Urteil des VG Freiburg vom 16.02.2017

aufschiebende wirkung, verfügung, öffentliche sicherheit, einweisung

VG Freiburg Beschluß vom 16.2.2017, 6 K 58/17
Leitsätze
Eine Anordnung, eine Obdachlosenunterkunft zu räumen, ist ohne gleichzeitige verfügte Zuweisung des
Betroffenen in eine andere Obdachlosenunterkunft nur dann ermessensfehlerfrei, wenn dieser nach Verlassen
bzw. Räumung der Obdachlosenunterkunft nicht in eine unfreiwillige Obdachlosigkeit gerät, was dann der Fall
ist, wenn er aufgrund eigenen Einkommens bzw. aufgrund von Sozialleistungen in der Lage ist, sich selbst eine
Wohnung zu beschaffen.
Wendet sich der Betroffene mit einem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Räumungsanordnung unter
Hinweis auf ihm andernfalls drohende unfreiwillige Obdachlosigkeit, so macht er damit der Sache nach mittelbar
einen Anspruch auf Zuweisung in eine Obdachlosenunterkunft geltend und hat deshalb in entsprechender
Anwendung von §§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft zu machen, dass er nicht in der Lage ist, selbst
eine Wohnung zu finden.
Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.
Gründe
1
1.
Der Antrag, im Wege der Abänderung des Beschlusses der Kammer vom 16.12.2016 (6 K 4481/16) gem. §
80 Abs. 7 VwGO die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 27.9.2016 gegen die
Räumungs- und Umsetzungsverfügung der Antragsgegnerin vom 15.9.2016 wiederherzustellen bzw.
anzuordnen, ist unzulässig, soweit er sich auf die unter Ziff. 2 dieser Verfügung angeordnete Einweisung des
Antragstellers in die Gemeinschaftsunterkunft für obdachlose Männer in der Bahnhofstr. 12 in Singen
richtet.
2 Denn die Antragsgegnerin hat mit Verfügung vom 6.2.2017 (BAS 175) diese (unter Ziff. 3 des Bescheids vom
15.9.2016 nur bis 31.12.2016 befristet angeordnete) Einweisung wegen der amtsärztlich dem Antragsteller
attestierten, infolge seiner psychischen Erkrankung fehlenden Fähigkeit, in einer Gemeinschaftsunterkunft
zusammen mit anderen untergebracht zu werden, nicht mehr aufrechterhalten bzw. keine neue Einweisung
mehr verfügt, sondern ausdrücklich auf S. 6 der Verfügung vom 6.2.2107 (BAS 180) diese (bisherige)
Einweisungsverfügung als „erledigt“ bezeichnet und deshalb ausdrücklich allein eine Räumung, nicht aber
auch eine neue Einweisung verfügt, und hat dies auch so noch einmal in ihrer Antragserwiderung vom
7.2.2017 (GAS 87) erklärt hat.
3 Damit aber fehlt dem Antragsteller insoweit das Rechtsschutzinteresse. Denn er hat trotz des gerichtlichen
Hinweises vom 10.2.2017 auf diese tatsächlich durch Zeitablauf eingetretene Erledigung (§ 43 Abs. 2
VwVfG) der Einweisungsverfügung bisher nicht, wie gerichtlich angeregt, den Rechtsstreit insoweit (unter
Verwahrung gegen die Kostenlast) für erledigt erklärt, sondern stattdessen den Antrag auch insoweit bis
heute unverändert aufrechterhalten, obwohl er dadurch offensichtlich gar nicht mehr beschwert ist.
4
2.
Im Übrigen ist der Antrag bei sachdienlicher Auslegung des Begehrens des Antragstellers (§§ 86 Abs. 3,
88 VwGO) auf die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs bezüglich der unter Ziff.
1 der Verfügung vom 15.9.2016 und die im Zusammenhang damit unter Ziff. 5 verfügte Androhung der
Zwangsräumung - unter Einbeziehung der Verfügung vom 6.2.2107 in das bereits anhängige
Widerspruchsverfahren und vorliegende Abänderungsverfahren (siehe dazu m.w.Nw. den gerichtlichen
Hinweis im vorliegenden Verfahren vom 10.2.2016 - GAS 61) ohne neuerliches Widerspruchsverfahren -
gerichtet. Denn der Sache nach wendet sich der Antragsteller ausweislich seiner Antragsbegründung vom
6.2.2017 (GAS 51) auch gegen die unter den Ziffern 1 und 3 dieser Verfügung vom 6.2.2107 mit einer bis
15.2.2017 verlängerten Räumungsfrist angeordnete Räumung der bisherigen Obdachlosenunterkunft im
sog. Conti-Hochhaus und Androhung der Zwangsräumung. Zur Begründung verweist er der Sache nach
sinngemäß darauf, diese verfügte Räumungsanordnung sei rechtswidrig, nämlich ermessensfehlerhaft, weil
sie ihn, mangels einer zugleich verfügten erneuten Einweisung in eine ihm angemessene Einzelunterkunft,
aus dem Conti-Hochhaus hinaus praktisch direkt in die Obdachlosigkeit hinein versetze, für die er nicht
verantwortlich sei, weil die Bemühungen der Antragsgegnerin unzureichend bzw. sogar nur vorgeschoben
worden seien, ihm eine einzelne Wohnung anzubieten bzw. wirksam zu vermitteln.
5 Dieser Antrag ist indessen unbegründet.
6 Das der Antragsgegnerin nach §§ 1 und 3 LPolG eröffnete Räumungsermessen (siehe dazu die
vorangegangenen Beschlüsse der Kammer vom 8.11.2016 - 6 K 3975/16 und v. 16.12.2016 - 6 K 4481/16 -
bestätigt durch VGH Bad.-Württ., B. v. 28.12.2016 - 1 S 2593/16) hat sie nämlich entgegen der Ansicht des
Antragstellers aller Voraussicht nach ermessensfehlerfrei (§§ 40 VwVfG, 114 VwGO) ausgeübt, so dass sich
der Widerspruch des Antragstellers, dessen aufschiebende Wirkung er mit vorliegendem Antrag begehrt,
höchstwahrscheinlich als erfolglos erweisen wird. Von daher überwiegt im Rahmen der vom Gericht
aufgrund der im Verfahren nach § 80 Abs. 5 und Abs. 7 VwGO nur vorzunehmenden summarischen
Überprüfung der Sach- und Rechtslage das Interesse der Antragsgegnerin an der sofortigen Räumung das
gegenläufige private Interesse des Antragsstellers, von einer Vollstreckung der Räumungsanordnung
vorläufig bis zur endgültigen Klärung ihrer Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben.
7 Das der Antragsgegnerin als Ortspolizeibehörde hinsichtlich ihrer Verpflichtung zur Abwehr einer sich aus
einer Obdachlosigkeit resultierenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit eingeräumte Ermessen, hat sie
pflichtgemäß unter Berücksichtigung aller Umstände auszuüben (vgl. VGH Bad.-Württ., B. v. 24.2.1993 - 1 S
279/93 -, juris = VwBlBW 1993, 304).
8 Insoweit hat sie wegen ihrer bestehenden polizeirechtlichen Grundverpflichtung, unfreiwillige
Obdachlosigkeit abzuwehren, auch zu prüfen, ob der Adressat einer Verfügung, mit der ihm die Räumung
einer ihm zur Vermeidung seiner bisherigen Obdachlosigkeit zugewiesenen Obdachlosenunterkunft
aufgegeben wird, dadurch nicht erneut und zugleich gerade wieder in einen Zustand der unfreiwilligen
Obdachlosigkeit gerät, den es durch Unterlassung der Räumungsanordnung oder aber durch Erlass einer
neuen Einweisungsverfügung gerade zu vermeiden gilt. Denn andernfalls würde sie sich nach dem
Grundsatz der Unbeachtlichkeit selbstwidersprüchlichen Verhaltens („dolo agit, qui agit, quod statim
redditurus est“ = „treuwidrig handelt, wer etwas verlangt, was er gleich wieder herausgeben muss“) dem
Vorwurf der Treuwidrigkeit ausgesetzt sehen, wenn sie einen Zustand schafft, den sie sofort wieder
beseitigen muss.
9 Dass der Antragsteller infolge der ohne erneute Einweisung verfügten Räumungsanordnung in die
unfreiwillige Obdachlosigkeit geraten wird, hat die Antragsgegnerin ausweislich der Begründung ihrer
Verfügung vom 6.2.2017 aber ermessensfehlerfrei verneint, mit dem sie die Räumungsfrist nur bis
15.2.2017 verlängert, im Übrigen aber ab diesem Zeitpunkt dem Antragsteller die Räumung weiterhin
aufgegeben hat.
10 Sie hat nämlich zu Recht darauf verwiesen, dass ihre Gefahrenabwehrpflicht nur bezüglich der Abwehr einer
„unfreiwilligen“ Obdachlosigkeit gilt, die nur dann vorliegt, wenn eine Person nicht über eine Unterkunft
verfügt, die einen Minimalschutz vor der Witterung und zur Sicherung der notwendigsten
Lebensbedürfnisse bietet (vgl. VGH Bad.-Württ., B. v. 5.3.1996 - 1 S 470/96 -, NVwZ-RR 1996, 439 = juris),
die aber - wegen der Subsidiarität des Obdachlosenrechts - nicht vorliegt, wenn der Betroffene selbst -
wirtschaftlich, finanziell und nach den gesamten tatsächlichen Verhältnissen des Wohnungsmarktes - dazu
in der Lage ist, die drohende Obdachlosigkeit abzuwenden (dies etwa für den Fall durch fristlose Kündigung
von einem Tag auf den anderen auf die Straße gesetzter rumänischer Erntehelfer verneinend, denen noch
nicht einmal der Lohn ausgezahlt worden war, so dass sie sich noch nicht einmal selbst mit Nahrungsmitteln
versorgen konnten VG Sigmaringen, U. v. 27.7.2011 - 5 K 2547/09 -, juris, Rn. 24 - 26). Unfreiwillig
obdachlos ist nämlich nur jemand, der keine Wohnung hat und nicht in der Lage ist, die Wohnungslosigkeit
aus eigener finanzieller Kraft oder zumindest mit Hilfe von Sozialleistungen in zumutbarer Weise und Zeit
zu beseitigen (vgl. VG Augsburg, B. v. 12.9.2014 - Au 7 S 14.1263 -, juris, Rn. 24). Dabei ist darauf
abzustellen, ob sich der Betreffende unter Ausschöpfung aller ihm zu Gebote stehenden zumutbaren
Eigenmaßnahmen, auch finanzieller Art, selber eine nur vorübergehende und den Mindestanforderungen
genügende Bleibe verschaffen kann (vgl. BayVGH, B. v. 10.3.2005 - 4 CS 05.219 -, juris und b. v. 13.2.2014
- 4 CS 14.125 -, juris; siehe ferner zur Subsidiarität des Obdachlosenrechts im Hinblick auf die vorrangige
Pflicht zur Gefahrenabwehr durch die Selbsthilfe des Betroffenen ausführlich und m.w. Nw. d. Rspr.
Ruder,
Die polizeirechtliche Unterbringung von Obdachlosen, VBlBW 2017, 1 [6, 7]). Das wird z.B. in der
Rechtsprechung für den Fall erwogen, dass der Betroffene über einem monatliche Rente in Höhe von ca.
1.200,- Euro verfügt und somit in der Lage sein dürfte, sich selbst eine kostengünstige, einfache Unterkunft
zu verschaffen (vgl. VG München, B. v. 7.9.2016 - M 22 E 16.1415 -, juris, Rn. 28).
11 Dass der Antragsteller in diesem Sinne infolge der Räumungsanordnung der Antragsgegnerin ab heute in
einen Zustand der unfreiwilligen Obdachlosigkeit gerät, ist hier im vorliegenden Fall mit hoher
Wahrscheinlichkeit zu verneinen.
12 Das zeigt schon der Umstand, dass der Antragsteller, obwohl die Antragsgegnerin sich ausweislich der
vorliegenden Behördenakten und der darin enthaltenen Aktenvermerk, mehrfach und ausdauernd in jeder
Hinsicht bemüht hat, ihm Wohnung zu benennen, um deren Anmietung er sich kümmern könne, bisher ganz
offenbar in keiner Weise damit auch nur befasst hat, selbst jemals einen Schritt aus eigenem Antrieb zu
gehen und sich selbst um eine bescheidene Unterkunft und deren Anmietung (ggf. mit finanzieller
Unterstützung von Sozialträgern) auch nur zu bemühen, geschweige denn, dies dem Gericht auf dessen
Bitten hin auch nur ansatzweise vorzutragen und glaubhaft zu machen.
13 Hatte der Antragsteller im vorangegangenen Verfahren noch darauf verwiesen, seit Mitte Dezember 2016
wieder arbeitslos zu sein, hat er nunmehr im vorliegenden Verfahren mit Schreiben vom 6.2.2017
mitgeteilt, dass er wieder arbeite und deshalb einer Wohnung in der Nähe öffentlicher Verkehrsmittel
benötige, da er mangels Führerschein und Fahrzeug sonst nicht morgens zur Arbeit fahren könne. Von daher
ist davon auszugehen, dass er aktuell wieder arbeitet und demnach im Grundsatz über ein Einkommen
verfügt, das ihm die Anmietung, eventuell mit zusätzlichen staatlichen Zuschüssen, einer bescheidene
Unterkunft ermöglicht.
14 Auf die gerichtliche dringende und eindeutige Aufforderung, im Einzelnen seinen Verdienst, seine
Einkommen, seinen eventuellen Bezug von Sozialleistungen oder seine entsprechenden Anträge auf
Sozialleistungen , etwa Wohngeldanträge oder -ersuchen dem Gericht im vorliegenden Verfahren
mitzuteilen, bzw. in dem der Sache nach auf die Geltendmachung eines Anspruchs nach § 123 VwGO gegen
die Antragsgegnerin auf Einweisung in eine Wohnung abzielenden vorliegenden Verfahren gem. § 123 Abs.
3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO (entspr.) glaubhaft zu machen, hat der Antragsteller trotz ausreichender
ihm dafür eingeräumter Zeit bis heute mit keinem Wort reagiert, sondern lediglich sein Schreiben vom
6.2.2017 dem Gericht erneut (Eingang 13.2.2017) übersandt. Selbst um Wohnraum bemüht, hat er sich
demnach offenbar noch immer nicht.
15 Schließlich hat er auch auf die Ankündigung, dass sein Antrag ohne eine solche Darlegung, dass er
außerstande sei, selbst Wohnraum zu finden und zu finanzieren und entsprechende Bemühungen
seinerseits auch nur ansatzweise unternommen habe, bisher weder selbst noch durch seinen Rechtsanwalt
reagiert und sich trotz der - nach Ablauf der gesetzten am 15.2.2017 endenden Räumungsfrist - ab heute
Morgen drohenden Zwangsräumung bisher nicht einmal telefonisch mit dem Gericht in Verbindung gesetzt.
Das aber zeigt in aller Deutlichkeit, dass der Antragsteller schon seiner eigenen Einschätzung nach nicht
(mehr) zwingend auf eine von der Antragsgegnerin verfügte Einweisung in eine Wohnung zur Vermeidung
andernfalls bestehender Obdachlosigkeit angewiesen ist, sondern sich offenbar selbst behelfen kann.
16 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
17 Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 2 GKG, wobei der gesetzliche Auffangstreitwert mit
Rücksicht auf die Vorläufigkeit des begehrten Rechtsschutzes hier zu halbieren ist.