Urteil des VG Freiburg vom 29.10.2015

tragen von schutzhelmen, eingriff, religionsfreiheit, einschränkung von grundrechten

VG Freiburg Urteil vom 29.10.2015, 6 K 2929/14
Zur Schutzhelmtragepflicht für ein Mitglied der Religionsgemeinschaft der Sikhs
Leitsätze
Ein Mitglied der Religionsgemeinschaft der Sikhs hat grundsätzlich keinen Anspruch
darauf, wegen des religiösen Gebots, den Kopf mit einem Turban zu bedecken, von
der Einhaltung der Schutzhelmtragepflicht gemäß § 21a Abs. 2 StVO ausgenommen
zu werden.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
1 Der Kläger begehrt eine Ausnahme von der Helmpflicht beim Führen eines
Kraftrades.
2 Der Kläger gehört seit dem Jahre 2005 der Sikh-Religion an. Am 18.07.2013
beantragte er bei der Beklagten eine Ausnahme von der Pflicht, beim
Motorradfahren einen Schutzhelm zu tragen. Hierzu gab er religiöse Gründe an, da
er als Sikh Träger eines Turbans sei.
3 Mit Bescheid vom 27.08.2013 lehnt die Beklagte den Antrag ab und begründete
dies damit, gemäß Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVO könnten Ausnahmen von
der Helmtragepflicht nur aus gesundheitlichen Gründen erteilt werden. Religiöse
Motive seien unzureichend. Die Schutzhelmtragepflicht bezwecke den Schutz vor
schweren Körperverletzungen bei Stürzen vom Motorrad. Sie stelle keinen
unzulässigen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit oder freie
Religionsausübung dar. Sie sei auch verhältnismäßig, da allgemein anerkannt sei,
dass ein Schutzhelm geeignet sei, Kopfverletzungen zu vermeiden bzw. deren
Schwere zu vermindern.
4 Der Kläger erhob am 06.09.2013 Widerspruch und wies darauf hin, eine
Ausnahme von der Helmpflicht aus religiösen Gründen sei nicht nur möglich,
sondern schon mehrfach ausgesprochen worden. Er wies hierzu auf einen Fall
aus B. hin.
5 Mit Widerspruchsbescheid vom 24.10.2014, zugestellt am 03.11.2014, wies das
Regierungspräsidium Freiburg den Widerspruch zurück und führte hierzu aus:
Gemäß § 46 Abs. 2 StVO könne die zuständige Behörde von allen Vorschriften der
Verordnung Ausnahmen für bestimmte Einzelfälle genehmigen und habe hierbei
nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Nach der Verwaltungsvorschrift
zu § 46 StVO sei die Erteilung einer Ausnahme nur in besonders dringenden
Fällen gerechtfertigt. Die Ausnahmegenehmigung setze Gründe voraus, die das
öffentliche Interesse am Verbot überwögen. Das Schutzgut der Vorschrift dürfe
nicht wesentlich beeinträchtigt werden. Ausdrücklich vorgesehen sei eine
Ausnahme aus gesundheitlichen Gründen. Eine Einschränkung von Grundrechten
des Klägers sei möglich, da sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhe, dem
öffentlichen Interesse diene, die Verhältnismäßigkeit gewahrt sei und der
Kerngehalt des Grundrechts nicht verletzt werde. Insoweit werde auf die
Entscheidung der Beklagten verwiesen. Soweit der Kläger sich auf einen anderen
Fall berufe, sei unklar, ob dieser vergleichbar sei. Selbst wenn dies so sein sollte,
könne er hieraus jedoch keinen Anspruch herleiten, da die Ausnahmeerteilung aus
Sicht der Widerspruchsbehörde rechtsfehlerhaft erfolgt sei.
6 Der Kläger hat am 03.12.2013 Klage erhoben und trägt vor: Die Sikh-Religion
kenne keine Gebots- oder Verbotsregeln. Sie entspringe einer reflexiven
Lebensweise. Ein Bestandteil dieses Glaubens sei es, sich seine Haare zu
bewahren, dabei würden diese niemals geschnitten und unter einem Turban
zusammengehalten. Dieser werde allenfalls zum Schlafengehen abgenommen,
gegebenenfalls würden die Haare dann durch ein Tuch bedeckt. Durch das
Tragen des Turbans fühle er sich beim Führen seines Motorrades besser
geschützt als durch jeden Helm. Den Turban dürfe er in der Öffentlichkeit nicht
abnehmen, da er ansonsten seiner Religion abtrünnig werden würde. Selbst für
einen Schutzhelm dürfe er nach seiner religiösen Überzeugung den Turban nicht
abnehmen. Durch die Helmpflicht werde in seine Religionsfreiheit eingegriffen und
diese verletzt. Entgegen behördlicher Ansicht könne der Eingriff, da es sich um ein
vorbehaltsloses Grundrecht handle, nicht allein durch ein Gesetz, sondern nur
durch kollidierende Grundrechte Dritter oder andere mit Verfassungsrang
ausgestattete Rechtswerte im Wege praktischer Konkordanz begrenzt werden.
Werde er entweder zum Verzicht auf das Fahren eines Motorrades oder auf das
Tragen eines Turbans gezwungen, weil den Interessen an der Vermeidung
schwerer Verletzungen sowie dem Sozialstaatsprinzip (Belastung der
Solidargemeinschaft der Mitglieder der Sozialversicherung durch Unfallkosten)
Vorrang gegeben werde, finde keine Herstellung einer praktischen Konkordanz
statt. Gerade weil die Ausnahmegenehmigung jedoch aus gesundheitlichen bzw.
medizinischen Gründen erteilt werden könne, müsse dies zwingend erst recht für
religiöse Gründe gelten. Realistisch prognostiziert werde eine solche
Ausnahmegenehmigung von der Helmpflicht auch nicht häufig beantragt werden,
da es sich auch tatsächlich um einen Ausnahmefall handele.
7 Der Kläger beantragt sinngemäß,
8
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 27.08.2013 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheids des Regierungspräsidiums Freiburg vom 24.10.2014 zu
verpflichten, ihm die beantragte Ausnahme von der Pflicht zum Tragen eines
geeigneten Schutzhelms beim Führen eines Kraftrades oder der Mitfahrt auf
diesem zu genehmigen.
9 Die Beklagte beantragt,
10 die Klage abzuweisen.
11 Sie entgegnet: Die Schutzhelmpflicht, die der hohen Gefahr schwerer
Verletzungen bei Stürzen vom Motorrad vorbeugen solle, sei vom
Bundesverfassungsgericht als verfassungskonform bestätigt worden. Eine
entsprechende Eignung komme dem Turban nicht zu. Religiöse
Kleidungsvorschriften entbänden nicht von der Helmtragepflicht. Auch wenn es
sich beim Verbot des Kraftradfahrens mit Turban statt Helm um einen Eingriff in die
Religionsfreiheit handle, sei dieser verfassungsrechtlich gerechtfertigt und die
Ausnahmegenehmigung zu versagen gewesen. Die Religionsfreiheit sei durch
kollidierendes Verfassungsrecht derart beschränkbar, dass ein Ausgleich mit
kollidierenden Verfassungsgütern herzustellen sei. Das Recht des Klägers auf
Leben und körperliche Unversehrtheit sei vorrangig. Der Eingriff sei auch
verhältnismäßig, da ein Kraftradfahrer, der ohne Schutzhelm fahre und beim Unfall
eine schwere Kopfverletzung davontrage, keineswegs nur sich selbst schade. Es
liege auf der Hand, dass in vielen Fällen weiterer Schaden abgewendet werden
könne, wenn ein Unfallbeteiligter bei Bewusstsein bleibe. Ferner hätten Unfälle mit
schweren Kopfverletzungen weitreichende Folgen für die Allgemeinheit in Gestalt
des Einsatzes der Rettungsdienste, ärztlicher Versorgung,
Rehabilitationsmaßnahmen sowie der Versorgung von Invaliden. Die Versagung
der Ausnahmegenehmigung sei mithin geeignet, erforderlich und angemessen, um
Gefahren für Leib und Leben des Klägers zu vermindern sowie Schaden von der
Allgemeinheit abzuwenden.
12 Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Schriftsätze
der Beteiligten und den Akteninhalt (jeweils ein Heft der Beklagten und des RP
Freiburg) verwiesen.
13 Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren
einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
14 Die zulässige Verpflichtungsklage ist unbegründet. Der Kläger kann sein
Begehren, Motorrad mit einem Turban statt einem Schutzhelm zu fahren, nicht
schon ohne behördliche Gestattung verwirklichen (dazu unter I.). Die Versagung
der deshalb von ihm beantragten Ausnahmegenehmigung ist rechtmäßig und
verletzt ihn nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 VwGO (dazu unter II.).
I.
15 Dem Begehren des Klägers stehen Straßenverkehrsvorschriften entgegen.
Gemäß § 21a Abs. 2 StVO muss, wer Krafträder oder offene drei- oder mehrrädrige
Kraftfahrzeuge mit einer bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von über 20 km/h
führt sowie auf oder in ihnen mitfährt, während der Fahrt einen geeigneten
Schutzhelm tragen. Dies gilt nicht, wenn vorgeschriebene Sicherheitsgurte
angelegt sind. Gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 20a StVO handelt ordnungswidrig im Sinne
des § 24 StVG, wer vorsätzlich oder fahrlässig gegen eine Vorschrift über das
Tragen von Schutzhelmen nach § 21a Absatz 2 Satz 1 StVO verstößt.
16
1.)
Bedenken an der Wirksamkeit der generell-abstrakten Regelung einer
Schutzhelmtragepflicht bestehen nicht. § 21a StVO findet als Rechtsverordnung
seine (gemäß Art. 80 GG erforderliche) Ermächtigung in § 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG („die
sonstigen zur Erhaltung der Sicherheit und Ordnung auf den öffentlichen Straßen
… erforderlichen Maßnahmen über den Straßenverkehr“).
17
a.)
Soweit diese Bestimmung einen Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit aus
Art. 2 Abs. 1 GG darstellt, ist dieser verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Das
Bundesverfassungsgericht (Beschl. v. 26.01.1982 - 1 BvR 1295/80 -, juris) hat im
Zusammenhang mit der Verfassungsgemäßheit der Ordnungswidrigkeitsvorschrift
des § 49 Abs. 1 Nr. 20a StVO festgestellt, dass die Helmpflicht insbesondere dem
rechtsstaatlichen Erfordernis der Verhältnismäßigkeit genügt. Es sei allgemein
anerkannt, dass ein Schutzhelm geeignet sei, Kopfverletzungen zu vermeiden
oder jedenfalls deren Schwere zu vermindern. Dieser besondere Schutz für
Kraftradfahrer sei mit keinen nennenswerten Nachteilen verbunden. Ein
Kraftradfahrer, der ohne Schutzhelm fahre und deshalb bei einem Unfall eine
schwere Kopfverletzung davontrage, schade keineswegs nur sich selbst. Es liege
auf der Hand, dass in vielen Fällen weiterer Schaden abgewendet werden könne,
wenn ein Unfallbeteiligter bei Bewusstsein bleibe. Wenn die Folgen eines im
öffentlichen Straßenverkehr eingegangenen, berechenbaren und hohen Risikos
die Allgemeinheit schwer belasteten, sei es für den einzelnen zumutbar, dieses
Risiko durch einfache, leicht zu ertragende Maßnahmen zu senken. Dass Unfälle
mit schweren Kopfverletzungen weitreichende Folgen für die Allgemeinheit hätten
(z.B. durch Einsatz der Rettungsdienste, ärztliche Versorgung,
Rehabilitationsmaßnahmen, Versorgung von Invaliden), stehe außer Frage. Durch
die Ausnahmemöglichkeit gemäß § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5b StVO könnten unbillige
Härten vermieden werden (BVerfG, a.a.O., Rn. 14 ff.).
18
b.)
Die Schutzhelmpflicht kann ferner einen Eingriff in das (gegenüber Art. 2 Abs. 1
GG speziellere - vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.10.1971 – 1 BvR 387/65 –, Rn. 24, juris)
Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG darstellen, soweit sie mit dem Tragen
einer Kopfbedeckung aus religiösen Gründen kollidiert. Auf der Regelungsebene
des Gesetzes ist indessen ein verfassungswidriger Eingriff in dieses Grundrecht
(als Ausdruck objektiver Wertordnung) zu verneinen, da aufgrund der in § 46 Abs.
1 und 2 StVO in bestimmten Einzelfällen oder allgemein für bestimmte Antragsteller
vorgesehenen Möglichkeit von Ausnahmegenehmigungen bereits der
Gesetzgeber auf derselben Regelungsebene ein Instrument geschaffen hat,
unverhältnismäßige Eingriffe zu vermeiden.
19 Eines Parlamentsgesetzes bedurfte es für die Anordnung der Helmpflicht nicht.
Diese bezweckt nicht gezielt (unmittelbar bzw. normativ) das Verbot, aus religiösen
Gründen eine Kopfbedeckung zu tragen. Sie stellt lediglich einen mittelbaren
(faktischen) Eingriff in das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG dar, indem sie
im Fall der Unvereinbarkeit des gleichzeitigen Tragens von Helm und religiös
motivierter Kopfbedeckung den Grundrechtsinhaber zwingt, entweder auf das
Motorradfahren zu verzichten oder die Kopfbedeckung zugunsten eines Helms
abzunehmen. Auch dies erfordert zwar eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung
(vgl. zum sog. „modernen“, faktisch-mittelbaren Eingriffsbegriff: BVerfG, Beschl. v.
26.06.2002 – 1 BvR 670/91 –, Rn. 70, juris). Angesichts einer allenfalls
geringfügigen Eingriffsintensität (dazu unten) sowie des (nur) betroffenen
Teilbereichs der Straßenverkehrssicherheit bedurfte es hierfür jedoch keiner
Entscheidung des Parlaments. Dies hätte vielmehr einen Lebenssachverhalt
vorausgesetzt, in dem miteinander konkurrierende grundrechtliche Freiheitsrechte
aufeinandertreffen, deren jeweilige Grenzen fließend und nur schwer
auszumachen sind und der ferner Entscheidungen mit einer Tragweite
hervorbringt, die aus einem Verfahren hervorgehen müssen, das der Öffentlichkeit
Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten, und die
Volksvertretung dazu anhält, Notwendigkeit und Ausmaß von
Grundrechtseingriffen in öffentlicher Debatte zu klären (BVerfG, Urt. v. 24.09.2003
– 2 BvR 1436/02 –, Rn. 68, juris [Verbot des Kopftuchtragens an öffentlichen
Schulen]).
20
2.)
Der Turban des Klägers ist kein im Sinne des § 21a Abs. 2 StVO geeigneter
Schutzhelm. Geeignet sind amtlich genehmigte Schutzhelme sowie
Kraftradschutzhelme mit ausreichender Schutzwirkung. Amtlich genehmigt sind
Schutzhelme, die entsprechend der ECE-Regelung Nr. 22 gebaut, geprüft,
genehmigt und mit dem nach dieser Regelung vorgeschriebenen
Genehmigungszeichen gekennzeichnet sind. Auch nicht genehmigte Schutzhelme
dürfen verwendet werden, soweit sie ausreichende Schutzwirkung aufweisen. Der
Helm muss geeignet sein, Kopfverletzungen bei Krad-Unfällen erheblich zu
mindern und dementsprechend (mit geschlossenem Kinnriemen) getragen
werden. Nicht geeignet sind z.B. Bauarbeiter-, Feuerwehr-, Radfahr- oder
Stahlhelme der Bundeswehr (vgl. m.w.N.: Hentschel/König/Dauer,
Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl. 2015, § 21a StVO, Rnr. 16;
Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 23. Aufl. 2014, StVO § 21a
Rn. 5). Der statt eines Helms getragene Turban - eine oder mehrere aus
Baumwolle oder Baumwoll-Seide-Mischgewebe bestehende, mehrere Meter lange
Stoffbahn(en), die wulstartig um den Kopf geschlungen wird/werden - ist
offensichtlich, ohne dass dies eines wissenschaftlichen Nachweises bedürfte, kein
geeigneter Schutzhelm. In materiell-physikalischer Hinsicht bestreitet dies letztlich
auch der Kläger nicht. Seine Aussage, er fühle sich „durch den Turban besser als
durch jeden Helm geschützt“, ist ersichtlich spirituell/religiös gemeint. Ein Tragen
des Turbans unter dem Helm scheidet schließlich - das sehen auch die Beteiligten
so - wegen fehlenden Platzes aus. Für einen Halbschalenhelm (sog. „Braincap“)
gilt dies entsprechend, unabhängig davon, ob es sich bei diesem überhaupt um
einen geeigneten Schutzhelm handelt.
21
3.)
Da es dem Kläger ersichtlich darum geht, ein herkömmliches Kraftrad fahren zu
können, ist in seinem Fall schließlich auch keine Konfliktlösung in Anwendung der
8. Ausnahmeverordnung zur StVO (vom 20.08.1998, BGBl. S. 1130 -
AusnahmeVO StVO) möglich. Nach dieser greift bereits auf Gesetzesebene eine
Ausnahme von der Helmpflicht bei Krafträdern ein, wenn diese den Anforderungen
der Anlage zur 8. AusnahmeVO StVO entsprechen und wenn die vorhandenen
Rückhaltesysteme angelegt sind. Ein herkömmliches Motorrad erfüllt diese
Voraussetzungen indessen nicht, da hierfür ein spezielles Rückhaltesystem und
eine Rahmenkonstruktion mit Überrollbügel sowie ein Frontcrashelement
erforderlich sind (vgl. Begründung zur Verordnung, abgedruckt bei
Hentschel/König/Dauer, a.a.O., § 21a StVO Rn. 1h).
II.
22 Einen Anspruch darauf, von der Einhaltung der Helmtragepflicht ausgenommen zu
werden, hat der Kläger nicht.
23
1.)
Anspruchsgrundlage für die bei der Beklagten (zu deren Zuständigkeit und
Passivlegitimation vgl. § 44 Abs. 1 Satz 1 StVO i.V.m. § 1 StVOZuG und §§ 15
Abs. 1 Nr. 1, 19 LVG sowie § 47 Abs. 2 Nr. 5 StVO) beantragte
Ausnahmegenehmigung ist § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5b StVO, der die
Straßenverkehrsbehörden ermächtigt, in den unter Nrn. 1 bis 12 abschließend
geregelten Sachverhalten Ausnahmegenehmigungen zu erteilen. Hingegen ist
nicht - wie vom RP Freiburg angeführt - § 46 Abs. 2 StVO einschlägig, da dieser
die Ausnahmegenehmigung von allen Vorschriften der StVO betrifft und hierzu die
zuständigen obersten Landesbehörden oder die nach Landesrecht bestimmten
Stellen ermächtigt. Da indessen beide Vorschriften Ausnahmen für bestimmte
Einzelfälle regeln und diese ins Ermessen der Behörde stellen - mithin
wesensgleich sind -, ist die Entscheidungsbegründung mit der unzutreffenden
Rechtsgrundlage unschädlich.
24
2.)
Die Voraussetzungen für eine Ausnahmegenehmigung sind von der Beklagten
ermessensfehlerfrei (§ 114 VwGO) verneint worden. Gemäß § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr.
5b StVO können die Straßenverkehrsbehörden in bestimmten Einzelfällen oder
allgemein für bestimmte Antragsteller Ausnahmen genehmigen (u.a.) von den
Vorschriften über das Tragen von Schutzhelmen. Die Erteilung der
Ausnahmegenehmigung steht im Ermessen der zuständigen Behörde. Das
Merkmal der Ausnahmesituation ist nicht als eigenständiges Tatbestandsmerkmal
verselbstständigt, sondern Bestandteil der der Behörde obliegenden
Ermessensentscheidung. Denn die Feststellung, ob ein besonderer Ausnahmefall
vorliegt, setzt den gewichtenden Vergleich der Umstände des konkreten Falles mit
dem typischen Regelfall voraus, der dem generellen Verbot zugrunde liegt (vgl. zu
§ 46 Abs. 2 StVO: BVerwG, Urt. v. 13.03.1997 – 3 C 2/97 –, Rn. 27, juris; vgl. zu §
46 Abs. 1 StVO: OVG NRW, Urt. v. 14.03.2000 – 8 A 5467/98 –, Rn. 12, juris;
andere Auffassung zu § 46 Abs. 1 StVO: VGH Bad.-Württ., Urt. v. 20.03.1991 – 5 S
1791/90 –, Rn. 8, juris [die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung ist nur beim
Vorliegen eines besonderen Ausnahmefalls zulässig]).
25
a.)
Die Beklagte hat ihr Ermessen erkannt. Insbesondere ist sie nicht - was sonst
ein Ausübungsdefizit dargestellt hätte - davon ausgegangen,
Ausnahmegenehmigungen könnten allein aus gesundheitlichen Gründen erteilt
werden, weil nur diese in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur StVO (
StVO> vom 26.01.2001 [BAnz. S. 1419, ber. S. 5206], zuletzt geändert durch Art. 1
ÄndVwV vom 11. 11. 2014 [BAnz AT 17.11.2014 B5]) genannt sind. Zwar klang
solches zunächst im Ausgangsbescheid (Seite 1, 2. Absatz) an, wenn dort
ausgeführt wurde, „[g]em. § 46 StVO werden Ausnahmegenehmigungen zur
Befreiung von der Pflicht zum Tragen eines Schutzhelms ausschließlich aus
gesundheitlichen Gründen erteilt, die Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVO enthält
auch keine anderen Tatbestände für die Erteilung einer Ausnahme“. Indessen hat
die Beklagte in der weiteren Begründung (zu deren Bedeutung für die
Ermessensentscheidung und folglich für deren gerichtliche Überprüfung vgl. § 39
Abs. 1 Satz 3 LVwVfG) auch die Frage eines unzulässigen Eingriffs in die freie
Religionsausübung erwogen und diese aus Verhältnismäßigkeitsgründen verneint.
Der (entsprechend § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) maßgebende Widerspruchsbescheid
hat diese Argumentation durch Verweisung auf den Ausgangsbescheid
übernommen. Schließlich hat die Beklagte in der Klagebegründung ausführlicher
und vertiefend dazu vorgetragen, warum sie aus überwiegenden öffentlichen
Interessen eine Verletzung von Art. 4 Abs. 1, Abs. 2 GG im Einzelfall verneint. Da
insoweit, wie dargelegt, bereits im Verwaltungsverfahren Ermessenserwägungen
angestellt worden waren, handelte es sich dabei um eine zulässige Ergänzung
dieser Erwägungen (§ 114 Satz 2 VwGO - vgl. dazu BVerwG, Beschl. v.
14.01.1999 – 6 B 133/98 –, Rn. 10, juris).
26
b.)
Die Beklagte hat schließlich bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen
des Ermessens eingehalten und von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der
Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht. Bei der Beurteilung der
Frage, ob ein Ausnahmefall vorliegt, kommt der Abwägung der mit § 21a Abs. 2
StVO verfolgten öffentlichen Interessen mit den privaten, insbesondere
grundrechtlich geschützten Belangen des Klägers maßgebliche Bedeutung zu. Die
Kammer kann nicht feststellen, dass hierbei die Interessen des Klägers und deren
Beeinträchtigung verkannt und das öffentliche Interesse unverhältnismäßig zu
Lasten des Klägers durchgesetzt worden wäre. Eine Verletzung seiner subjektiv-
öffentlichen Rechte liegt damit nicht vor.
27
Soweit die bußgeldbewehrte Schutzhelmpflicht einen Eingriff in die
allgemeine Handlungsfreiheit des Klägers aus Art. 2 Abs. 1 GG darstellt, ist dieser
verfassungsrechtlich gerechtfertigt (s.o. unter I.1.a)).
28
Auch aus der Religionsfreiheit ergibt sich keine Ermessensgrenze, die hier
unzulässig überschritten worden wäre:
29 Das Tragen eines Sikh-Turbans in der Öffentlichkeit ist vom Schutzbereich des Art.
4 Abs. 1 und Abs. 2 GG umfasst.
30 Art. 4 Abs. 1 und 2 GG enthalten ein umfassend zu verstehendes einheitliches
Grundrecht. Es erstreckt sich nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder
nicht zu glauben, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden
und deshalb den Regeln des Glaubens gemäß einem religiösen
Bedeckungsgebot zu genügen, wenn dies hinreichend plausibel begründet wird.
Bei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als Ausübung von Religion und
Weltanschauung zu betrachten ist, darf das Selbstverständnis der jeweils
betroffenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft und des einzelnen
Grundrechtsträgers nicht außer Betracht bleiben. Dies bedeutet nicht, dass
jegliches Verhalten einer Person allein nach deren subjektiver Bestimmung als
Ausdruck der Glaubensfreiheit angesehen werden muss. Die staatlichen Organe
dürfen prüfen und entscheiden, ob hinreichend substantiiert dargelegt ist, dass
sich das Verhalten tatsächlich nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung in
plausibler Weise dem Schutzbereich des Art. 4 GG zuordnen lässt, also tatsächlich
eine als religiös anzusehende Motivation hat. Dem Staat ist es indes verwehrt,
derartige Glaubensüberzeugungen seiner Bürger zu bewerten oder gar als „richtig“
oder „falsch“ zu bezeichnen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 27.01.2015 – 1 BvR 471/10, 1
BvR 1181/10 –, Rn. 83 und 86, juris [Tragen eines islamischen Kopftuchs]).
31 Auch wenn es, wie der Kläger selbst in der Klagebegründung anführt, in der Sikh-
Religion keine ausdrücklichen Gebots- oder Verbotsregeln gibt, so muss der
Turban (Punjabi: „Dastar“ bzw. „Dastaar“) gleichwohl als religiöses
Bekenntnissymbol der Sikhs angesehen werden. Der Dastar wird jeden Morgen
neu gebunden und verdeckt die aus religiösen Gründen ungeschnittenen Haare
der Sikhs (Wikipedia [https://de.wikipedia.org/wiki/Dastar]). In der Sikh-Tradition hat
der Turban deshalb zusammen mit den ungeschnittenen Haaren eine
herausgehobene und einzigartige Bedeutung. Getaufte Sikhs, die dem Khalsa
(„Gemeinschaft der innerlich Reinen“) angehören, leisten ausgehend von den
Idealen der ersten historischen Taufe unter dem 10. Meister Gobind Singh einen
Eid darauf, dass sie bis „zum Lebensende ihr Haar bewahren und es sorgsam mit
einem Turban schmücken“. Diese Kopfbedeckung komplettiert die Haltung, durch
die ungeschnittenen Haare den Respekt für den Schöpfer und seine Schöpfung
auszudrücken (Sikh-Forum [www.sikh-religion.de/html/haare-turban033.html]). Ein
Sikh, der eins mit seinem Guru sein will, muss wie dieser aussehen und einen
Dastar tragen. Der Dastar ist das Geschenk des Gurus an die Gläubigen
(Wikipedia [https://en.wikipedia.org/wiki/Dastar] - mit Zitaten aus sikhnet). Wenn der
Kläger eine religiöse Motivation für das Tragen seiner Kopfbedeckung geltend
macht, kann er sich hierfür nach geistigem Gehalt und äußerer Erscheinung an
sich auf hinreichend plausible Gründe berufen. Es kommt nicht darauf an, ob
dieser Inhalt der Bekleidungsvorschrift im Sikhismus völlig unumstritten ist, solange
diese Betrachtung - wovon hier auszugehen ist - verbreitet ist (BVerfG, Beschl. v.
27.01.2015, a.a.O., Rn. 89). Der Kläger versteht den Turban als äußeres
Anzeichen religiöser Identität und bekennt damit seine religiöse Überzeugung,
ohne dass es hierfür einer besonderen Kundgabeabsicht oder eines zusätzlichen
wirkungsverstärkenden Verhaltens bedarf (BVerfG, Beschl. v. 27.01.2015, a.a.O.,
Rn. 94). Auch die Beklagte hat das nicht grundsätzlich in Abrede gestellt.
Gleichwohl erscheint es aber zweifelhaft, ob diese plausiblen Gründe auch das
Motorradfahren erfassen. Denn die im Vordergrund stehende Bewahrung der
Haare durch Nichtschneiden und Bedecken lässt es nach den vom Kläger selbst
angeführten Glaubensregeln zu, den Turban situationsbedingt (z.B. beim Schlafen)
durch eine andere Bedeckung zu ersetzen. Ob zudem Respekt für Schöpfer und
Schöpfung noch mitschwingt, wo der schmückende Turban den schützenden
Motorradhelm verdrängen soll, erscheint der Kammer doch fraglich. Auch Würde
und äußere sowie innere Einheit mit dem Guru erscheinen dem Gericht durch
einen mit Turban Motorrad fahrenden Sikh nicht recht nachvollziehbar gewahrt, der
mit einem solchen Anblick in der Öffentlichkeit wohl eher Unverständnis oder gar
Spott auslösen würde. Letztlich kann dies jedoch dahinstehen, da eine
Grundrechtsverletzung jedenfalls aus den sogleich darzulegenden Gründen
ausscheidet.
32 Die Schutzhelmpflicht stellt keinen Eingriff in die religiöse Bekenntnisfreiheit dar.
33 Die Beachtung der Helmpflicht führt nämlich nicht dazu, dass der Kläger den Kern
des religiösen Gebots aufgeben müsste, das zuallererst und im Wesentlichen darin
besteht, die Haare nicht zu schneiden und den Kopf (deshalb) bedeckt zu halten.
Die Helmpflicht zwingt nämlich gerade nicht zur Entblößung des Hauptes in der
Öffentlichkeit. Eine eventuell erforderliche Bedeckung der Haare unter dem Helm
kann mit einem Tuch oder einer Mütze („Sturmhaube“) erfolgen. Ferner bleibt es
dem Kläger möglich, beim Benutzen eines Motorrads den Turban jeweils in
privaten Räumlichkeiten oder auch an anderen Orten, wo er nicht sein entblößtes
Haupt der Öffentlichkeit zeigen muss, gegen Tuch/Haube und Schutzhelm zu
tauschen (so auch Schweizerisches Bundesgericht Lausanne, Urt. v. 27.05.1993 –
6 S 699/1992 –, EuGRZ 1993, 595). Eine damit allenfalls bestehende
Unbequemlichkeit und Lästigkeit hat der Kläger hinzunehmen.
34 Selbst ein (allenfalls faktischer - s.o. unter I.1.b.) Eingriff in die Religionsfreiheit des
Klägers wäre schließlich verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
35 Ein Eingriff wäre nicht schwerwiegend. Das Motorradfahren betrifft, auch
jahreszeitlich bedingt, nur einen kleinen Teil des täglichen Lebens des Klägers.
Der Kläger ist ferner auf ein Motorrad als Fortbewegungsmittel nicht angewiesen
und kann sämtliche anderen Fortbewegungsmittel unter Wahrung seines
religiösen Bekenntnisses verwenden. Auch sein Vortrag, er sei bereits seit dem
Jahr 2005 Anhänger der Sikh-Religion, während er jedoch die
Ausnahmegenehmigung erst im Sommer 2013 begehrte, spricht nicht für einen
besonderen Bedarf. Die dem Kläger auferlegte Erschwernis bezöge sich mithin
lediglich auf eine einzige Form der motorisierten Fortbewegung im Straßenverkehr,
auf die er zudem nicht erkennbar angewiesen ist. Eine wirkliche Belastung des
Klägers kann nicht ausgemacht werden. Dies wiederum bedeutete, dass der
Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG nur an seinem äußersten Rand
berührt würde. Damit aber wäre die Einhaltung der Helmpflicht für den Kläger
zumutbar, da öffentliche Belange seinem Anliegen entgegenstehen, die so
gewichtig sind, dass sie das nur gering in einem Randbereich betroffene Rechtsgut
der Religionsfreiheit überwiegen.
36 Art. 4 Abs. 1 und 2 GG garantiert die Religionsfreiheit zwar vorbehaltlos, aber nicht
schrankenlos. Nach dem Grundsatz der Einheit der Verfassung können auch den
Freiheiten des Art. 4 GG durch andere Bestimmungen des Grundgesetzes
Grenzen gezogen werden. Solche Grenzen können sich vor allem aus
kollidierenden Grundrechten anderer Grundrechtsträger, aber auch aus anderen
mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtsgütern ergeben. Dabei ist der Konflikt
mit den anderen verfassungsrechtlich geschützten Gütern nach dem Grundsatz
praktischer Konkordanz zu lösen, der fordert, dass nicht eine der widerstreitenden
Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet wird, sondern alle einen
möglichst schonenden Ausgleich erfahren (BVerfG, Beschl. v. 02.10.2003 – 1 BvR
536/03 –, Rn. 15, juris; Beschl. v. 16.05.1995 – 1 BvR 1087/91 –, Rn. 51, juris). Die
schwächere Norm darf nur so weit zurückgedrängt werden, wie das logisch und
systematisch zwingend erscheint; ihr sachlicher Grundwertgehalt muss in jedem
Fall respektiert werden (BVerfG, Beschl. v. 26.05.1970 – 1 BvR 83/69 u.a. -, Rn.
58, juris).
37 Ausgehend von der Entscheidung des BVerfG vom 26.01.1982 (1 BvR 1295/80 -,
a.a.O. - s.o. unter I.1.a.) bezweckt die Schutzhelmtragepflicht sowohl,
Kopfverletzungen beim Fahrer/Mitfahrer zu vermeiden oder jedenfalls deren
Schwere zu vermindern (Eigenschutz - in diesem Sinne auch BGH, Urt. v.
25.01.1983 – VI ZR 92/81 –, Rn. 14, juris), als auch die Entlastung der
Allgemeinheit von schweren Belastungen, die aus Unfällen mit schweren
Kopfverletzungen folgen können, z.B. durch Einsatz der Rettungsdienste, ärztliche
Versorgung, Rehabilitationsmaßnahmen, Versorgung von Invaliden (in diesem
Sinne auch VG Augsburg, Urt. v. 27.06.2000 – Au 3 K 00.466 –, juris). Ein damit
eng verknüpftes öffentliches Interesse besteht ferner darin, dass in vielen Fällen
nach einem Verkehrsunfall weiterer Schaden für Dritte dadurch abgewendet
werden kann, dass ein beteiligter Motorradfahrer dank seines Schutzhelms bei
Bewusstsein bleiben und die Unfallstelle räumen, Rettungsdienste alarmieren und
sofort Maßnahmen ergreifen kann (VG Berlin, Urt. v. 16.04.2013 – 11 K 298.12 –,
Rn. 13, juris). Schließlich ist zu bedenken, dass im Falle eines Verkehrsunfalls mit
einem Motorradfahrer, der erlaubterweise keinen Schutzhelm trägt, die
Verletzungsfolgen aufgrund des fehlenden Schutzhelmes unter Umständen vom
Unfallgegner zu tragen sind. Sofern bei der Prüfung einer Ausnahmegenehmigung
von der Helmpflicht allein auf gesundheitliche Belange des betreffenden
Motorradfahrers abgestellt würde, würde dies daher finanzielle Interessen anderer
Verkehrsteilnehmer und ihrer Versicherer kaum zumutbar beeinträchtigen (VG
Berlin, a.a.O.; in diesem Sinne auch kritisch bei einer Ausnahme von der
Gurtpflicht: OVG Lüneburg, Beschl. v. 26.02.2015 – 12 LA 137/14 –, Rn. 7, juris).
38 Die über den Eigenschutz des Motorradfahrers hinausgehenden Zwecke,
umfangreiche materielle Folgen von Motorradunfällen für die Allgemeinheit zu
verhindern bzw. zumindest zu begrenzen, sind durch verfassungsimmanente
Schranken gedeckt. Dies ergibt sich unter dem Gesichtspunkt der
Sozialversicherung, die vom Gesetzgebungskompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr.
12 GG abgedeckt ist. Aus Kompetenznormen sind aufgrund der darin
ausgedrückten grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Anerkennung und Billigkeit
des geregelten Gegenstands verfassungsimmanente Schranken zu entnehmen
(vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.12.1979 – 1 BvR 385/77 –, Rn. 51, juris [Art. 74 Nr. 11a
GG: Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken] sowie insbesondere Urt. v.
20.12.1960 – 1 BvL 21/60 –, Rn. 17, juris und Urt. v. 24.04.1985 – 2 BvF 2/83 u.a. -
, Rn. 43, juris [Art. 12 a, 73 Nr. 1, 87 a und 115 b GG: Wehrverfassung und
Kriegsdienstverweigerung]; gegen ein Ausreichen lediglich von Kompetenztiteln
hingegen: Bellardita/Neureither, Jus 2005, 1000 [1003]; Frenz, Jus 2009, 493
[495]). Entsprechendes folgt ferner aus Art. 20 Abs. 1 GG unter dem Gesichtspunkt
des Sozialstaatsprinzips (hier zustimmend Bellardita/Neureither, a.a.O.). Unter
beide Verfassungsgüter lässt sich der mit der Helmpflicht über die Eigensicherung
hinaus verfolgte Schutzzweck einordnen und ist damit fähig, zu einer
Einschränkung der Religionsfreiheit zu führen.
39 Erachtet man das Grundrecht der freien Religionsausübung gemäß Art. 140 GG
i.V.m. Art. 136 WRV unter den Vorbehalt der allgemeinen Gesetze gestellt (so
BVerwG, Urt. v. 23.11.2000 - 3 C 40/99 -, Rn. 20 ff., juris; Stern/Becker,
Grundrechte-Kommentar, 2. Aufl. 2016, Art. 4, Rn. 211/212), so ergibt sich eine
Einschränkbarkeit bereits direkt aus § 21a Abs. 2 StVO.
40 Im Einzelfall wäre diese Einschränkung für den Kläger schließlich auch zumutbar.
Der Grundsatz der praktischen Konkordanz (der hier an die Stelle der üblichen
Verhältnismäßigkeitsprüfung tritt - vgl. Voßkuhle, JuS 2007, 429 [430/431]) wurde
vorliegend nicht verletzt, indem dem Kläger eine Ausnahme verweigert wurde. Wie
oben dargelegt, würde sich - sofern überhaupt ein Eingriff vorliegt - ein solcher
Eingriff am äußersten Rand des Schutzbereichs des Grundrechts bewegen. Im
Übrigen bliebe hingegen die Religionsfreiheit des Klägers unbeeinträchtigt. Auch
bleibt die Teilnahme am Straßenverkehr mit einem Turban völlig uneingeschränkt
beim Fahren mit PKW und LKW sowie öffentlichen Verkehrsmitteln möglich.
Anhaltspunkte dafür, der Kläger sei besonders – etwa aus beruflichen oder
sonstigen individuellen Gründen – auf ein Motorrad angewiesen, liegen nicht vor.
Von einer unzulässigen, weil einseitigen Zurückdrängung der Religionsfreiheit zu
Gunsten des öffentlichen Interesses kann somit nicht die Rede sein (a.A.
Bellardita/Neureither, a.a.O.).
41 Eine den Kläger geringer belastende Regelung gibt es nicht. Eine
Ausnahmegenehmigung unter Auflagen, die etwa von Fahrleistung und
Fahrstrecke sowie benutzter Maschine abhängig gemacht wird, erachtet die
Kammer für offensichtlich ungeeignet. Es gibt überhaupt keinen Anhaltspunkt
dafür, dass eine geringe Laufleistung auf einer nicht besonders unfallträchtigen
Strecke mit einer leichten Maschine (in diesem Sinne aber etwa VG Augsburg, Urt.
v. 27.06.2000, a.a.O.) einen derart geringeren Gefährdungsgrad hätte, dass die
oben genannten schwerwiegenden Folgen hinreichend sicher vermieden bzw.
zumindest abgemildert werden könnten. Unabhängig davon wäre eine solche
Auflage in der Praxis wohl auch nicht einzuhalten bzw. zu überwachen.
42
Die Versagung der Ausnahmegenehmigung verstößt auch nicht gegen das
allgemeine Gleichheitsrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG. Soweit in L. und H. Angehörige
der Sikh-Religion durch Entscheidungen der dortigen Behörden von der
Helmpflicht ausgenommen worden sind, betrifft dies die
Entscheidungszuständigkeitsbereiche anderer Rechtsträger als der Beklagten. Ein
Anspruch auf Gleichbehandlung steht dem Einzelnen indessen nur gegenüber
dem nach der Kompetenzverteilung konkret zuständigen Träger öffentlicher
Gewalt zu (BVerfG, Beschl. v. 12.05.1987 – 2 BvR 1226/83 u.a. –, Rn. 151, juris).
Ferner ist nicht ersichtlich, dass es sich hierbei um vergleichbare Fälle handelte.
Selbst wenn dies anders sein sollte, so wären die Ausnahmegenehmigungen für
die jeweiligen Antragsteller nach Auffassung der Kammer rechtswidrig gewesen,
so dass sich Kläger hierauf nicht berufen könnte.
43
Aus Europarecht schließlich ergibt sich auch nichts anderes.
44 Einen Anspruch auf Gleichbehandlung innerhalb der EU bzw. des Europarates -
speziell etwa unter Berufung auf die Rechtslage in Großbritannien, wo die Sikhs
von der Helmpflicht befreit sind, gibt es nicht. Für einen Verstoß gegen das
Diskriminierungsverbot aus Art. 14 EMRK ist nichts ersichtlich. Die Religionsfreiheit
aus Art. 9 EMRK geht zugunsten des Klägers ebenfalls nicht weiter als das
Grundrecht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Die EMRK und ihre Zusatzprotokolle
stehen in der deutschen Rechtsordnung im Range eines förmlichen
Bundesgesetzes. Der Konventionstext und die Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte dienen auf der Ebene des Verfassungsrechts als
Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten
und rechtsstaatlichen Garantien des GG, sofern dies nicht zu einer - von der
Konvention selbst nicht gewollten - Einschränkung oder Minderung des
Grundrechtsschutzes nach dem GG führt (BVerfG, Beschl. v. 14.10.2004 – 2 BvR
1481/04 –, Rn. 30-32, juris). Bereits mit Entscheidung vom 12.07.1978 (Nr.
7992/77 - X. vs. United Kingdom) stellte der damalige (vor Einrichtung des EGMR
entscheidungszuständige) Menschenrechtsausschuss vor Einführung der
generellen Helmbefreiung für Sikhs in Großbritannien fest, dass die bis dahin
geltende Schutzhelmpflicht im überwiegenden öffentlichen Interesse gemäß Art. 9
Abs. 2 EMRK gerechtfertigt sei. Mit Entscheidung vom 13.11.2008 (Nr. 24479/07 -
juris) stellte der EGMR ferner fest, dass die Verpflichtung, wonach sich ein
praktizierender Sikh auf dem Foto für einen Ersatzführerschein ohne Turban
abbilden lassen müsse, für Behörden gerade bei Verkehrskontrollen notwendig
sei, um den Fahrer zu identifizieren und seine Fahrerlaubnis zu überprüfen.
Derartige Kontrollen aber seien notwendig für die öffentliche Sicherheit im Sinne
des Art. 9 Abs. 2 EMRK. In der Entscheidung vom 01.07.2014 (Nr. 43835/11) -
S.A.S. gegen Frankreich) stellte der EGMR schließlich fest, dass das Verbot der
Vollverschleierung in der Öffentlichkeit („Burka-Verbot“) aus Gründen des
Zusammenlebens sowie des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer in einer
demokratischen Gesellschaft notwendig sei. Er ließ insoweit als Rechtfertigung für
diesen erheblichen Eingriff in die Religionsfreiheit der davon im gesamten Alltag
überall in der Öffentlichkeit betroffenen Trägerin dieses Kleidungsstücks
ausreichen, dass ein öffentliches Interesse an offener Kommunikation bestehe,
dem eine Verhüllung des Gesichts als Kommunikationshindernis entgegenstehe.
45 Das in Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh)
verankerte Recht auf Religionsfreiheit entspricht dem in Art. 9 EMRK garantierten
Recht (EuGH, Urt. v. 05.09.2012 – C-71/11, C-99/11 –, Rn. 56, juris). Ungeachtet
dessen gelangt die GrCh hier mangels Durchführung des Rechts der Union i.S.v.
Art. 51 Abs. 1 GRCh nicht zur Anwendung (vgl. dazu etwa EuGH, Urt. v.
26.02.2013, C-617/10 [Akerberg Fransson] -, Rn. 19 ff., juris). § 21a StVO ist keine
unionsrechtliche angereicherte Vorschrift (vgl. dazu näher
Burmann/Heß/Jahnke/Janker, a.a.O., Vorbemerkungen – StVO Rn. 2).
III.
46 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; Anlass, sie für vorläufig
vollstreckbar zu erklären, besteht nicht (§167 Abs. 2 VwGO).
47 Die Kammer lässt die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß §§ 124a
Abs. 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zu.