nicht im Hinblick auf die in den Akten des
Bundesamts befindlichen Fragebögen „Erstbefragung Dublin schr. Verf.
ENGLISCH“ und „Zweitbefragung Dublin schr. Verf. ENGLISCH“ vor, in denen für
die Entscheidung maßgebliche Gesichtspunkte abgefragt werden. Diese
Fragebögen wurden vom Antragsteller nicht ausgefüllt, so dass er gerade keine
sachdienlichen Angaben i.S.d. Art. 5 Abs. 2 b Dublin-III-Verordnung gemacht hat.
Hinzu kommt, dass ein Nachweis dafür fehlt, dass der Antragsteller diese
Anhörungsbogen übermittelt bekommen hat. In den Akten des Bundesamts befindet
sich lediglich ein Vordruck eines entsprechenden Empfangsbekenntnisses, das
jedoch weder vom Antragsteller noch von einer Person, die die übersandten
Unterlagen ausgehändigt hat, unterschrieben worden ist. Andere in den Akten
befindliche Zustellungsnachweise beziehen sich auf eine andere Aufforderung zur
Stellungnahme sowie auf den angefochtenen Bescheid. Es ist somit nicht
nachgewiesen, dass der Antragsteller die genannten Fragebögen überhaupt
erhalten hat. Daher kann offen bleiben, ob anderenfalls aus seinem Schweigen der
Schluss gezogen werden könnte, er habe keine Einwände gegen eine Überstellung
in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union, zumal ein konkret in
Betracht kommender Staat zu diesem Zeitpunkt noch nicht benannt wurde. Art. 5
Abs. 2 c S. 2 Dublin-III-Verordnung, wonach dem Antragsteller Gelegenheit zu
geben ist, alle weiteren sachdienlichen Informationen vorzulegen, könnte nach dem
systematischen Zusammenhang der Vorschrift erst greifen, wenn der zuvor in Satz
1 genannte Ausnahmefall vorliegt. Dieser setzt u.a. voraus, dass der Antragsteller
(selbst) die sachdienlichen Angaben zur Bestimmung des zuständigen
Mitgliedsstaats gemacht hat. Eine Kenntnis der für die Bestimmung des zuständigen
Mitgliedsstaats notwendigen Tatsachen aus anderen Quellen (EURODAC etc.)
genügt nach dem Wortlaut der Bestimmung demgegenüber aller Voraussicht nach
nicht.
7 Es ist auch davon auszugehen, dass die Bestimmung des Art. 5 Abs. 1 Dublin-III-
VO subjektive Rechte begründet und nicht nur dem objektiven Interesse sowie dem
Interesse der Mitgliedsstaaten an der zutreffenden Ermittlung der Zuständigkeit
dient. Dafür sprechen insbesondere die weiteren Bestimmungen in Art. 5 Dublin-III-
VO, die regeln, dass das persönliche Gespräch in einer Sprache geführt wird, die
der Antragsteller versteht oder von der vernünftigerweise angenommen werden
kann, dass er sie versteht (Art. 5 Abs. 4 Dublin-III-VO), und dass das Gespräch
unter Bedingungen erfolgt, die eine angemessene Vertraulichkeit gewährleisten (Art.
5 Abs. 5 Dublin-III-VO). Die Anhörung wird zeitnah geführt, in jedem Fall aber, bevor
über die Überstellung des Antragstellers in den zuständigen Mitgliedsstaat
entschieden wird (Art. 5 Abs. 3 Dublin-III-VO). Diese Bestimmungen, die dem Schutz
des Antragsteller dienen, veranschaulichen, dass die Anhörung („das persönliche
Gespräch“) zumindest auch dem Interesse des Antragstellers dienen soll. Für die
hier vertretene Auslegung, dass die Pflicht des Bundesamts, den Antragsteller
jeweils anzuhören, für diesen subjektive Rechte begründet, spricht auch, dass
Anhörungspflichten Ausfluss des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist, der hier zwar
- da keine Stelle der Union, sondern eine nationale Behörde, nämlich das
Bundesamt, gehandelt hat - nicht aus Art. 41 EU-Grundrechtecharta vom
12.12.2007 (ABl. Nr. C 303 S. 1) sondern aus einem das Unionsrecht prägenden
allgemeinen Grundsatz folgt. Der Anspruch auf rechtliches Gehör garantiert jeder
Person die Möglichkeit, im Verwaltungsverfahren sachdienlich und wirksam ihren
Standpunkt vorzutragen, bevor ihr gegenüber eine für ihre Interessen nachteilige
Entscheidung erlassen wird (EuGH, Urt. v. 11.12.2014 - C-249/13 - Juris m.w.N.).
8 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten (Gebühren
und Auslagen) werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
9 Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).